Peter Mathis ist seit 33 Jahren Oberstufenlehrer. Im Unterricht verteilt er Suchtmittel. Zumindest würde das Manfred Spitzer behaupten: Der Hirnforscher hat ein Buch geschrieben mit dem alarmierenden Titel «Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen». Die Thesen: Computer machen doof, Rechner sind «Lernverhinderungsmaschinen», die genauso süchtig machen wie Heroin. Kinder vor die Kiste zu setzen sei nichts anderes als «Anfixen».

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Lehrer Mathis, Brillenträger, grauer Bart, ist in dieser Logik ein Drogendealer, seine Schützlinge sind Abhängige. Die 18 Sek-A-Schüler aus Affoltern am Albis sitzen zu zweit oder zu dritt an ihren Pulten, alle den Blick auf je ein iPad fixiert. Ihre Finger huschen über das Display, wischen sie durch die virtuelle Welt von Google über Wikipedia zu Youtube und wieder zurück. Sie recherchieren zum Thema Afrika. Für Manfred Spitzer verlorene Zeit, in der nichts haftenbleibt. Für Peter Mathis der Schlüssel zum erfolgreichen Lernen.

Mathis, begeisterter Computeranwender, unterrichtet Mathematik, Mensch und Umwelt und Geographie. Im Schulzimmer setzt er auf Hightech. Vor fünf Jahren hat er die Wandtafel durch ein Smartboard ersetzt: eine berührungsempfindliche, an den Computer angeschlossene Leinwand, auf die man mit speziellen Stiften direkt schreiben kann. Die Lehrbücher hat er eigenhändig eingescannt, um Arbeitsblätter auch am Smartboard zeigen zu können.

Vor einem Jahr hat er zudem für jeden Schüler ein iPad organisiert. Seither verläuft sein Unterricht in weiten Teilen digital. Mit vielen positiven Auswirkungen, wie er sagt. Der Einzelne profitiere mehr, weil mit den Apps jeder in seinem eigenen Tempo üben könne. Und: «Die Lernfreude ist gestiegen, einige meiner Schüler wollen sogar plötzlich freiwillig Vorträge halten.»

Trampelpfade im Gehirn

Tatsächlich zeigen sie recht ungewohnte Charakterzüge. Statt nach dem Klingeln aufzuspringen und davonzurennen, bleiben viele auch nach Schulschluss noch da und arbeiten weiter – nicht nur mit den iPads. «Ich kann mich hier besser konzentrieren als zu Hause», erklärt einer. «Die meisten meiner Abgänger absolvieren später eine höhere Ausbildung», sagt Mathis.

Sind die düsteren Szenarien des Hirnforschers Spitzer nur Hirngespinste eines rückwärtsgewandten Schwarzmalers? Die Fortsetzung einer langen Tradition der Technikfeindlichkeit? Schliesslich befürchtete schon Sokrates, die Schrift lasse seine Schüler verblöden. Oder ist es die unbequeme Wahrheit, die niemand hören will?

Fest steht: Spitzer ist ein Polemiker, seine pauschale Kritik am Computer holt vor allem sorgenvolle Eltern ab und bestätigt ihre Ängste. In Affoltern am Albis sind bisher keine Anzeichen um sich greifender Verdummung zu erkennen.

Ein wahrer Kern steckt gleichwohl in Spitzers Aussagen. Als Hirnforscher weiss er, was beim Denken unter unserer Schädeldecke passiert. Informationen werden über sogenannte Synapsen von Zelle zu Zelle geleitet. Beim Denken bilden sich nach und nach Gedächtnisspuren heraus, die sich umso mehr festigen und miteinander verdrahten, je häufiger und je intensiver wir sie benutzen. Wie ein Pfad, den man austrampelt. Dabei gilt: Je mehr Hirnareale wir für das Lösen eines Problems aktivieren müssen, desto stärker trampeln wir. Aus Spitzers Sicht sind Computer daher die schlechtesten Lehrer überhaupt: Wenn Kinder zum Beispiel Lückentexte ausfüllen, indem sie Wörter mit dem Finger in eine Lücke schieben, bewegt sich im Gehirn wenig. Es wird nicht genügend gefordert, der Computer nimmt ihm zu viel Arbeit ab.

