«Wiedervereinigung» nach 20 Jahren
Der Beobachter-Bericht über die Flucht von DDR-Bürgern über Ungarn 1989 hat zu einer bewegenden Wiederbegegnung geführt: 20 Jahre danach trafen sich der Schweizer Fluchthelfer Reto Kaufmann und der Anführer der Massenflucht, Wolf Liebisch, erstmals wieder.
Veröffentlicht am 15. Januar 2010 - 09:30 Uhr
Einen Moment lang haben sich ihre Biographien gekreuzt, im August 1989 im Flüchtlingslager Zugliget in Budapest. Der Schweizer Reto Kaufmann, damals 31, war Fluchthelfer in Ungarn, als Tausende DDR-Bürger eine Lücke im Eisernen Vorhang suchten. Er hatte monatelang darauf hingearbeitet, fünf befreundeten Ostdeutschen die Flucht zu ermöglichen, und war beteiligt an der Vorbereitung der Massenflucht. Der Dresdner Wolf Liebisch, damals 41, wurde zum Anführer jener 270 Flüchtlinge, die am 22. August bei Klingenbach den ungarischen Posten überrumpelten.
Für beide ist jener Sommer bis heute wichtig – weil der Ausbruch das Ende der DDR beschleunigte und auch als persönliche Grenzerfahrung. Kaufmann erzählte seine Geschichte zum 20-Jahr-Jubiläum im Beobachter (siehe Artikel zum Thema «Reto Kaufmann: ‹Ich musste einfach helfen›») und hoffte, Beteiligte wiederzufinden, besonders den Anführer des Autokonvois, den er nur unter dem Decknamen «Hubert» in Erinnerung hatte. Liebisch alias «Hubert» las die Schilderung und wollte die eigene Geschichte erzählen, damit auch seine Rolle gewürdigt wird.
So kommt es zum Treffen in Zürich. Liebisch, 61, und Kaufmann, 51, begrüssen sich in der Hotelhalle. Etwas reserviert, denn sie hatten sich in den chaotischen Tagen im Lager nur wenige Stunden gesehen. «Auf einem alten Foto erkannte ich dein Gesicht, aber ich bringe keine Situation mehr damit zusammen», sagt Liebisch. Kaufmann weiss noch, wie er damals sofort Vertrauen fasste in den Mann, der Autorität ausstrahlte. «Ich erkenne dich, auch wenn wir nicht jünger geworden sind.»
Wie wurde Liebisch zu einer Schlüsselfigur? «Wir hatten in der DDR ein eigenes Geschäft und waren deshalb Aussenseiter», sagt er. Finanziell sei es gut gegangen, aber die Schikanen und die Lügerei des Regimes seien nicht auszuhalten gewesen. Er, seine Frau Ines und die drei Söhne beantragten die Ausreise – vergeblich. «Als alle fünf ein Urlaubsvisum für Ungarn erhielten, reifte der Entschluss abzuhauen», erzählt er. Am Neusiedler See spähten sie mehrmals die Grenze aus, wurden verhaftet, auch die Jungen wurden verhört und geschlagen.
Dann erfuhren sie, dass bei Sopron das «Paneuropäische Picknick» stattfinde, ein symbolisches Treffen österreichischer und ungarischer Politiker am Grenzzaun. Fast 670 DDR-Bürger nutzten dies zur Flucht. Der 20-jährige Karsten und der 18-jährige Torsten Liebisch schafften es jedoch nicht, wurden beschossen, verhört, übernachteten im Wald und erreichten dann das Flüchtlingslager Zugliget, wo die Eltern und der 17-jährige Hagen warteten.
Dort tauschten die Leute Erfahrungen aus, erwogen Routen und Varianten. Einer wollte einen Zug an der Grenze stoppen. «Ich sagte: ‹Das geht nie. Ohne mich!›», erzählt Liebisch. «Da hiess es: ‹Wenn du was Besseres weisst, dann machs doch du.›» Er sei quasi dazu verdonnert worden, sich etwas zu überlegen. «‹Na gut›, sagte ich. ‹Aber ihr müsst mir bedingungslos folgen.›»
Wie genau der Plan zusammenkam, lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Er habe sich alles in zwei schlaflosen Nächten zurechtgelegt, sagt Liebisch. «Nach dem Picknick war klar, dass nur eine Massenflucht gelingen kann.» Und dass es Täuschungen braucht. Eine Gruppe startete anderntags per Zug und wurde prompt abgefangen.
Kaufmann, der schon neun Tage im Lager war und viele Leute kannte, diskutierte mit zehn Vertrauten Verbesserungen. Laut ihm verfestigte sich der Plan am 21. August: Die Autos sollen einzeln starten, sich vor Sopron treffen und dann Liebisch geschlossen zur Grenze folgen. Dies gab man den Gruppen weiter, mit einem falschen Übergangspunkt, um Spitzel zu täuschen. «Was ich vorhatte, sagte ich keinem», betont Liebisch. «Nicht einmal Ines wusste, welchen Weg ich am Ende nehmen würde.» Um Fahrzeugbelegung, Einteilung, Anfahrtswege kümmerten sich andere. «Eine Liste wurde aufgehängt; 270 schickten wir letztlich los», sagt Kaufmann, der über Nacht noch ein Filmteam aufbot, das die Flucht dokumentieren und so Schutz bieten sollte.
Am Mittag brachen die Flüchtlinge auf. «Am Treffpunkt schärfte ich allen ein, Tempo zu machen, Rotlichter zu überfahren und keinen in die Kolonne zu lassen», erzählt Liebisch. «Und ich sagte, wir nähmen die Landstrasse, wo das Picknick war.» So jagten etwa 100 Autos hinter Liebisch her durch Sopron. Er bog jedoch nicht in die Landstrasse ab, sondern preschte direkt auf den Grenzposten Klingenbach zu. «Dort redete ich auf die Grenzer ein, die Leute rannten im Pulk übers Feld», erzählt er. «Ich ging als Letzter, um sicher zu sein, dass niemand zurückblieb.» Er habe noch eine Frau mit Kind den Hügel hinaufgeschleppt, als schon ungarische Grenzer heraneilten.
Kaufmann, der ein Visum hatte, war ein Stück mitgefahren und wartete auf die Erfolgsmeldung. «Dann kehrte ich ins Lager zurück, packte mein Wohnmobil mit Flüchtlingsgepäck voll und fuhr rüber, um die Leute in Empfang zu nehmen.» Die meisten waren aber schon weitergereist, so verlor sich auch der Kontakt zu «Hubert».
Warum übernahm Liebisch Verantwortung für 270 Menschen? «Es gab im Lager Leute, die waren völlig am Ende. Ich empfand es als meine Pflicht zu helfen.» Er verlor durch die Flucht alles, der Neustart war schwierig, und eine Krankheit zwang ihn in die Frühpension. «Mir selbst brachte es nicht allzu viel. Und von Freunden wurden wir sehr enttäuscht.» Deshalb ist ihm die Erinnerung wichtig. «Ohne mich wäre diese Flucht nicht gelungen. Das bleibt.» Bei Kaufmann haben sich Freundschaften zu fast allen seiner Flüchtlinge erhalten, dies sei seine Anerkennung, sagt er.
Wolf und Ines Liebisch sprechen noch lange mit Reto Kaufmann über die Ereignisse vor 20 Jahren. Dann trennen sie sich herzlich. Ihre Biographien bleiben durch unsichtbare Fäden verknüpft.