Es ist die Tageszeit der ungelesenen Zeitungen, der frischen Gipfeli und des Kaffees, dessen Wärme durch die Kartonwände des Bechers drückt. Auf dem Perron 8 im Bahnhof Bern springt der Uhrzeiger von 7.25 auf 7.26 Uhr. Der IC 711 nach «Zürich- Hauptbahnhof- Zürich- Flughafen- Winterthur- St.-Gallen- ohne-Halt-bis- Zürich-Hauptbahnhof» fährt ein. Verschlafene Gesichter blicken auf, Hände ergreifen abgestellte Taschen, Füsse setzen sich in Bewegung, Menschen verschwinden im Zug. Drinnen werden «20 minutes» und «La Liberté» weggeräumt, die noch in den Abteilen liegen, «Bund» und «Berner Zeitung» werden aus Taschen und Rucksäcken geholt, Computer gestartet und Kopfhörer eingestöpselt. Es ist Montagmorgen in Bern, der Zeiger springt auf 7.30 Uhr. Die Frau, die eben noch an der offenen Zugtür geraucht hat, schnippt ihre Zigarette aufs Perron, die Tür schliesst sich. Der Zug fährt an - und wir laufen los.

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Am Mittwochabend wollen wir - der Fotograf Tomas Wüthrich und ich - in Zürich sein, wenn immer möglich zu Fuss, immer mehr oder weniger den Gleisen entlang. Drei Tage gehen statt 58 Minuten Bahn fahren. Drei Tage lang erkunden, wo die 60'000 Menschen, die täglich per Zug zwischen Bern und Zürich unterwegs sind, eigentlich durchfahren. Drei Tage dort genauer hinschauen, wo sonst bestenfalls ein flüchtiges Bild auf der Netzhaut bleibt. Und nicht zuletzt: drei Tage hören, spüren, riechen, wie es sich so anfühlt, mitten im Mittelland.

Knappe drei Stunden später, auf einer Brücke im Grauholz, zweifeln wir ein erstes Mal leise an unserem Vorhaben. Der Rucksack drückt auf die Schultern, die Trinkflasche ist viel zu schnell leer und unter unseren Füssen dröhnt die Autobahn. «Zürich 116 km», steht auf einer grünen Tafel. Tapfer reden wir uns ein, dass dies bloss die Distanz auf der Autobahn und somit für uns nicht von Belang ist.

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Das vertraute Territorium liegt nach den drei ersten Stunden hinter uns. Durch ein herbstlich-frühmorgendliches Bern sind wir in der Lorraine an die Aare hinuntergestiegen, vorbei an gebrauchten Spritzen und Desinfektionstupfern. Bis Worblaufen sind wir dann dem Fluss gefolgt, haben geredet, getrödelt. Wir sind Männern mit Hunden und Frauen mit Walkingstöcken begegnet. Und wir sind mitten im Wald irgendwo hinter Zollikofen auf ein Schild gestossen: «Hotel Grauholz». Als ob hier öfters Leute vorbeikämen, die mitten im Wald eine Unterkunft suchen. Etwa so muss der Wegweiser zu Hänsel und Gretels Knusperhäuschen ausgesehen haben.

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Beton statt Naturillusion
Halb eins. Im «Sternen» in Hindelbank sitzen Männer in Überkleidern und essen Schnitzel und Pommes frites. Bei der Wirtin mag keine rechte Freude aufkommen, dass wir statt in der verrauchten Gaststube draussen essen wollen. «Drinnen ist mir lieber», sagt sie, und, als wir mit Verweis auf das schöne Herbstwetter sanft insistieren: «So göht itz use u häbet nech still!» Zehn Minuten später stellt sie zwei Teller mit dem Menü 1 auf den Gartentisch: Ragout mit Kartoffelgratin.

Um halb drei sind wir immer noch nicht viel weiter. Wir stehen vor dem weltweit wohl einzigen Käselager mit eigenem Bahntunnel, bei Emmi in Kirchberg. Für den Tunnel gingen die früheren Besitzer des Käselagers bis ans Bundesgericht nach Lausanne: Vorbeifahrende Züge gefährdeten die Hygiene im Käselager, argumentierten sie. Nun rauschen die Züge durch eine rund 300 Meter lange Betonröhre am Lager vorbei. Ein Trompe-l’oeil an deren Aussenwand zeigt, welche Aussicht dem Betrachter angeblich entgeht: die Hügellandschaft des Emmentals, mit Wäldern und Wiesen. Die Realität hinter dem Tunnel sieht weniger idyllisch aus: Autobahn, Ikea, Coop, Erotikmarkt. Hinter dem Käselager ist der Tunnel nicht mehr bemalt. Nackter Beton statt vorgegaukelte Natur.

