«Onlinesucht kann wirklich alle treffen»
Psychologe Franz Eidenbenz ist überzeugt: Viele Leute verlieren sich im Internet. Arbeit, Schule und Sozialleben leiden.
Veröffentlicht am 5. Januar 2021 - 13:30 Uhr
Beobachter: Herr Eidenbenz, wie viele Stunden waren Sie heute schon online?
Franz Eidenbenz: Ich habe auf dem Computer Mails gecheckt und mit dem Handy Nachrichten gehört. Da kommen schnell mal ein bis anderthalb Stunden zusammen. Wegen Corona finden derzeit auch viele meiner Therapiesitzungen online statt. Das kann dazu führen, dass ich bis zu sieben Stunden am Tag vor dem Computer oder dem Handy verbringe. Für mich sind die neuen Medien ein fantastisches Instrument, um effizient zu kommunizieren
. Sie können jedoch schnell und kaum bemerkt zu Zeitfressern werden.
Wie viel Zeit verbringen Schweizerinnen und Schweizer denn im Netz?
Ausserhalb der Arbeitszeit sind es bei Erwachsenen rund zweieinhalb Stunden täglich. Bei den Jugendlichen sind es rund vier Stunden.
Ab wie vielen Stunden spricht man von Onlinesucht?
Die reine Zeitdauer ist kein Merkmal der Sucht (mehr zu Sucht bei Guider unten). Von einer Sucht kann man sprechen, wenn der Medienkonsum negative Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen, die Leistung am Arbeitsplatz oder in der Schule hat – und man trotzdem weitermacht. Und wenn man allgemein die Kontrolle über das Ausmass verliert. Ein unterschätztes Problem: Die neuen Medien machen es besonders schwer, von einer Abhängigkeit loszukommen.
Wie denn?
Die Onlineangebote sind verführerisch, technisch sehr gut gemacht. Raffinierte Algorithmen sorgen dafür, dass wir uns möglichst lang und häufig mit ihnen beschäftigen. Die Onlinemedien binden unsere Aufmerksamkeit, indem sie uns gerade so fordern, dass es uns nicht langweilt – uns aber auch nicht überfordern, sodass wir abhängen. Games zum Beispiel sind so programmiert, dass sie sich automatisch unseren Fähigkeiten anpassen. So bringen sie uns in einen sogenannten Flow- oder eben Rauschzustand. Und auf Social Media sind jene Leute erfolgreich
und erhalten am meisten Likes und Anerkennung, die sehr aktiv sind. Das macht den Medienkonsum so anziehend und erschwert es, ihn einzuschränken.
Gibt es Lebensumstände, die eine Onlinesucht begünstigen?
Onlinesucht kann jede und jeden treffen, durch alle sozialen Schichten. Meist werden die Medien dann besonders attraktiv, wenn es im realen Leben nicht so läuft, wie man es sich wünscht. Dann sind wir besonders gefährdet, der Ablenkung, Unterhaltung und Anerkennung einer virtuellen Welt
zu erliegen. Häufig tritt die Internetsucht aber auch zusammen mit
ADHS auf, mit einer depressiven Verstimmung oder mit Ängsten. Am meisten verbreitet ist die Onlinesucht bei den Jugendlichen. 20 Prozent der 15- bis 19-Jährigen sind süchtig oder zumindest gefährdet.
Holen sich die Jugendlichen auch Hilfe?
In der Regel sind es die Eltern, die Hilfe suchen. Sie machen sich grosse Sorgen, weil das Kind keine Hausaufgaben mehr macht, dafür bis spät in die Nacht hinein gamt. Anders als die Eltern empfinden Jugendliche ihren exzessiven Medienkonsum oft gar nicht als ernsthaftes Problem – selbst wenn sie deswegen die Lehre abbrechen
oder von der Schule fliegen. In einer solchen Situation ist es wichtig, dass die Eltern den Jugendlichen klarmachen, dass diese Situation ein Problem ist. Eins, das man nur gemeinsam lösen kann. Und zwar mit dem Ziel, dass Jugendliche ihre privaten und beruflichen Ziele künftig erreichen können. Dazu gehören auch klare Abmachungen und Grenzen (siehe weiter unten
«Tipps: So können Eltern vorbeugen»).
