Wohnungsnot im Paradies
Reiche Ausländer werden mit offenen Armen empfangen, Einheimische aber verscheucht: In alpinen Tourismusgebieten gibt es kaum noch bezahlbare Wohnungen für die normale arbeitende Bevölkerung. Und der Ausverkauf der Heimat geht munter weiter.
Veröffentlicht am 14. Juli 2006 - 16:04 Uhr
Im Frühstau zu Berge: Nicht nur zur Weihnachtszeit, wenn der Ansturm der Gäste am grössten ist, nein, immer häufiger auch an normalen Werktagen quält sich eine Autokolonne durchs Oberengadin. «Der Pendlerverkehr hat in den letzten Jahren stark zugenommen», sagt Dumeng Giovanoli, Hotelier und 24 Jahre lang Gemeinderat in Sils. Immer mehr Einheimische finden an ihrem Arbeitsort St. Moritz, Sils oder Silvaplana keine bezahlbare Wohnung und müssen talabwärts ziehen.
Einer der Betroffenen ist Alfred Wallnöfer, Leiter der Skischule Corvatsch. «Ich wohnte 26 Jahre lang in Sils, bis mir wegen Eigenbedarf gekündigt wurde.» Wallnöfer fand in Sils keinen bezahlbaren Ersatz: «Die meisten Angebote bewegten sich zwischen 3’000 und 4’000 Franken für eine Viereinhalbzimmerwohnung», sagt er. Er fand dann eine Bleibe für gut 2’000 Franken in Champfèr: «Der Mietzins frisst mir fast den halben Lohn weg.»
Wer in Schweizer Tourismusorten keine günstige gemeinde- oder firmeneigene Unterkunft erhält, muss sich am Zweitwohnungsmarkt orientieren, dessen Preise explodiert sind. Das musste auch Jasmin Seiler erfahren, die letzten Winter eine Stelle als Sachbearbeiterin bei der Gemeinde Zermatt angetreten hatte. «Für 2’000 Franken hätte ich schon ein Zweieinhalb-Zimmer-Appartement bekommen», erklärt sie, «aber das überstieg mein Budget bei weitem.» Sie rieb sich deshalb nicht lange mit der Suche in Zermatt auf und fand neun Kilometer entfernt, in Randa, eine schöne Wohnung für 650 Franken.
Die Gemeinden talabwärts werden immer mehr zum Wohnort der Zermatter. «Zermatt ist daran, die eigene Bevölkerung auszulagern», stellt Kilian Imboden, Architekt und Gemeindepräsident der Nachbargemeinde Täsch, fest. Er schätzt, dass die Mietzinsen in Täsch im Durchschnitt mindestens um die Hälfte tiefer sind als in Zermatt. Im Walliser Nobelort herrscht moderne Wohnungsnot. Und wenn doch einmal eine Bleibe auf dem Markt ist, dann bewegt sich der Zins um 2’500 Franken für vier Zimmer. «Ich bin fast wahnsinnig geworden, als ich für einen Mitarbeiter in meinem Hotel eine Wohnung suchen musste», sagt der Zermatter Gemeindepräsident und Hotelier Christoph Bürgin. Thomas Abgottspon, Hotelier und Gemeinderat, erzählt: «Wenn wir unserem Personal keine Wohnung anbieten könnten, bekämen wir gar keine Angestellten mehr. Ich kenne Fälle, da hat jemand eine Stelle nicht antreten können, weil er keine Wohnung fand.»
Die EU-Annäherung hat Folgen
Fast ebenso wäre es Hans Gerber ergangen, gäbe es nicht auch heute noch Märchen jenseits der Immobilienspekulation. Der Lokomotivführer aus dem Kanton Bern erhielt eine Stelle von der Rhätischen Bahn angeboten. Ein Ortswechsel ins Engadin kam seiner siebenköpfigen, unternehmungslustigen Familie gerade zupass. Gerber stellte sich vor, dass er sich am Bahnhofkiosk in Landquart einen Wohnungsanzeiger kaufen und dann aus dem Vollen schöpfen würde. «Ich traute meinen Augen nicht, aber es gab absolut keine bezahlbaren Wohnungsangebote», erzählt er und muss über seine damalige Naivität schmunzeln. Er setzte alle Hebel in Bewegung, meldete sich bei sämtlichen Immobilienbüros und Gemeindebehörden und schrieb sich fast die Finger wund. «Es kamen dann tatsächlich Angebote für Eigentumswohnungen, aber die bewegten sich zwischen 1,5 und 3 Millionen Franken.»
