Christian Brander gibt Gas. Er jagt seinen BMW mit Tempo 90 durch das kleine Thurgauer Dorf. Erlaubt ist Tempo 50. Den Velofahrer sieht er in der Dämmerung viel zu spät. Die Streifkollision wirft den Mann so hart auf die Strasse, dass sein Oberschenkelknochen bricht. Brander bemerkt es, doch er fährt weiter. Ein aufmerksamer Zeuge notiert sich die Autonummer, am nächsten Morgen klingelt die Polizei.

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Der Fall ist frei erfunden. Er ist Bestandteil einer aktuellen Studie des Kompetenzzentrums für Rechtspsychologie der Uni St. Gallen. Studienleiterin Revital Ludewig und ihr Team haben untersucht, was Staatsanwälte beeinflusst, wenn sie Strafen festsetzen. Die Frage ist wichtig, denn heute kommt ein grosser Teil der Strafverfahren nie vor Gericht – die Staatsanwaltschaft erledigt sie mittels Strafbefehl.

Um herauszufinden, ob das Geschlecht des Beschuldigten eine Rolle spielt, liess das Forschungsteam von einer zweiten Gruppe Staatsanwälte einen praktisch identischen Fall beurteilen. Nur war diesmal der Raser nicht ein Mann, sondern eine Frau. Die Staatsanwälte verurteilten den Mann mehr als doppelt so häufig zu einer bedingten Freiheitsstrafe. Der Befund deckt sich mit den Ergebnissen einer Untersuchung des Bundesamts für Statistik, die für das Jahr 2005 feststellte, dass Frauen bei grober Verletzung von Verkehrsregeln häufiger Bussen, Männer jedoch häufiger bedingte Freiheitsstrafen erhielten.

Wer Vorurteile kennt, urteilt unabhängiger

Kriterien wie Vorstrafen oder die Schwere des Delikts sollen nach dem Willen des Gesetzgebers bei der Strafzumessung eine Rolle spielen. «Das Geschlecht gehört jedoch nicht dazu. Es ist ein illegitimer Einflussfaktor», sagt Revital Ludewig.

Genauso die Nationalität. Ludewig und ihr Team wollten von den Staatsanwälten wissen, wie sich die ausländische Herkunft bei der Strafzumessung auswirke. Ein Drittel vermutete, sie würden Ausländer härter bestrafen. Die Frage, ob die Kollegen Beschuldigte mit ausländischer Staatsbürgerschaft härter bestrafen würden, bejahte sogar die Hälfte der rund 180 befragten Staatsanwälte. «Ich war positiv überrascht über den offenen Geist, der mir während der Forschungen bei den Strafbehörden begegnete», sagt Ludewig. Nur wer offen sei und die eigenen Vorurteile kenne, könne mit der grösstmöglichen Unabhängigkeit urteilen.

Die selbstkritische Einschätzung der Staatsanwälte wird in der Studie durch ein Experiment relativiert. Sie mussten über ein Tötungsdelikt befinden: Ein Familienvater erschiesst den Lehrer seiner 15-jährigen Tochter nach einem Streitgespräch. Nach der Festnahme gibt er die Tat sofort zu. Die eine Hälfte beurteilte den Fall mit einem Schweizer, die andere Hälfte mit einem ausländischem Beschuldigten. Statistisch signifikante Unterschiede in der Strafzumessung blieben aus. Der ausländische Täter wurde nicht härter bestraft als der Schweizer.

«Wie das Ergebnis ausgefallen wäre, wenn die Staatsanwälte nicht aufgrund eines Dossiers entschieden hätten, sondern dem Beschuldigten gegenübergesessen wären, ist eine andere Frage», sagt Ludewig.

Richter sind auch nur Menschen

«Staatsanwälte und Richter urteilen wohl allermeistens nach bestem Wissen und Gewissen. Allerdings tun sie dies als Glied einer offenen Gesellschaft und nicht unter einer Käseglocke», sagt Andreas Brunner, leitender Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich und Präsident der Konferenz der Strafverfolgungsbehörden der Schweiz. Nicht rationale Einflussfaktoren könnten ab und zu eine Rolle spielen. «Die Bewusstwerdung von allenfalls nicht legitimen Faktoren ist entscheidend für die ‹gerechte› Strafhöhe. Das ist das Verdienst dieser Studie», so Brunner.

Der Basler Strafrechtsprofessor und ehemalige Richter Peter Albrecht sagt: «Aufgrund meiner richterlichen Berufserfahrung erscheint mir der Befund plausibel. Eine gleichartige Studie bei Richterinnen und Richtern hätte wohl zu ähnlichen Ergebnissen geführt.»

Dass auch in der Justiz Menschen am Werk sind, zeigt eine Untersuchung von israelischen Forschern. Sie fanden heraus, dass Richter milder entscheiden, je satter sie sind. Urteile, die sie kurz vor dem Mittagessen mit knurrendem Magen fällen mussten, fielen strenger aus.