Das muss nicht schlecht sein
Kinder von Teenagermüttern haben es schwer, sagen Studien. Oft werden sie zu früh geboren, haben soziale und psychische Probleme. Doch einige sind ganz glücklich mit ihrer jungen Mutter.
Veröffentlicht am 15. September 2015 - 14:09 Uhr
Eigentlich müsste Marcel Jäggi in einer Einzimmerwohnung und von der Sozialhilfe leben – oder von der IV. Jedenfalls würde er sicher nicht mit diesem wohlwollenden Gesichtsausdruck von seiner Mutter sprechen. Der 50-Jährige wischt sämtliche wissenschaftlichen Erkenntnisse über Kinder von Teenagermüttern mit einer Handbewegung und einem Lächeln weg. Nein, gelitten habe er nicht darunter, dass seine Mutter erst 16 war, als er zur Welt kam. «Im Gegenteil. Ich glaube, meine Mutter hat mich besonders in der Pubertät besser verstanden als andere Mütter, weil diese Lebensphase bei ihr noch nicht so weit zurücklag», sagt er. «Wir haben ein sehr gutes Verhältnis, bis heute.»
Auch Vjollca Dalipi glaubt nicht, dass das jugendliche Alter ihrer Mutter – diese war 19 bei der Geburt der Tochter – ein Nachteil war. «Ich denke, ich war ziemlich anstrengend. Meine Mutter hätte es vermutlich nicht überlebt mit mir, wenn sie älter gewesen wäre», sagt die 33-jährige Krippenleiterin an ihrem Küchentisch in einer Zürcher Siedlung und muss lachen.
Die Forschung sagt etwas anderes: Laut zahlreichen Studien haben Kinder von Teenie-Müttern nicht viel zu lachen. Sie starten mit denkbar schlechten Voraussetzungen ins Leben. Sie kommen oft untergewichtig und zu früh zur Welt, dies auch, weil ihre Mütter die vorgeburtliche Vorsorge vernachlässigen und die Schwangerschaft manchmal sogar zu ignorieren versuchen. Später haben diese Kinder häufiger Probleme in der Schule. Sie sind eher sozial auffällig, haben beispielsweise Mühe, ihre Gefühle auszudrücken und zu kontrollieren. Sie wachsen häufiger in einem ärmlichen Milieu ohne Vater auf und erleben dort nicht selten Misshandlung oder Vernachlässigung durch die überforderten Mütter. Vor allem aber sind sie meistens keine Wunschkinder – und das lasse man sie spüren.
Marcel Jäggi, von Beruf Marketingmanager, schaut sich in seiner grosszügigen Neubauwohnung in Winterthur um und zuckt die Schultern. Da habe er wohl Glück gehabt, sagt er. Seine Eltern blieben 17 Jahre zusammen. Und er war definitiv ein Wunschkind. «Sie wollten nämlich heiraten. Mein Vater war damals 20, doch meine Mutter erst 16, das ging nicht. Also machten sie Nägel mit Köpfen», erzählt er und meint sich selber. «Ich war Mittel zum Zweck. Mit einem Kind, das unterwegs war, willigte der Regierungsrat ein und liess die Heirat einer Minderjährigen zu.» Das war wichtig in jener Zeit, denn mit alleinstehenden jungen Müttern gingen die Behörden in den sechziger Jahren nicht gerade zimperlich um. Marcel Jäggis Mutter musste befürchten, in einer Anstalt untergebracht, also administrativ versorgt zu werden.
Stattdessen zog das frisch vermählte Paar in eine gemeinsame Wohnung, eineinhalb Jahre später kam ein zweites Kind, eine Tochter. «Wir hatten eine schöne Kindheit, meine Eltern waren abgesehen von ein paar strikten Regeln locker, und wir unternahmen viel zusammen. Geld gab es zwar nicht im Überfluss, aber als Kinder bekamen wir dies nie zu spüren», sagt Marcel Jäggi. Die anderen Kinder hätten ihn vor allem um den jungen Vater beneidet: «Er spielte oft mit uns Fussball.»