Ihre letzte Chance sahen Gerbers in einem Inserat, das sie - mit Hinweis auf die grosse Familie - in die Zeitung rückten. Wenige Tage vor Torschluss rief ein Arzt aus Bern an, der aus dem Engadin stammt. Er bot zwei nebeneinander liegende Wohnungen mitten in Zuoz zu einem Freundschaftspreis an. Jetzt besitzen Gerbers «dank der sozialen Ader des Verkäufers» zwei Wohnungen mit je drei Zimmern, für die sie 650’000 Franken zahlten.
Während für Einheimische kaum Wohnungen zu finden sind, boomt der Zweitwohnungsbau sowohl in den Tourismusgebieten des Wallis als auch im Engadin, und ein Ende ist nicht abzusehen. Mit der vorgesehenen Aufhebung der Lex Koller wird es künftig für EU-Bürger, die nicht in der Schweiz ihr Einkommen verdienen, einfacher, Grundeigentum zu kaufen - eine Folge der bilateralen Verträge. Kantone und Gemeinden müssen dann dafür sorgen, dass die Zahl der Zweitwohnungen nicht überhand nimmt. Das könnte so aussehen, dass die Zahl der neuen Zweitwohnungen pro Jahr beschränkt oder deren maximaler Anteil pro Bauprojekt festgelegt wird. Mit der Aufhebung der Lex Koller rechnet man für das Jahr 2010. Skeptische Stimmen wie der Mieterverband oder die Stiftung Landschaftsschutz befürchten jedoch, dass die flankierenden Massnahmen nicht greifen werden.
Bereits heute versuchen Gemeinden in den Tourismusorten, den wild wuchernden Zweitwohnungsbau mit Beschränkungen in den Griff zu bekommen. So nahmen die Oberengadiner Gemeinden eine Initiative an, die nur noch rund 100 Zweitwohnungen pro Jahr erlaubt; damit entstehen aber nur wenige Wohnungen für Einheimische. Ähnliche Massnahmen sieht auch Zermatt vor: Hier gibt es während anderthalb Jahren einen Bewilligungsstopp für Zweitwohnungen. Zudem sollen bei neuen Projekten 30 Prozent der Wohnungen für Einheimische ausgeschieden werden. Dass das etwas bringt, bezweifeln sogar vehemente Kritiker der Bauspekulation wie Gemeinderat Abgottspon. Gerade die Preiserhöhungen der jüngsten Zeit hätten damit zu tun, dass Investoren eine Art Panikkäufe tätigten, weil sie Kontingentierungen und andere Restriktionen befürchteten. «Ich bin gar nicht sicher, ob sich der Markt überhaupt regulieren lässt», meint Abgottspon. «Ich befürchte sogar, dass wir erst am Anfang einer Spekulationswelle stehen.» Ähnlich sieht es der Silser Ex-Gemeinderat Dumeng Giovanoli: «Mit jeder neuen Restriktion stiegen die Preise noch mehr.»
In St. Moritz etwa zahlt man für einen Quadratmeter Wohnfläche zwischen 10’000 und 30’000 Franken. Im Zentrum von Zermatt wird der Quadratmeter Boden auf 10’000 Franken geschätzt. Zwar besitzen die meisten Gemeinden eigene Wohnungen oder fördern den günstigen Wohnungsbau. So hat St. Moritz etwa 60 Wohnungen und erstellt zurzeit 26 Seniorenwohnungen. Weiter werden Baurechte für insgesamt 36 neue Eigentumswohnungen an Einheimische abgegeben. Dennoch besteht ein Mangel. «Zuzüger haben ein Problem», sagt Marco Caminada, Chef des St. Moritzer Bauamts. Auch er weiss von Fällen, in denen eine Stelle wegen Wohnungsmangel nicht angetreten wurde.