«Lesen finde ich manchmal ein wenig mühsam auf dem Tablet. Und Aufsätze sollte man von Hand schreiben. Aber sonst arbeite ich lieber damit. Es geht alles viel schneller.»
Talina Lutz, 13

Quelle: Lea Meienberg

Besonders gefährlich für Kinder ist laut Spitzer das Internet. Weil jede erdenkliche Information nur einen Mausklick entfernt ist, ist es unnötig, sich Fakten noch zu merken. Und was nicht nötig ist, tut unser Gehirn auch nicht. Das Faktengedächtnis bildet sich nicht heraus oder schrumpft – wie ein Muskel, den man nicht trainiert.

Man könnte einwenden, das sei nicht weiter schlimm. Hauptsache, wir wissen, wo wir die Information finden. Forschungen zeigen denn auch, dass Leute, die häufig das Internet nutzen, einfach ein anderes Hirnareal aktivieren, wenn man sie nach Fakten fragt: Sie denken an Suchstrategien, statt zu versuchen, sich zu erinnern.

Doch selbst Hirnforscher, die eine Pauschalkritik am Medium Internet ablehnen, erkennen Gefahren. «Das Problem ist die Art und Weise, wie unser Gehirn funktioniert», sagt etwa Martin Korte, Professor für Neurobiologie an der Technischen Universität Braunschweig. Das Gehirn lerne nämlich assoziativ. Will heissen: Es lernt Neues, indem es auf altem Wissen aufbaut. Wer nichts weiss, lernt auch nichts dazu. Oder anders: «Wer sich ohne Vorwissen durchs Internet googelt, kann letztlich Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden.»

Durchschnittliche Surfdauer pro Tag, 12- bis 19-Jährige

Quelle: Lea Meienberg
«Wir ruinieren unseren Stirnlappen»

Daneben kann das Internet auch unser Arbeitsgedächtnis überlasten. Wer online ist, wird abgelenkt: Während man einen Artikel liest, meldet sich ein Freund per Skype, eine E-Mail kündigt sich an, und im Hintergrund ploppt eine Facebook-Nachricht. Bei jeder neuen Information, die wir finden, wird das Belohnungssystem aktiviert. Daher fällt es vielen so schwer, Statusmeldungen und E-Mail-Eingänge einfach zu ignorieren. Es wird auch nicht besser, wenn wir uns an die ständigen Unterbrechungen gewöhnen. Im Gegenteil: Leute, die sich dieses Multitasking antrainiert haben, können sich sogar schlechter auf mehrere Dinge zugleich konzentrieren als andere. Sie erledigen zwar vieles parallel, aber sie machen dabei auch mehr Fehler.

«Ich finde den Unterricht viel spannender mit dem Tablet. Es wird weniger langweilig, weil man sich mit einem Fingertipp noch mehr Infos holen oder etwas anderes angucken kann. Und man hat alles an einem Ort gespeichert. Praktisch. Ich bin eben ein wenig vergesslich.»
Claudio Seeberger, 13

Quelle: Lea Meienberg

«Unser Gehirn ist schlicht nicht fürs Multitasking geschaffen», erklärt Hirnforscher Korte. Aufmerksamkeit, Konzentration, Selbstkontrolle – all das sitzt im Stirnlappen und bildet die Grundlage für das Arbeitsgedächtnis. Dieses ist zum Beispiel dafür verantwortlich, dass man am Ende eines gelesenen Satzes noch weiss, was am Anfang stand. Es filtert auch aus, was in unser Langzeitgedächtnis gelangt und was nicht. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist relativ beschränkt, wir können uns nicht viele verschiedene Dinge gleichzeitig merken. Die permanente Informationsflut überfordert uns. «Wir ruinieren damit im Grunde unseren Stirnlappen», sagt Korte.

Gerade für Kinder und Jugendliche kann das zum Problem werden. Bei ihnen ist der Stirnlappen noch nicht ausgereift. Sie lassen sich also noch schneller ablenken. «Die Gefahr, den ständigen Verlockungen zu erliegen und somit Aufmerksamkeitsstörungen zu entwickeln oder süchtig zu werden, ist umso grösser», erklärt Lutz Jäncke, Neuropsychologe an der Uni Zürich.

Der Computer wirkt wie Süssigkeiten

Hinzu kommt: Selbstkontrolle muss man im Kindesalter lernen. Jäncke verweist auf den berühmten Marshmallow-Test aus den Siebzigern in den USA, der bei Vierjährigen die Fähigkeit prüfte, Wünsche aufzuschieben. Jedes Kind bekam ein Marshmallow – mit Aussicht auf ein zweites, falls es das erste nicht ass, bis der Forscher nach 20 Minuten zurückkam. Als Jugendliche und als Erwachsene wurden die Probanden erneut getestet und befragt. Resultat: Wer damals der Versuchung erlag, tut dies auch als Erwachsener, ist emotional instabiler, unentschlossener und war in der Schule weniger erfolgreich – unabhängig von der Intelligenz. Ähnlich viel Mühe, wie einem Marshmallow zu widerstehen, kostet es heutige Kinder, den Computer nach einer gewissen Zeit wieder auszuschalten.

