Stempeln, ohne gearbeitet zu haben
Arbeitslosengeld gibt es auch, wenn man zuvor keine Beiträge gezahlt hat – allerdings nur unter gewissen Bedingungen.
aktualisiert am 15. Juli 2020 - 16:25 Uhr
Sandra Roth*, 46, ist frisch getrennt, als sie vom Beobachter-Beratungszentrum Ratschläge für ihren beruflichen Wiedereinstieg wünscht. Die neue Situation zwingt die dreifache Mutter, nach 20 Jahren Erziehungsarbeit wieder eine Stelle zu suchen. Anders kommt sie finanziell nicht über die Runden.
Die Auskunft überrascht Sandra Roth: «Melden Sie sich beim regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV). Dort können Sie Arbeitslosenentschädigung beziehen.» Die Höhe des Taggelds errechnet die Versicherung aufgrund von Pauschalansätzen. Als gelernte Floristin, die eine Vollzeitstelle sucht, erhält Roth nach kurzer Wartefrist rund 100 Franken pro Tag. Insgesamt kann Sie maximal 90 Taggelder beziehen. Damit ist ihre finanzielle Notlage zumindest vorübergehend entschärft.
Dass Arbeitnehmer, die ihre Stelle verlieren, stempeln gehen können, ist bekannt. Die meisten wissen auch, dass Arbeitslose ein Taggeld erhalten, wenn sie in den letzten zwei Jahren mindestens zwölf Monate als Arbeitnehmer tätig waren. Doch dass man auch Leistungen erwarten kann, obwohl man nie Beiträge gezahlt hat, dürfte nicht allein Sandra Roth erstaunen. Möglich ist das aber nur in bestimmten Fällen.
Auch beim 16-jährigen Daniel Berger* sind die Bedingungen erfüllt. Nach Abschluss der Sekundarschule steht er mit mässigen Schulnoten und ohne Lehrstelle da. Während die Kollegen Pläne schmieden, wie sie ihren ersten Lohn als Stift investieren sollen, liegt Daniel den Eltern auf der Tasche. Seine Motivation ist gering, das Selbstwertgefühl mehr als angekratzt.
Doch auch er kann von der Arbeitslosenversicherung (ALV) Leistungen erwarten, obwohl er im ganzen Leben noch keine Minute beruflich gearbeitet hat. Zwar gilt für Berger – wie für alle Schulabgänger – eine besonders lange Wartefrist von 120 Tagen, während der er noch keine Taggelder bekommt, doch danach hat er Anspruch auf eine Entschädigung von 20 Franken. Wissen muss er dazu, dass die Wartezeit erst mit der Anmeldung beim RAV zu laufen beginnt. Während dieser Zeit wird er aber von der Versicherung nicht einfach im Stich gelassen: Er hat die Möglichkeit, ein Motivationssemester zu absolvieren, in dem er schulische Lücken füllen kann und bei der Suche nach einer geeigneten Anschlusslösung unterstützt wird.
Zwar besteht wie bei allen Beitragsbefreiten nur ein Anspruch auf 90 Taggelder; das ist nach rund vier Monaten aufgebraucht. Doch es ist gerade für Berufsanwärter wichtig, dass sie von der Beratung durch das RAV und von geeigneten Kursen (etwa Bewerbungs- oder Informatikkursen) profitieren können. Das Stempelgeld gibt finanziell Luft, wenn nach der ersten Orientierungsphase weiterhin kein Job in Aussicht ist.
Wer seine Stelle verliert, hat in der Regel einen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Doch die Arbeitslosenentschädigung ist an gewisse Bedingungen geknüpft. Auch für Selbständigerwerbende gelten Sonderregeln. Beobachter-Mitglieder erfahren, an welche Kontrollvorschriften des RAV sie sich halten müssen, wie lange ALV-Taggelder bezahlt werden und wann eine Arbeit zumutbar ist.
