Als Vorspeise gab es eine Tracht Prügel. Beim Essen wurde gebetet, anschliessend ging es im Heimleiterbüro mit neuen Strafaktionen weiter. «Alle Angestellten wussten von den Zuständen, aber was sollten wir tun?», erzählt Elisabeth Stadler. Sie litt unter Schlaflosigkeit, fühlte sich schuldig und überfordert. Sie war verzweifelt über die eigene Machtlosigkeit. Immer wieder wälzte die damals 25-Jährige Suizidgedanken.

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Als frischgebackene Sozialarbeiterin hatte Stadler 1966 den Kopf voller Ideale – landete aber in der harten Realität. An ihrem ersten Arbeitsort im damaligen Landerziehungsheim Albisbrunn in Hausen am Albis herrschte Mitte der Sechziger ein Strafsystem, das ihr noch 44 Jahre später Angst macht. Ausgerechnet in diesem Vorzeigeheim, das zuvor jahrzehntelang von Koryphäen der Sozialarbeit geführt worden war und die Entwicklung schweizweit prägte.

Die Kinder vor dem Heimleiter geschützt

Als junge Angestellte leitete sie mit ihrem Mann eine Gruppe mit einem guten Dutzend Burschen im Alter von 15 bis 21 Jahren. Ein Vorfall veränderte ihr weiteres Berufsleben: Ein Bewohner hatte eine Lehrstelle als Koch in Aussicht. Sein Makel: Er war Bettnässer. Der Heimleiter sagte ihm kurzerhand, er könne die Lehre nur antreten, wenn er das Bett nicht mehr nässe. Der Bursche liess sich fortan heimlich über Wochen jede Nacht mehrmals von Zimmerkollegen wecken, um rechtzeitig die Toilette zu erreichen. Aus Angst, dennoch ins Bett zu machen, schnürte er sich sogar das Glied zu. War das Bett am Morgen trotzdem nass, schaffte Stadlers Mann die nassen Laken heimlich in die Wäscherei.

Der Heimleiter wusste von alledem nichts. Seiner jungen Angestellten sagte er deshalb schulterklopfend: «Sehen Sie, es geht doch. Man muss nur wollen!» Das war Elisabeth Stadler zu viel. Sie sprach Mitarbeiter auf die Missstände an. Schliesslich wandte sie sich an die Heimkommission.

Was als Aktion des Personals gedacht war, funktionierte aber nicht. Die anderen Mitarbeiter hielten sich zurück, Elisabeth Stadler und ihr Mann standen plötzlich alleine da – und erhielten die Kündigung. Die allgemein gehaltene Begründung lautete: «unterschiedliche Arbeitsauffassung». Am Rand einer Sitzung aber sprach ein Mitglied der Heimkommission Klartext: «Wir seien störende Elemente und müssten aus dem Mitarbeiterstab eliminiert werden.»

Elisabeth Stadler arbeitete nie mehr in einem Kinderheim. Aber sie engagierte sich später während Jahrzehnten in der Freiwilligenarbeit, stellte einen Kinderhütedienst auf die Beine und half, einen neuen Spielplatz zu bauen. Ihr sei klargeworden, dass es damals in allen Heimen nur darum ging, Kinder zu gefügigen Arbeitern, zu «Industriefutter», zu formen.

«Ich weigerte mich, das zu verfüttern»

Nicht nur Kinder litten, auch Angestellte kämpften gegen sadistische und brutale Heimverantwortliche. Erika B. zum Beispiel. Als angehende Kinderkrankenschwester arbeitete sie 1964 im St. Galler Kinderheim Birnbäumen. Im von Vinzentius-Ordensfrauen geführten Heim war eine jähzornige Schwester tätig. «Den vierjährigen Walterli verprügelte sie wegen Kleinigkeiten, danach duschte sie ihn eiskalt ab, damit sich keine blauen Flecken bildeten.»