Diese bekommen wir kurz darauf ganz real zu spüren. Ein vermeintlicher Steg über die Emme entpuppt sich als simple Schwelle, der nächste Übergang würde mindestens zwei Kilometer Umweg bedeuten. Wir beraten kurz und entschliessen uns für die direkte Variante. Hosen im Rucksack und Schuhe in der Hand, waten wir durch den kühlen Fluss. In der Sonne gleich neben der Autobahnbrücke lassen wir dann die erfrischten Beine trocknen.

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Ein paar Tage später wird mir mein Schwiegervater erzählen, dass er genau an dieser Stelle zwei Stunden lang mit Kaffee und Gipfeli auf uns gewartet hat. Allerdings am Vormittag, weil wir nach seinen Berechnungen spätestens um 10 Uhr hätten dort sein sollen.

Im Rauschen der Autobahn
Die Sonne steht schon schräg, als wir bei Koppigen aus dem Wald treten. Im Süden ist der Kirchturm von Kirchberg im Dunst zu erkennen. Der Intercity braucht von Bern bis hier knappe zwölf Minuten. Wir hingegen sind geschätzte acht Stunden gelaufen. Und uns bleiben bloss noch zwei Tage, um nach Zürich zu gelangen. 

Der Entscheid abzukürzen fällt uns leicht. Wir fahren mit dem Postauto nach Wynigen und mit dem Zug weiter nach Langenthal. Dort ist im «Bären» noch ein letztes Zimmer frei, Kategorie «Superior». Irgendwie sind wir der Meinung, dass wir das verdient haben.

Am nächsten Morgen stehen wir kurz hinter der Station Roggwil-Wynau erst einmal im Nebel. Das heisst: Ich stehe im Nebel. Ich habe Notizen gemacht und Tom ist vorausgelaufen. Die graue Wand ist so dicht, dass man keine zehn Meter sieht. Irgendwo in der Nähe fährt ein Traktor, man hört Stimmen. «Tom?» Keine Antwort. Schliesslich finden wir uns dank dem Handy. Er hat kaum hundert Meter weiter vorne auf mich gewartet.

Grau ist auch Murgenthal: lange, gerade Strasse und hohe, unförmige Betonklötze. Im Kino Rex läuft «Ratatouille», die Metzgerei J. Niederberger sieht aus, als ob sie schon lange geschlossen wäre. In der «Sternen Bar» gibts Table-Dance, Eintritt ab 20 Jahren, beim «Pizza Pub» verheisst ein Schild: «Jetzt weht ein neuer Wind.»

Wir ziehen trotzdem weiter, begleitet vom ständigen Surren der Autobahn, dessen Echo vom Jurasüdfuss über die ganze Landschaft bis weit in die Hügel verbreitet wird. Bei Rothrist, beim «Natur- und Erholungsraum Aare», ist das Rauschen ein Dröhnen. Die Autobahn verläuft kaum 50 Meter neben dem renaturierten Fluss. Bei einem Stauwehr sind Motorboote vertäut, die Feuerstelle gleich daneben ist sauber aufgeräumt. Auf der andern Seite der Aare, auf einem kleinen Sandstrand direkt an der Autobahn, stehen zwei Liegestühle. Auf einer Tafel wird einem «ein schöner Spaziergang und gute Erholung» gewünscht.

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Es ist kurz nach Mittag, als wir die Oltnerstrasse am Ortsausgang von Aarburg erreichen. Es ist eine dieser Strassen, deren Bild in keinem Tourismusprospekt zu finden ist: eine dieser seelenlosen Durchgangsstrassen, wo man höchstens anhält, wenn man etwas zu erledigen hat. Etwa, wenn man im Laden mit den türkischen Fussball-Utensilien einen «Süper Besiktas»-Schal kaufen will. Wenn man sich für einen der von Regen und Staub gezeichneten Luxuswagen in der Garage nebenan interessiert. Wenn man in der Grünen Moschee beten will. Oder wenn man, nur ein paar hundert Meter weiter, bei den «Swiss Girls» («Junge Schweizerinnen, offen ab 18.00 Uhr») einkehrt.