Vjollca Dalipi erlebte Ähnliches: «Meine Mutter hatte extrem viel Energie. Sie war berufstätig, doch wenn sie freihatte, spielte sie oft mit mir. Wir bauten im Wald Hütten, und die anderen Kinder durften spontan bei uns übernachten. Meine Mutter schien nichts anzustrengen. Den Haushalt machte sie, wenn ich im Bett war.» Realisiert habe sie dies aber erst, als sie vor gut acht Jahren selber Mutter geworden sei. «Heute sehe ich, wie unglaublich fit meine Mutter gewesen ist und was für ein Vorteil dies für mich war. Sie hat alles für mich getan, mich gefördert und mir beigebracht zu lieben.»
Was ist also dran an den Studien zu den vernachlässigten, benachteiligten Kindern von Teenagereltern? Die Zusammenhänge sind nachgewiesen, doch es stellt sich die Frage nach Ursache und Wirkung. Es gibt diese Geschichte mit den Störchen und den Geburten: Statistisch lässt sich belegen, dass die Geburtenziffer überall dort markant höher ist, wo es auch viele Störche gibt. Doch die beiden Dinge hängen natürlich nur scheinbar zusammen. Störche sind vor allem auf dem Land verbreitet – da, wo mehr Familien leben.
«Meine Eltern rannten so lange um das Laufgitter herum, bis mir schwindlig wurde. Dann gingen sie aus.»
Marcel Jäggi, Marketingmanager
So ähnlich ist es bei den Kindern von jugendlichen Müttern. Sie haben nicht einfach deshalb schwierigere Startbedingungen, weil ihre Mütter so jung sind, sondern weil diese selber häufig aus einem ähnlichen Milieu mit ähnlichen Problemen stammen. Schon ihre Eltern waren womöglich nicht optimal auf die Elternschaft vorbereitet, und es ist eine Binsenwahrheit, dass man nur weitergeben kann, was man selber erfahren hat. Oft werden Kinder von Teenie-Müttern selber sehr früh Eltern – die Geschichte setzt sich fort.
Ein Phänomen, das auch Irène Dingeldein beobachtet. Die Ärztin aus Murten ist spezialisiert auf Kinder- und Jugendgynäkologie und hat schon viele Teenager durch die Schwangerschaft begleitet. «Es ist eigentlich verrückt: Immer diejenigen, bei denen es am problematischsten ist, verhüten am unzuverlässigsten», sagt sie. Es seien oft diejenigen Teenager, die nicht so genau wüssten, was sie im Leben wollten, und die vielleicht keine Lehrstelle gefunden hätten. «Sie sehen in einem Kind die Möglichkeit, ihrem Leben einen Sinn zu geben.»
Gleichwohl beobachtet Dingeldein in der Praxis eher selten die Zusammenhänge, die Forscher gefunden haben. «Minderjährige Mütter haben nach meiner Erfahrung nicht mehr Probleme mit der Schwangerschaft und ihren Kindern als andere.» Das liege daran, dass die ihr bekannten Mütter die ärztlichen Kontrollen durchlaufen. Zudem würden sie häufig von ihren Familien unterstützt. Es gebe dennoch medizinisch gewisse Risiken. «Kinder von Müttern unter 17 leiden häufiger unter Blutarmut, was zu einem verzögerten Wachstum führen kann», so Dingeldein.
Und: Mutterschaft endet nicht mit der Geburt, im Gegenteil. Ein Kind grosszuziehen ist eine Lebensaufgabe. Manche Teenie-Mutter merkt erst nach Jahren, was sie in der Jugend verpasst hat, und entwickelt Nachholbedarf.
So jedenfalls hat es Dragana Ilic* erlebt. Die 34-Jährige möchte aus familiären Gründen nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden. Sie ist in Serbien auf dem Land aufgewachsen. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt 17 Jahre alt, der Vater nicht viel älter und «ein Tyrann», wie sie sagt. «Er hat meine Mutter geschlagen. Nach vier Jahren liess sie sich scheiden und entdeckte plötzlich das Leben. Sie hatte nur noch Ausgang und Freunde im Kopf und übernahm keinerlei Verantwortung mehr für mich und meine Schwester.» Die Mutter habe die beiden Kinder stets spüren lassen, dass sie Störfaktoren waren. Nachdem sie vor dem gewalttätigen Exmann in die Schweiz geflüchtet war, wuchsen die Mädchen bei den Grosseltern in Serbien auf. «Einmal hörten wir ein ganzes Jahr lang nichts von unserer Mutter», erzählt die Tochter.