Das Arbeitsgedächtnis ist aber nicht nur für die Impulskontrolle wichtig: Es beeinflusst auch unsere ganz allgemeinen Problemlösungsfähigkeiten, die sogenannte fluide Intelligenz. Das haben Forscher der Universitäten Bern und Michigan herausgefunden – und für Aufsehen gesorgt: Die meisten Gehirnforscher gingen lange davon aus, fluide Intelligenz sei weitgehend genetisch bestimmt – und deshalb durch Einflüsse wie Bildung und Erziehung nicht veränderbar. Zudem gab es bisher kaum Hinweise darauf, dass intelligenzsteigernde Übungen auch Leistungen bei Aufgaben steigern würden, die nicht direkt mit dem Geübten zu tun hatten.

«Fahrlässig, den Leuten Angst einzujagen»

Die Forscher führten sogenannte Dual-n-back-Tests durch. Diese trainieren das Arbeitsgedächtnis – indem sie die Fähigkeit verbessern, neu wahrgenommene Elemente oder Verbindungen zwischen diesen gleichzeitig im Kopf zu behalten.


«Ich kann mir die Dinge, die ich auf Papier schreibe, besser merken. Bei komplizierteren Sachen mache ich mir immer noch Handnotizen. Ich finde das Tablet vor allem für Vorträge gut.»

Ardit Biqkaj, 14

Quelle: Lea Meienberg

Konkret: Die Testperson sieht auf einem Bildschirm eine Folge von Quadraten; gleichzeitig hört sie eine Stimme, die eine Reihe von Buchstaben zitiert. Immer wenn das neuste Quadrat an derselben Stelle erscheint wie das vorletzte, muss dies mit einer Taste bestätigt werden; wenn der genannte Buchstabe dem vorletzten entspricht, mit einer anderen Taste.

Das «n» im Namen des Tests steht für die Anzahl Schritte, die man zurückdenken muss. Das obige Beispiel ist ein 2-zurück-Test. Es gibt Erwachsene, die Trainingseinheiten mit bis zu neun Schritten zurück lösen. Und: Je länger sie üben, umso besser werden sie dabei.

Diese Übungen für das Arbeitsgedächtnis trainieren auch die fluide Intelligenz, weil sie ähnliche Netzwerke im Gehirn aktivieren. Oder banaler: Wer mehr Dinge gleichzeitig präsent haben und in Betracht ziehen kann, löst Probleme besser.

Da stellt sich die Frage: Wenn sich durch Konzentrationsübungen die Leistung des Arbeitsgedächtnisses steigert, wird es dann entsprechend schwächer beim stundenlangen unkonzentrierten Herumsurfen im Internet?

Sind wir also doch, wie Manfred Spitzer befürchtet, auf dem besten Weg in die digitale Demenz, weil wir unser Arbeitsgedächtnis vernachlässigen? Bringen wir unsere Kinder um den Verstand, wenn wir ihnen erlauben, Computer und Internet zu benutzen? Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Uni Zürich gerät bei solchen Aussagen in Rage: «Demenz ist eine unheilbare, noch immer wenig erforschte Krankheit. Ich finde es fahrlässig, den Leuten auf diese Weise Angst einzujagen.»

Was Schwarzmaler Spitzer konsequent verschweigt: Kein Kind sitzt pausenlos vor dem Computer und informiert sich nur übers Internet. Schweizer Kinder und Jugendliche surfen täglich etwa zwei Stunden – sehr häufig, um Hausaufgaben zu machen. Daneben treffen sie sich auch oft mit Freunden, treiben Sport oder lesen Zeitungen (siehe Grafiken auf der nächsten Seite).

