Krankenschwestern: «Die Pflegequalität leidet»
Die Krankenschwestern Isabel Tuor, Rahel Wespi-Surber und Hedwig Eisele, Lehrerin für Pflege, über die Abbaupläne.
Beobachter: Gemäss Pflegedienstleiter Josef Arnold stösst das Pflegekonzept spitalintern etwa zu gleichen Teilen auf Zustimmung wie auf Ablehnung. Wie sieht es bei den direkt Betroffenen, beim Pflegepersonal, aus?
Isabel Tuor: Alle Pflegenden, mit denen ich gesprochen habe, sind gegen dieses Konzept. Als Pflegende muss ich es ablehnen, denn damit wird erstmals eine Rationierung, ein Abbau der Pflege, legitimiert. Rationieren heisst, bestimmte medizinische, pflegerische oder soziale Leistungen zu verweigern, deren Nützlichkeit unbestritten ist. Wenn ein Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal besteht, leidet die Pflegequalität. Versucht man nun, diesen Mangel zu verwalten, statt zu beenden, zerstört dies unseren Beruf. Zudem widerspricht die Rationierung der Menschenwürde und unserer Berufsethik, da sie die Pflegequalität für gewisse Patientengruppen legitimiert.
Beobachter: Das Papier wurde für den Fall akuten Personalmangels ausgearbeitet, um Ihnen die Arbeit zu erleichtern.
Eisele: Ich bin entsetzt über dieses Papier, denn man spricht uns die Fähigkeit ab, uns selber zu überlegen, was mit welcher Priorität zu tun ist. Wir können diese eingeschränkte Pflegetätigkeit nicht verantworten, weder gegenüber uns selbst noch gegenüber den Kranken – auch wenn wir das Okay von oben haben.
Tuor: Das Gespräch mit dem Patienten ist zentral; nur so erfahre ich, wie es ihm geht und ob die Pflege adäquat ist. Wenn Personal fehlt, kann auch ein solches Konzept Gefährdungen nicht verhindern. Im Gegenteil, die Vorgesetzten, Politiker und Patienten wiegen sich in falscher Sicherheit.
Beobachter: Das reduzierte Pflegekonzept soll ja nur zum Einsatz kommen, wenn der Personalmangel akut ist.
Eisele: Ja, aber der Notfall, den sie meinen, den haben wir bereits jetzt täglich – stundenweise. Oder wöchentlich – stundenweise. Er wird kompensiert von denen, die dann arbeiten, und jenen, die eigentlich frei haben, aber dennoch kommen, um die Situation zu retten.
Beobachter: Was sagen Sie zu den neun Kategorien von Pflegesituationen?
Tuor: Sie sind willkürlich; zudem lehne ich jede Kategorisierung von Patienten ab, wenn sie mit dem Abbau von Pflegeleistungen kombiniert wird. Mit der Rationierung der Pflege geht ein Wertewandel einher, den ich nicht akzeptieren kann: Für bestimmte Menschen werden gewisse Leistungen nicht mehr als nützlich angesehen, obwohl sie gebraucht werden.
Beobachter: Nur bei den Privatpatienten aus dem Ausland sollen die Pflegeleistungen nicht reduziert werden – da sie ja schliesslich dafür zahlen würden.
Tuor: Das ist unhaltbar. Auch jeder Schweizer Kranke zahlt – über die Krankenkasse und über die Steuern. Er zahlt zwar betragsmässig weniger, aber das ist unser soziales System, das so funktioniert.
Eisele: In den Ethikregeln des Weltbundes der Krankenschwestern steht: «Die Krankenschwester pflegt grundsätzlich jeden Menschen in gleicher Qualität, wobei sie beispielsweise nicht nach der Finanzkraft oder dem sozialen Status der Pflegeempfänger(innen) unterscheidet.»
Beobachter: Wie kam es zur Kategorie «ausländische Privatpatienten»?
Wespi-Surber (m.): Ich glaube, dass das ganz klar mit Geld zu tun hat. Wir haben etwa Patienten aus den Arabischen Emiraten hier in Behandlung, und zwar direkt bei den Chefärzten. Wahrscheinlich wurde befürchtet, dass diese lukrativen Patienten sonst nicht mehr kommen. Sie sind eine begehrte Einnahmequelle für das Spital. Die Kategorie wurde wahrscheinlich eingeführt, um die Chefärzte und die Verwaltung nicht gegen sich aufzubringen.
Beobachter: Im Unispital sind 67 Pflegestellen unbesetzt. Weshalb der akute Personalmangel?
Tuor: Es sind nicht nur diese bewilligten Stellen nicht besetzt. Im Rahmen der Spitalliste wurden massiv Stellen abgebaut. Vor zwei Jahren schickte man das ausländische Personal nach Hause. Jetzt will man diese Pflegenden wieder rekrutieren.