Einen anderen Knaben, den eineinhalbjährigen Mario, habe sie jeden Morgen mit Milchbrocken füttern müssen. Er habe jeweils auch artig gegessen – bis die berüchtigte Schwester im Türrahmen stand. Dann kam dem Kleinen alles hoch – aus Angst vor der Ordensschwester. «Sie wies uns an, ihm das Erbrochene wieder einzulöffeln. Einmal zog ich aber den Teller weg, und das Erbrochene landete auf dem Boden. Ich weigerte mich, das dem Kleinen wieder zu füttern. Die Schwester war ausser sich.» Erst als sich die Klagen des Personals häuften und auch eine aussenstehende Kindergärtnerin an den Heimkindern blaue Flecken entdeckte, wurde die Schwester in die Küche versetzt.

Auch nach 50 Jahren plagt das Gewissen

Nicht immer brachten Angestellte in Kinderheimen die Kraft auf, sich gegen sadistische Heimleiter oder gewaltbereite Nonnen zu wehren. Viele taten, was von ihnen verlangt wurde. Anita Reimann* plagen noch heute Gewissensbisse, wenn sie an ihr Jahr im Kinderheim Courtepin FR denkt. 1961, nachts, wenn die kleine Claudia weinte, stapfte eine Ordensschwester durch den Schlafsaal und packte das knapp zweijährige Mädchen am Nacken – «als wäre es ein Chüngel». Mit der anderen Hand griff sie zwischen die Matratze, zog einen Stock hervor und schlug zu.

Anita Reimann, damals 17, war Praktikantin im Heim der Ingenbohler Schwestern. Immer wieder musste sie auf Geheiss der Schwestern mit anderen Praktikantinnen Knaben an Händen und Füssen fesseln und in den Keller schleifen. Der heute 66-jährigen Frau zucken die Hände, wenn sie erzählt: «Dort mussten wir die Knaben so lange unter den Wasserhahn drücken, bis sie blau anliefen. Die verantwortliche Schwester stand mit dem Stock in der Hand auf der Treppe und gab das Kommando.»

Rohe Sitten herrschten auch, wenn es darum ging, die Kinder an die Toilette zu gewöhnen. Auf Befehl der Schwestern hatten die Praktikantinnen den Kleinen den Topf mit einem Lederriemen an den Hintern zu binden. Die Kinder mussten in Reih und Glied ausharren, teils über Stunden. Bis sie ihr Geschäft erledigt hatten.

Von Schuldgefühlen geplagt, täuschte Anita Reimann nach einem Jahr schwere Zahnschmerzen vor und konnte so das Kinderheim verlassen. Als sie im Beobachter die Geschichte über damals misshandelte Heimkinder las, fasste sie einen Entschluss: Sie wollte die Ingenbohler Schwestern von damals zur Rede stellen und kontaktierte das Kloster. Die Westschweizer Provinzoberin Schwester Louise-Henri Kolly organisierte darauf ein Treffen zwischen Anita Reimann und einer 89-jährigen Schwester, die damals im Kinderheim Courtepin gearbeitet hatte.

Ein Treffen mit der Peinigerin von damals

So kam es im freiburgischen Kloster zur Begegnung. «Am liebsten hätte ich ihr jetzt zurückgegeben, was sie damals den Kindern angetan hatte.» Auf ihre Art hat Anita Reimann das auch getan. In einer Mischung aus Deutsch und Französisch unterhielten sie sich über die Namen dieser und jener Knaben. Als sie auf die Strafaktionen zu sprechen kam, wollte sich die betagte Schwester nur oberflächlich erinnern können. Doch Anita Reimann schilderte ihr in allen Einzelheiten Episode um Episode. Darunter auch, wie sie als Praktikantin die Knaben unter Kontrolle der nun am Tisch sitzenden Schwester unter den Wasserhahn drücken musste. Immerhin habe die Schwester gegen Ende des Gesprächs gesagt, es tue ihr leid, dass in jener Zeit Unrecht geschehen sei.

Eineinhalb Stunden dauerte die Unterredung im Kloster. Reimann ging danach in die neben dem Kloster gelegene Kirche, begleitet von der Provinzoberin. Wortlos setzten sich die beiden Frauen in eine Kirchenbank, Schwester Louise-Henri Kolly hielt Anita Reimanns Hand.

«Die Begegnung im Kloster war wichtig für mich», sagt Anita Reimann. Und doch: «Abschliessen kann ich immer noch nicht. Ich fühle mich schuldig und von den Schwestern ausgenutzt.» Und eine Frage will ihr nicht aus dem Kopf gehen: «Was ist aus diesen Kindern geworden?»

*Name geändert