Und doch, man kann auch wohnen an der Oltnerstrasse in Aarburg. Die neue Überbauung nennt sich «Wohnpark Im Feld», und falls man ein paar Quadratmeter Rasen und akkurat zu Kegelformen gestutzte Buchsbäume als Park gelten lässt, so stimmt wenigstens ein Teil des Namens. Von einem Feld hingegen ist weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen stösst ein Mann einen Rasenmäher mit laufendem Motor über den Asphalt.

Kampf-Tangas und andere Trouvaillen
Der nächste «Wohnpark» steht zwei Stunden entfernt in Dulliken. Der «Wohnpark Hugi» existiert allerdings erst in den Köpfen der Investoren. Real ist bloss der riesige grüne Industriebau der ehemaligen Schuhfabrik Hug & Co. Die Fabrik, in der zu ihren Blütezeiten in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts bis zu 800 Angestellte arbeiteten, gehöre «zu den bedeutendsten Vertretern der Industriearchitektur im Kanton Solothurn», schreibt die Denkmalpflege in einer Schrift über die «Hugi». Heute können nicht einmal mehr die riesigen Transparente der Immobilienfirma («40 Traumlofts zu kaufen», «150 m2 Fr. 1'125.- pro Monat») den Zerfall des imposanten Gebäudes kaschieren. 

Im «Armee Liq. Shop» nebenan kaufen wir Militärschokolade. Keine zehn Meter davor führt die Bahnlinie vorbei. Das Tor zu den Gleisen hin ist offen, aber keiner schaut auf, wenn ein Zug vorbeifährt. Wer hierhin kommt, interessiert sich für Schlafsäcke, Klappspaten oder Kochkisten. Für Kinder gibts Gilets in Tarnfarben, für die Dame den entsprechenden String-Tanga.

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Durch ein Wohnquartier, in dem Zwerge in den Gärten stehen und Schilder vor dem Zutritt warnen («Dieses Haus wird bewacht durch zwei vierbeinige, scharfzahnige Alarmanlagen. Die Strecke zwischen Haustüre und Gartentor rennen wir locker in drei Sekunden! Und wie lange brauchst du?») gelangen wir wieder an die Aare. Über dem Kühlturm des Kernkraftwerks Gösgen zerbläst der Wind die Dampffahne zu bizarren Gebilden. Hochspannungsleitungen durchziehen die Landschaft, ihr Sirren liegt in der Luft.

Mittwochmorgen kurz nach acht Uhr. Mangels freier Hotelbetten in Aarau haben wir in Obererlinsbach übernachtet. Nun warten wir auf den Bus, der uns nach Aarau zurückbringen soll. An der Haltestelle hängt eine «Relax-Karte Olten/Gösgen» mit eingezeichneten Feuerstellen und Sehenswürdigkeiten. Ein Witzbold hat darauf mit Filzstift markiert, wo sich Sexklubs befinden. Deren Standorte scheinen Allgemeinwissen zu sein. Als wir die Karte betrachten, tritt ein Mann auf uns zu, deutet auf das Gekritzel und sagt: «Stimmt, es gibt Sexklubs da und da, ehrlich Mann.» Wir lehnen das Angebot für eine genauere Wegbeschreibung dankend ab.

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Aus den Wäldern zwischen Aarau und Rupperswil ist nichts Besonderes zu vermelden: Spaziergängerinnen mit Hunden («Von Bern nach Zürich laufen Sie? Wir sind einmal von hier ins Tessin gewandert, in neun Tagen!»), Holzbeigen, ab und zu ein Plastiksack oder eine Zigarettenpackung im Unterholz, Nebel in den Wipfeln. Hinter einem Baumstrunk entdecken wir einen einzelnen Turnschuh Marke Adidas. Er ist vollständig mit Moos überwachsen - mitten im Wald eine Hommage an Meret Oppenheims berühmte Felltasse.

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Auf dem Weg entlang der Bahnlinie nach Lenzburg überholt uns ein rotblauweisser doppelstöckiger Zug mit der Aufschrift «Ich bin auch ein Schiff». Wir realisieren, dass wir Zürich - endlich - näher kommen. Zu langsam allerdings. Wenn wir in dem Tempo weitergehen, wird es Nacht, bis wir am Ziel sind. In Lenzburg steigen wir in die nächste S-Bahn und fahren quer übers Freiamt und Reusstal, durch den Heitersberg bis Spreitenbach: 13 Minuten mit der S3 ersparen uns geschätzte vier bis fünf Stunden Fussmarsch. Unsere Knie danken es uns.