Nichtsdestotrotz kamen Dragana Ilic und ihre Schwester als Teenager ebenfalls in die Schweiz. Und es lief gar nicht so schlecht. Das Familienleben normalisierte sich. Mutter und Töchter gingen teilweise sogar zusammen aus – der geringe Altersunterschied machte es möglich.
Besonders streng sei ihre Mutter nicht gewesen, sie liess sie gewähren, sagt Ilic. «Dadurch wurden wir rasch selbständig. Doch manchmal bin ich mir nicht sicher, ob sie so viel Vertrauen in uns hatte oder ob wir ihr egal waren. Bis heute habe ich das Gefühl, dass sie gar nie richtig erwachsen geworden ist. Sie hat einfach eine wichtige Phase übersprungen und nie gelernt, wirklich Verantwortung zu übernehmen.»
Bei Marcel Jäggi verlief das Familienleben zwar harmonischer, doch er erlebte ebenfalls die negativen Seiten allzu früher Elternschaft. Auch seine jugendlichen Eltern schlugen gelegentlich über die Stränge und taten, was man tut, wenn man jung ist: Sie gingen aus, manchmal bis in die frühen Morgenstunden und mit einer im Nachhinein schwer nachvollziehbaren Sorglosigkeit. Die Kinder liessen sie allein zu Hause.
«Ich glaube, es kam ihnen gar nicht in den Sinn, einen Babysitter zu organisieren. Das Geld dafür hatten sie sowieso nicht», erzählt Jäggi, selber Vater zweier Söhne im Teenageralter. Seine Eltern merkten aber, dass die Kinder nicht gern allein gelassen wurden. Also machten sie den Abschied kurzerhand zum Spiel: «Sie rannten so lange um das Laufgitter herum, bis mir schwindlig wurde. Dann waren sie plötzlich verschwunden. Sie dachten wohl, der Abschied falle mir so leichter.»
Wo heute sofort die Kinderschutzbehörde alarmiert würde, verschlossen damals alle die Augen. Weder Grosseltern noch Nachbarn griffen ein. «So oft kam es ja nicht vor. Ich glaube, das hat gar niemand mitgekriegt», sagt Jäggi.
Einen Schaden habe er deswegen ja nicht davongetragen, aber er sei bis heute nicht gern allein, und bisweilen plagten ihn Verlustängste. «Es kostete mich zum Beispiel eine viel grössere Überwindung als meine Frau, unseren jüngeren Sohn zum ersten Mal allein die grosse Hauptstrasse überqueren zu lassen», erinnert er sich.
Vjollca Dalipi litt stark unter der Trennung ihrer Eltern. Einer Trennung, die sie teilweise auch auf deren jugendliches Alter zurückführt. «Meine Eltern wurden ein Paar, als meine Mutter 16 war, doch in den Jahren bis 25 verändert man sich extrem. Es ist logisch, dass man sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt», sagt sie.
Sie habe sich immer nach einer kleinen, intakten Familie gesehnt, wie sie es von ihren Freunden kannte. Vor allem in der Pubertät vermisste sie den Vater, wollte zeitweise sogar zu ihm nach Mazedonien ziehen. «Ich stellte meine Mutter auf eine harte Probe in dieser Zeit», sagt sie rückblickend.
Dennoch: Für Vjollca Dalipi überwiegen die Vorteile früher Mutterschaft. «Ich wollte selber auch nicht zu lange warten, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass es toll ist, eine unkomplizierte Mutter voller Energie zu haben.»
Der beste Beweis dafür, dass auch dann etwas aus einem werden kann, wenn die Unterstützung fehlt, ist Dragana Ilic. «Meine Mutter hat mich nicht gefördert, wenn ich schulisch etwas erreichen wollte, im Gegenteil, sie hat mich sogar gebremst und fand es zum Beispiel völlig unnötig, dass ich die Prüfung für das Gymnasium mache. Doch ich habe gelernt, dass man sein Schicksal selber in die Hand nehmen muss, wenn man etwas erreichen möchte», sagt sie. Jetzt steht die gelernte Pflegefachfrau kurz vor ihrem Abschluss mit einem Bachelor.
*Name geändert