«Der Medienkonsum soll eine Ergänzung zum realen Leben darstellen, nicht umgekehrt.»
Franz Eidenbenz, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP
Der Prix Courage des Beobachters wurde 2020 an Nadya und Candid Pfister
verliehen, die sich gegen Cybermobbing einsetzen. Wie sieht es damit aus?
Das ist ein Problem. Die digitalen Medien haben ihre Schattenseiten. Mit ihnen ist es viel einfacher geworden, zu mobben – sei es, weil man in einem Chat unwahre Geschichten verbreitet oder Bilder online stellt. Beides lässt sich nicht so schnell löschen
oder vergessen machen. Dann geht es darum, dass man etwa in der Schulklasse diskutiert, was für einen Umgang man untereinander wünscht und wie jeder und jede respektiert werden kann. Klare, gemeinsam vereinbarte Regeln und Abmachungen helfen, Cybermobbing zu bekämpfen.
Was ist ein gesunder Medienkonsum?
Ein gesunder Medienkonsum ist vor allem selbstbestimmt und kontrolliert. Und zwar so, dass ich die neuen Medien so einsetzen kann, wie es für mich und mein Leben Sinn ergibt. So, dass ich weiterhin mein soziales Umfeld pflegen, meinem Beruf nachgehen und meine privaten Ziele verfolgen kann. Der Medienkonsum soll eine Ergänzung zum realen Leben darstellen und nicht umgekehrt.
Sinnlos Zeit vor dem Handy vergeuden – wie lässt sich das verhindern?
Wichtig ist, das Gerät am Abend rechtzeitig auszuschalten, damit man genug Schlaf
bekommt. Zudem können vorinstallierte Apps wie etwa «Digital Wellbeing» auf Android-Smartphones oder «Bildschirmzeit» auf dem iPhone helfen, den Medienkonsum zu erfassen und selber zu kontrollieren. Und: Lassen Sie sich vom realen Leben genauso ablenken wie vom Handy.
Was nützen digitale Auszeiten
?
Sie machen uns den enormen Einfluss bewusst, den digitale Medien auf unser Leben haben. Man muss aber im Alltag lernen, den Medienkonsum zu steuern und tagtäglich eine gute Balance zu pflegen. Mit einer digitalen Auszeit allein schafft man noch keine nachhaltige Veränderung.
- Klare Abmachungen: Treffen Sie möglichst frühzeitig (am besten vor dem ersten Handy) klare Regeln , wann Schlafenszeit ist und die Geräte ausgeschaltet werden. Vereinbaren Sie auch medienfreie Zeiten. Unterstützen Sie Ihr Kind bei Alternativen – etwa anderen Hobbys oder bei der Pflege seines Freundeskreises.
- Problem ansprechen: Wenn es dauernd Streit um die Medien gibt, machen Sie Ihrem Kind klar, dass ein ernsthaftes Problem vorliegt, das sich nur gemeinsam lösen lässt.
- Hilfe suchen: Wenn Sie gemeinsam keine Lösungen finden, wenden Sie sich an eine Fachperson, etwa an eine Jugendberatungsstelle, an Schulsozialarbeiter oder Schulpsychologinnen.
Zur Person
Schadet der Handybildschirm den Augen?
Von Sucht ist schnell mal die Rede. Doch was bedeutet es, süchtig nach etwas zu sein? Was geschieht mit unserer Psyche, wenn wir süchtig werden? Und wo finden Angehörige von Süchtigen Hilfe? Finden Sie als Beobachter-Mitglied Antworten auf diese und weitere Fragen.