Zuspruch von oben
Wir spötteln, als wir an der Station Killwangen-Spreitenbach Wanderwegschilder entdecken. Wer bitte will schon durch Spreitenbach wandern? Hier geht man einkaufen, oder besser: shoppen. Und das ganz sicher nicht zu Fuss. 


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Unsere Vorurteile werden erst einmal bestätigt. Oberhalb der Shoppingmeile führen uns die gelben Wegweiser durch ein Wohngebiet mit anonymen Mehrfamilienhäusern. In einem Schaufenster liegen religiöse Schriften auf, ein Schild sagt: «Jesus liebt dich - Sie sind herzlich willkommen». Im Innern sieht man ein paar Stühle, eine Art Rednerpult mit Ventilator, an den Wänden hängen Fotos. Ein Auto hält an, und eine Frau steigt aus. Zwei oder drei Leute seien jeweils am Sonntag zum Gottesdienst hier, selten einmal mehr. Schade sei das, denn der Prediger sei gut, er tue das Richtige zur richtigen Zeit, «aber leider nicht am richtigen Ort: Oder möchten Sie hier zum Gottesdienst gehen?»

Wir verabschieden uns, wir müssen weiter, und Zürich ist noch mindestens zwei Stunden entfernt. Unversehens umgeben uns Riegelhäuser und eine massive Kirche. Ein Bach fliesst durchs Dorf, es gibt kleine Läden statt Supermärkte. Spreitenbach, ein Bauerndorf? Offenbar.

Aber sicher gebe es noch Bauern hier, bestätigt Karl Weber. Er steht auf dem Feld auf einer Leiter und pflückt Äpfel, Stäfner Rosen. Sie schmecken wunderbar säuerlich und gar nicht nach Agglo.

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Vom Hügel nebenan sieht man auf Dietikon, den Rangierbahnhof Limmattal, auf Industriegebiet und Kehrichtverbrennungsanlage. Hier oben wachsen Werner Lienbergers Reben. Die ganze Familie ist gekommen zum «Wümmet», von den Grosskindern bis zur 85-jährigen Mutter. Die meisten Trauben sind Blauburgunder, aber heute wird die Sorte Zweigelt geerntet. Lienberger schneidet zwei grosse Trauben ab und gibt sie uns mit auf den Weg: «Ässed beid, dänn furzed au beid.»

Ein Heimwehberner in Zürichs Agglo
Zürich naht. Im Coop Pronto am Bahnhof Dietikon kaufen wir ein Sandwich. «Hesch mr no d Quittig?», fragt Tom den Verkäufer an der Kasse, und der beginnt zu strahlen. «Säg de äm Bärnbiet ä Gruess», sagt er in breitestem Berndeutsch. «Hesch Heiweh?» - «Scho echli.» Aber bald schon ziehe er zurück, nach Köniz.

Uns zieht es jetzt endgültig nach Zürich. Schlieren, die gesichtslose Vorstadt (ich darf das sagen, ich habe acht Jahre da gewohnt), durchschreiten wir im Eiltempo. Vorbei an der Grossbaustelle beim ehemaligen Areal der Waggonfabrik, wo heute in einem «Life Science Park» (wieder ein Park) Biotechnologiefirmen forschen. Vorbei am «Wagi-Shopping», vorbei an den neuen Wohnblöcken an der vierspurigen Zürcherstrasse, wo Kinder hinter Schallschutzglas im Flur spielen.

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Auf der Höhe der Badenerstrasse 885, mitten im Verkehr, entdecken wir ein blaues Innerortsschild: Zürich. Wir steigen in den nächsten 31er-Bus und fahren zum Hauptbahnhof.

Es ist die Zeit der müden Gesichter und gelockerten Krawatten, als wir um halb sechs auf Gleis 14 in den Zug nach «Bern - Freiburg - Lausanne - Genf - Genf-Flughafen - ohne-Halt-bis - Bern» steigen. Der Zug fährt los, wir trinken ein Bier und schauen zum Fenster hinaus. Irgendwo zwischen Schönenwerd und Dulliken sagt Tomas: «Hie si mer doch dürecho.» Aber es sieht alles ganz anders aus.