Gemeindeämter: Amtlich verordnete Bürgerarbeit
Zwei Drittel aller Schweizer Gemeinden haben Mühe, ihre Ämter zu besetzen. Einige von ihnen gehen in die Offensive und rekrutieren Bürger gegen deren Willen.
Veröffentlicht am 5. August 2002 - 00:00 Uhr
«Wir beehren uns, Ihnen mitzuteilen, dass Sie von der Gemeindeversammlung als Mitglied des Gemeinderates gewählt worden sind.» Nur noch wenige Bürger reagieren auf diese Mitteilung mit Luftsprüngen und einem Griff zum Champagner im Kühlschrank. Auch Urs Balimann aus Finsterhennen im Berner Seeland war nicht zum Feiern zumute, als ihn die Mitteilung über seine Wahl in den Gemeinderat erreicht hatte: «Für mich war diese Wahl eine klare Racheaktion.»
Während Jahren war Urs Balimann nebenamtlich als Waldarbeiter für die Gemeinde tätig gewesen. Als diese 1996 beschloss, die Holzerei einem Forstunternehmer zu übergeben, kam es zum Eklat. Balimann beschloss, für die Gemeinde nie mehr einen Finger krumm zu machen. Aus einer gewissen Vorahnung heraus teilte er diese Haltung dem Gemeinderat auch noch schriftlich mit – jedoch ohne Erfolg. Mitte Dezember 2001 erhielt Balimann die Mitteilung, dass er in den Gemeinderat gewählt worden sei. Beginn der Amtsdauer: 1. Januar 2002.
Diese Wahl lehnte Balimann schriftlich ab. Zur Begründung führte er seine berufliche Auslastung als Landwirt und nebenberuflicher Lastwagenchauffeur an, aber auch gesundheitliche Probleme. Zudem wies Balimann mit Nachdruck darauf hin, dass es ihm – nicht zuletzt auch wegen der früheren Auseinandersetzung – an der nötigen Motivation für die Übernahme eines Gemeindeamts fehle. Beim Gemeinderat fand er allerdings kein Gehör; dieser wies das Gesuch ab.
Damit nicht genug: Da Balimann den Sitzungen des Gemeinderats fernblieb, verknurrte ihn dieser zu einer Busse von 4000 Franken. «Ich wollte der Gemeinde wirklich keinen Schaden zufügen, sondern einfach meine Ruhe haben. Dass man mich dafür trotz 18 Jahren Tätigkeit für die Gemeinde derart hart bestrafen würde, hätte ich nie geglaubt», sagt der Gebüsste.
«Sehr schwere Verletzung»
Bruno Heiniger, Gemeindeschreiber in Finsterhennen, räumt ein, dass ihm persönlich das Strafmass etwas überrissen erscheint. «Der Gemeinderat gewichtete das Nichtantreten des Mandats als sehr schwere Verletzung. Hätte Herr Balimann diese Verfügung angefochten, wäre die Busse vom Richter wahrscheinlich reduziert worden», sagt Heiniger. Am Verfahren selbst will der langjährige Amtsträger jedoch keine Beanstandungen gelten lassen. Es sei alles juristisch korrekt abgelaufen.
Damit ist er im Recht. Zwar hat der Kanton Bern wie viele andere Kantone den Amtszwang abgeschafft, den Gemeinden aber die Möglichkeit belassen, diesen auf Gemeindeebene beizubehalten – oder gar einzuführen. Und das nicht ohne Grund: Zwei Drittel der 2900 Gemeinden in der Schweiz haben Schwierigkeiten, genügend Kandidaten für ihre Ämter zu finden. Das hat eine Umfrage der Uni Bern ergeben.
Finsterhennen hat ein Reglement zum Amtszwang angenommen. Danach ist jede stimmberechtigte Person, die in ein Organ der Gemeinde gewählt wird, verpflichtet, dieses (Neben-)Amt während mindestens zwei Jahren auszuüben, sofern nicht ein Ablehnungsgrund vorliegt. Als solcher kommen nur das zurückgelegte 60. Altersjahr, Krankheit oder andere wichtige Gründe in Frage, die die Ausübung des Amts verhindern oder unzumutbar machen. Die Verletzung des Amtszwangs kann mit einer Busse von bis zu 5000 Franken geahndet werden.
Dennoch stellt sich die Frage, ob Zwang wirklich das geeignete Mittel gegen vakante Ämter ist. Zwar hat das Milizsystem nach Meinung von Andreas Ladner von der Uni Bern nicht ausgedient. «Die Schweiz leistet sich eine sehr aufwändige Organisation», sagt er. «Nur gibt es dazu auch kaum eine sinnvolle Alternative.» Doch Amtszwang und vor allem die Bestrafung von Unwilligen erachtet Ladner in der heutigen Zeit als wenig sinnvoll. «Das führt nur zu enttäuschten, unmotivierten Bürgern. Die Gemeinden sollten vielmehr versuchen, ihre Ämter attraktiver auszugestalten.» Fehlende Fantasie allein erkläre das Problem aber nicht. «Es gibt keine Patentlösung.»
Für Lorenzo Minozzo, Gemeindepräsident von Finsterhennen, ist einzig der Volkswille massgebend. «Unser Stimmvolk hat entschieden, dass der Amtszwang beibehalten werden soll. Daran sind wir gebunden.» Dasselbe gelte auch für die Wahl von Urs Balimann in den Gemeinderat. Tatsache ist aber, dass das Reglement der Gemeinde Finsterhennen durchaus eine weniger strenge Auslegung zulassen würde. So hätte man im zerrütteten Verhältnis einen wichtigen Grund dafür sehen können, weshalb eine Ausübung des Amts für Balimann unzumutbar wäre.
Das lässt Gemeindeschreiber Bruno Heiniger nicht gelten: «Wir sind eine Gemeinde mit wenigen Einwohnern. Da sind wir auf die Hilfe jeder fähigen Person angewiesen.» Das sei schon immer so gewesen. Heiniger ist überzeugt, dass die Zusammenarbeit im Gemeinderat dann schon funktioniert hätte. Fragt sich nur, wie.