Wespi-Surber: Ich wehre mich gegen den Zusatz «akut». Wir haben seit Jahren den Zustand, dass wir mit viel zu wenig Personal pflegen. Jetzt hat sich der Personalmangel einfach verschärft, und zwar in der ganzen Schweiz.
Beobachter: Fast alle Pflegeschulen in Zürich rekrutieren seit etwa vier Jahren unter ihrem Soll. Was macht diesen Beruf so unattraktiv?
Tuor: Das ist natürlich ein Teufelskreis: Wenn die Arbeitsbedingungen und die Löhne schlecht sind und wir die Pflege nicht mehr mit unserer Berufsethik vereinbaren können, hängt es den Pflegenden aus. Sie kündigen, wandern in andere Spitäler ab, wo sie mehr verdienen, oder sie wechseln den Beruf.
Wespi-Surber: Wir haben ein grosses Hintergrundwissen, das wir aber oft nicht mehr einsetzen können, weil uns die Zeit dafür fehlt. Wir werden immer mehr zu medizinisch-therapeutischen Assistentinnen der Ärzte abgewertet. Offiziell. Und inoffiziell müssen wir jetzt schon schauen, dass die Assistenzärzte keine Fehler machen, müssen sie an alles Mögliche erinnern.
Beobachter: Und diese Abwertung Ihres Berufs würde mit dem neuen Pflegekonzept verstärkt?
Tuor: Eigentlich wird es nicht wegen der Prioritätenliste schlimmer, aber wenn sie in Kraft tritt, wird der Status quo zementiert und legitimiert. Bislang haben wir uns dagegen gewehrt, ungenügende Pflege leisten zu müssen. Mit diesem Konzept droht aber die Gefahr, dass dies als normal angesehen wird.
Wespi-Surber: Und wir wären diejenigen, die die Verantwortung dafür gegenüber den Patienten tragen müssten. Wir sind die Ansprechpartnerinnen der Kranken. Viele ihrer Fragen klären wir, der Arzt muss nach der Visite gleich wieder weg. Darum finde ich es sehr brisant, dass wir jetzt unsere Informations- und Kommunikationszeit reduzieren sollen. Denn damit verlieren wir das Vertrauen unserer Patienten.
Beobachter: Wie könnte der Pflegeberuf Ihrer Ansicht nach aufgewertet und so auch der Personalmangel entschärft werden?
Eisele: Die Professionalisierung des Pflegeberufs hat in den letzten Jahren zugenommen, aber es fehlen die Rahmenbedingungen, um sie umzusetzen: genügend Personal, das wir nur erhalten, wenn der Lohn besser und das Berufsbild attraktiv ist. Wir wollen akzeptiert werden in der Gesellschaft, und zwar nicht einfach nur als liebe Dienerin, die den Tee bringt.
Wespi-Surber: Und diese Anerkennung läuft in unserer Gesellschaft momentan über den Lohn. Es wäre sicher gut, wenn auch die Pflege – wie die medizinischen Leistungen – pro Patient verrechnet würde. Damit klar würde, dass Pflege kostet.
Beobachter: Und wer soll das bezahlen?
Tuor: Wir fordern den Staat auf, wieder mehr Geld ins Gesundheitswesen zu investieren. Dort ist in den letzten Jahren massiv gespart worden, das geht nicht. Die Kosten sind immer mehr zu Lasten der Krankenkassen, der Prämienzahlenden, verschoben worden. Wir fordern, dass sie wieder zu einem grösseren Anteil über die Steuern gedeckt werden. Zum Vergleich: Stellen wir uns vor, es gäbe eine Versicherung, die man abschliessen müsste, damit die Polizei kommt. Die wird ja auch vollumfänglich über die Steuern finanziert, und sie schützt nicht nur jene, die über 100000 Franken versteuern.
Beobachter: Mit dem Unikonzept ist in der Schweiz erstmals die Debatte um die Rationierung der Pflegeleistungen entbrannt. Was wird passieren?
Tuor: Im Begleitbrief zum neuen Konzept heisst es, alle Stationsleiterinnen müssten obligatorisch Stellung nehmen sowie pro Klinik zusätzlich eine Pflegende, die von der Pflegeleitung ausgewählt wird. Das verfälscht das Bild natürlich. Deshalb haben wir alle Pflegenden aufgerufen, sich an der Vernehmlassung zu beteiligen. Ich glaube Herrn Arnold, dass er, wie er versprochen hat, das Papier zurückzieht, falls die Mehrheit von uns dagegen ist.
Beobachter: Sie haben eine Petition gegen die Prioritätenliste lanciert und fordern höhere Löhne. Am 3. November organisieren Sie eine Protestveranstaltung. Ist der Unmut an der Basis gross genug?
Wespi-Surber: Ja. Wir von der AGGP sagen klar: «Das wollen wir nicht!» Die Liste hat, weil sie das erste derartige Konzept ist, gesamtschweizerische Bedeutung. Unser Protest ist ein Signal an die anderen Pflegenden. Und auch an die Wählerschaft, die letztlich ebenso davon betroffen sein wird.