Projekte, die Wohnungen für Einheimische vorsehen, sind aber nicht zwingend willkommen. In Silvaplana etwa schlug die katholische Kirche vor, im Zentrum zwei Häuser mit 14 Familienwohnungen zu errichten. Den Boden würde sie zu einem günstigen Baurechtszins abgeben. Die Wohnungen sollten mit Mitteln aus einem Fonds, in den Ersteller von Zweitwohnungen eine Ersatzabgabe leisten mussten, wenn sie nicht gleichzeitig Wohnungen für Einheimische gebaut hatten, teilfinanziert werden. Doch gegen einen positiven Beschluss der Gemeindeversammlung erhoben Gegner wegen eines angeblichen Formfehlers Einsprache. Inzwischen liegt der Fall beim Bundesgericht.
Claudia Troncana, parteilose Bündner Grossrätin aus Silvaplana, sagt: «Die Gegner befürchten unter anderem, dass diese Wohnungen einen Markt für Erstwohnungen schaffen und dass deren Preise etwas sinken würden.» Die Gegner wären direkt davon betroffen, da sie selber eine Grossüberbauung mit etwa 50 Wohnungen planen, von denen jede fünfte gemäss neuem Baugesetz eine Erstwohnung sein muss. «Mit einer Petition haben die Gegner sogar versucht, Druck beim Bischof zu machen, damit die Kirche das Land nicht abgibt», weiss Troncana.
«Nur mit einem starken Angebot an Einheimischenwohnungen würden die Preise sinken», erklärt Beat E. Birchler, Gemeindepräsident von Silvaplana. Für seine Gemeinde könnte der Wohnungsmangel drastische Folgen haben: Nimmt die Kinderzahl noch mehr ab, müsste wohl in absehbarer Zeit die Schule schliessen. Dass es auch anders geht, zeigt Pontresina: Hier schreibt das Baugesetz in der Kernzone einen Erstwohnungsanteil von 50 Prozent vor. «Dadurch ist das Angebot grösser, und der Markt spielt», sagt Gemeindepräsident Martin Aebli.
Goldene Zeiten für Baulöwen
Der Run auf Wohnungen in Tourismusgebieten wird anhalten, darüber sind sich die meisten einig. In Zermatt etwa sind die Bauzonen noch immer sehr gross. «Jeder, der Land in der Bauzone haben wollte, wurde seinerzeit eingezont», sagt Kilian Imboden. Und Abgottspon fügt an: «Die Verstrickungen zwischen Politik, Baulobby und Immobilienentwicklern sind so eng, dass sich kaum etwas ändern wird.»
Seit 1970 hat sich der Zweitwohnungsbestand in der Schweiz von 130’000 auf 450’000 Einheiten mehr als verdreifacht. Fachleute gehen davon aus, dass in den nächsten zehn Jahren mit weiteren 50’000 Zweitwohnungen zu rechnen ist.
«Obwohl die Preise am oberen Limit sind, könnten sie in Zukunft noch ansteigen», sagt die St. Moritzer Immobilienmaklerin Heidemarie Svehla, «denn die Nachfrage wird ebenfalls ansteigen.»
Goldene Zeiten für alle, die in der Immobilien- und Baubranche tätig sind, schlechte Zeiten für jene, die sich eine Wohnung suchen müssen. Denn sie werden sich auch in Zukunft mangels Erstwohnungen am Zweitwohnungsmarkt orientieren oder noch weiter wegziehen müssen. Die Folge wird sein, dass die Pendlerdistanzen noch länger werden. «Ich habe eine Angestellte, die fährt jeden Tag zweieinhalb Stunden Auto», sagt Hotelier Dumeng Giovanoli.