Auch wer mehr als zwölf Monate krank war, kann von der Arbeitslosenentschädigung profitieren. Doch aufgepasst: Ein Verhinderungsgrund wie eine Krankheit ist nicht in jedem Fall Grund für eine Beitragsbefreiung. Das musste Peter Hofer* erfahren. Durch eine Erschöpfungsdepression war der 52-jährige Bankangestellte zunächst ein halbes Jahr voll arbeitsunfähig, anschliessend noch zu 50 Prozent. In dieser Zeit suchte Hofer keine Teilzeitstelle – er wollte abwarten, bis er wieder ganz bei Kräften war, und zehrte vom Ersparten. Obwohl er insgesamt über ein Jahr lang krankgeschrieben war – zumindest teilweise –, verweigerte ihm die Versicherung Taggelder. Die Regeln sind klar: Nur wer ausschliesslich wegen der Krankheit nicht arbeitet, ist von der Erfüllung der Beitragszeit befreit. Peter Hofer hatte aber selbst entschieden, seine 50-prozentige Restarbeitsfähigkeit nicht einzusetzen.
Versicherungsleistungen können auch bei einer Trennung oder Scheidung beansprucht werden – aber nicht in jedem Fall. So erhalten nur verheiratete respektive geschiedene Personen Leistungen, nicht aber solche, die ohne Trauschein zusammengelebt haben. Man muss sich auch innert eines Jahres seit der Trennung beim RAV anmelden, sonst ist der Anspruch verwirkt. Die Trennung oder Scheidung muss zudem Ursache sein, dass man in finanzielle Not geraten ist und daher eine Arbeitsstelle sucht oder sich um eine Erhöhung des bisherigen Arbeitspensums bemüht. Wer bereits bei der Trennung Taggelder wegen Härtefall beantragt hat, erhält für die Scheidung nicht erneut Geld von der Arbeitslosenversicherung.
Auch ein Ehepaar, das seit Jahren Sozialhilfe bezieht, erhält nach Trennung oder Scheidung kein Arbeitslosengeld – weil die finanzielle Not schon vorher bestand. Muss aber eine langjährige Hausfrau bei der Trennung eine Stelle suchen, weil sie sonst kein Einkommen mehr hat, ist der Zusammenhang gegeben. Das gilt auch, wenn der Gatte verstarb oder invalid wurde.
Die Detailregelungen sind komplex. Wer in einer ähnlichen Umbruchphase Geldprobleme hat, kann sich aber in jedem Fall beim RAV anmelden. Die Überprüfung des Leistungsanspruchs kostet nichts, und grundsätzlich hat jeder Anspruch auf Beratung für die Stellensuche.
Wer in den zwei Jahren vor der Arbeitslosigkeit aus folgenden Gründen länger als zwölf Monate nicht als Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin tätig sein konnte (auch nicht in Teilzeit), erhält Geld, ohne Beiträge geleistet zu haben:
- Schulausbildung, Umschulung oder Weiterbildung.
- Krankheit, Unfall oder Mutterschaft (Arbeitsunfähigkeit während der Schwangerschaft und im Zeitraum von 16 Wochen nach Geburt des Kindes).
- Aufenthalt in einer Haftanstalt, Suchtklinik oder in einem Rehazentrum.
- Es können verschiedene Gründe zusammengerechnet werden, um auf mehr als zwölf Monate zu kommen.
Das ist auch bei Personen der Fall, die nach den folgenden Ereignissen gezwungen sind, eine Stelle zu suchen:
- Trennung oder Scheidung vom Ehepartner.
- Invalidität oder Tod des Ehepartners.
- Gravierende Veränderungen im Haushalt, zum Beispiel Verschwinden oder Inhaftierung des Ehegatten oder Wegfall der Betreuung Pflegebedürftiger.
- Wegfall/Kürzung der Invalidenrente (IV, Suva oder Militärversicherung).
- Rückkehr in die Schweiz aus einem Nicht-EU- respektive Nicht-Efta-Land, wo man über ein Jahr arbeitete.
- Das Ereignis darf nicht mehr als ein Jahr zurückliegen.
berechnet auf der Basis von Pauschalansätzen
*Name geändert
**Personen mit Kindern erhalten immer den vollen Betrag.
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