Handy, Internet und Freunde treffen: Das machen Jugendliche in ihrer Freizeit

Anteil der Jugendlichen, die täglich/mehrmals pro Woche folgende Dinge tun

Quelle: Lea Meienberg
Medien: Mit zunehmendem Alter gamen Jugendliche weniger, lesen dafür mehr Zeitung

Jugendliche, die die folgenden Medien täglich/mehrmals pro Woche nutzen

Quelle: James-Studie 2010; Infografik: Beobachter/mt/dr

Quelle: Lea Meienberg
Sogar Ballerspiele können wertvoll sein

Bei objektiver Betrachtung deutet wenig darauf hin, dass die Menschheit verblödet. Im Gegenteil: Der durchschnittliche IQ nimmt in den westlichen Industriestaaten seit Jahrzehnten zu – wir werden also immer schlauer. Nicht zuletzt auch dank Computern, wie Lutz Jäncke betont. An seinem Institut therapiert er Patienten mit neurologischen Erkrankungen mit Hilfe von Serious Games, ernsthaften Spielen. Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit können so gezielt trainiert werden. «Ohne Computer könnte ich den Laden dichtmachen. Ich halte es für falsch, ein Medium zu verteufeln, nur weil es auch negative Folgen haben kann», sagt er. Die Suchtgefahr betreffe eine kleine Minderheit. «Genauso gut kann man fordern, das Essen zu verbieten, weil es Menschen mit Essstörungen gibt.»

Mittlerweile belegen zahlreiche Studien, dass sogar die lange verpönten Ballergames bestimmte wahrnehmungsgebundene und kognitive Fähigkeiten verbessern, die auch im Alltag nützlich sind. Chirurgen, die regelmässig gamen, operieren bei Bauchspiegelungen schneller und zuverlässiger als nicht gamende Kollegen. Wer Actiongames spielt, schärft seine visuelle Wahrnehmung und lernt, in unübersichtlicher Umgebung Details besser zu erkennen. Das ist etwa beim Autofahren im Nebel von Vorteil. Ausserdem verfügen Actiongame-Spieler über eine bessere sogenannte Top-down-Aufmerksamkeit – was unter anderem ermöglicht, störende Reize in der Umgebung auszublenden.

Senioren googeln Hirnareale fit

Grundsätzlich gilt für das Gehirn zwar «use it or lose it» – nutze es oder verliere es. Aber zugleich ist es enorm anpassungsfähig und flexibel. Das zeigt sich auch bei Menschen mit Hirnverletzungen, bei denen Funktionen beschädigter Hirnregionen einfach von anderen Arealen übernommen werden.


«Ich finde das Tablet vor allem gut, um Texte zu schreiben. Es läuft immer eine Rechtschreibeprüfung, und man macht weniger Fehler. Es geht auch viel schneller als von Hand. Nur für Geometrie finde ich das Tablet nicht so geeignet, das geht einfacher von Hand.»

Alessia Viglione, 14

Quelle: Lea Meienberg

Auch wenn Manfred Spitzer etwas anderes behauptet: Bis heute ist nicht erwiesen, ob intensive Computernutzung im Kindesalter zu irreversiblen Schäden führt oder ob wenig trainierte Hirnleistungen später kompensiert werden. Lutz Jäncke ist ziemlich sicher, dass unser Denkorgan flexibel auf die neuen Herausforderungen reagieren wird: «Ich bin überzeugt, dass das Gehirn sich von so etwas nicht aus dem Konzept bringen lässt.»

Fest steht, dass ausgerechnet dank dem Internet auch ältere Menschen ihre kognitiven Fähigkeiten verbessern können. Forscher der University of California in Los Angeles liessen 55- bis 78-Jährige, die vorher kaum mit dem Internet in Berührung gekommen waren, eine Woche lang regelmässig googeln. Vorher und nachher traten sie zum Test im Tomographen an. Beim zweiten Mal waren plötzlich Hirnareale aktiv, die vorher quasi brachlagen. «Für Leute, die noch nie online waren, kann Googeln durchaus eine Herausforderung und daher lehrreich sein», erklärt Neurobiologe Martin Korte.

Was in und mit den Köpfen der Schülerinnen und Schüler von Peter Mathis passiert, bleibt vorerst unklar. Dass das iPad aber nicht nur positive Seiten hat, zeigte sich auch in Affoltern am Albis. So kommt das Tablet bei Prüfungen vorläufig nicht mehr zum Einsatz. Der Grund: Einige haben während des Tests via Chat Lösungen ausgetauscht. Manche hatten auch Mühe, sich von dem Gerät zu lösen. Zwei Schüler hatten sich beklagt, dass sie zu Hause zu oft mit dem iPad spielen würden. Seither bleiben die Tablets nach dem Unterricht im Schulzimmer, und die Hausaufgaben werden wieder von Hand gelöst. All das spricht nicht gegen das Gerät. Aber es macht deutlich, dass der Umgang mit ihm geübt werden will.