Wer zahlt wie viel für Pflege?
Die Pflegekosten sollen neu verteilt werden – ein Entwurf dazu ist gemacht. Doch Krankenkassen, Kantone, Heime und Spitex streiten noch darüber, wer was berappen muss. Und die Pflegebedürftigen wissen noch nicht, ob sie zu den Gewinnern oder Verlierern gehören.
Veröffentlicht am 30. März 2009 - 19:15 Uhr
Manfred Prassl, Gesamtleiter im «Haus Tabea» im zürcherischen Horgen, fühlt sich ständig von einer gerichtlichen Verurteilung bedroht, wenn er an die Finanzierung der Pflegekosten denkt. «Wir brauchen endlich eine saubere Regelung», sagt er. Was ihn plagt, ist ein gesetzeswidriger Zustand, der fast schon zur Normalität geworden ist. Das Krankenversicherungsgesetz verlangt, dass die medizinische Grundpflege in Heimen und bei der Spitex voll durch die obligatorische Krankenversicherung bezahlt wird. Der Bund hat aber die Pflegetarife derart unrealistisch tief festgesetzt, dass sie die Kosten nicht decken.
Zum Ausgleich der Differenz wird vor allem bei den Pflegebedürftigen kassiert, oder – via Ergänzungsleistungen und Defizitbeiträge – bei Kantonen und Gemeinden. Laut Statistik entrichten die Heimbewohner für die Pflege 3,1 Milliarden Franken, fast die Hälfte der Gesamtkosten – ohne die Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung (Zahlen für 2006; siehe Grafik). Pro Pflegefall macht das oft mehrere zehntausend Franken im Jahr aus.
Im letzten Sommer rang sich das Parlament nach schier endlosem Hickhack zur «Neuordnung der Pflegefinanzierung» durch, wie die Legalisierung des langjährigen Provisoriums politisch umschrieben wird. Demnach sollen die Krankenkassen wie heute für etwa 55 Prozent der Pflegekosten aufkommen. Der Beitrag der Pflegebedürftigen wird begrenzt: Sie sollen maximal 20 Prozent des höchsten Kassenbeitrags leisten, den der Bundesrat für Heim und Spitex festlegt; nach Verordnungsentwurf sind dies für Heimbewohner knapp 7500 Franken pro Jahr. Die Restkosten haben Kantone und Gemeinden zu tragen.
Was bedeutet die neue Regelung für die Pflegebedürftigen? Heimbewohner werden entlastet. Am meisten die «Vollzahler», die bisher ausser den Leistungen der Krankenkassen alles selber berappen. Wer Ergänzungsleistungen bezieht, profitiert von höheren Vermögensfreibeträgen: 37'500 Franken für Alleinstehende und 60'000 Franken für Ehepaare. Der Freibetrag für selbstbewohnte Liegenschaften bei Ehepaaren wird zudem auf 300'000 Franken erhöht, wenn eine Person im Heim ist oder zu Hause Hilflosenentschädigung bezieht.
Generell teurer wird es hingegen für Spitex-Klienten. Bis heute müssen sie sich nur im Rahmen von Franchise und Selbstbehalt ihrer Krankenkasse an den Pflegekosten beteiligen. Nach der neuen Verordnung soll ein genereller Beitrag an die Leistungen der Spitex hinzukommen – der Entwurf sieht hier maximal 16 Franken pro Stunde vor.
Ende März ist die Vernehmlassung zum Entwurf der Krankenpflege-Leistungsverordnung abgelaufen, und bereits ab 1. Juli 2009 soll die neue Regelung gelten. Santésuisse, der Dachverband der Krankenversicherer, pocht darauf, diesen Termin einzuhalten. «Eine spätere Ansetzung würde die Rechtssicherheit der Vertragspartner gefährden», argumentiert Kommunikationschef Paul Rhyn. Er verweist auf die rechtlich heikle Situation beim Tarifschutz: Dieses Instrument hat die Krankenkassenleistungen auf fixe Beträge je nach Pflegebedürftigkeit beschränkt, ist aber Ende 2008 ausgelaufen. Ansonsten wertet der Santésuisse-Sprecher die neuen Krankenkassenbeiträge an Pflegeheime als «vernünftig». Die bundesrätliche Verordnung sieht zwölf zeitlich abgestufte Pflegebedarfsstufen von Fr. 8.50 bis Fr. 102.− pro Tag vor.
Ob das neue Regime allerdings so schnell in Kraft tritt, ist fraglich, denn hinter den Kulissen hat ein heftiges Gefeilsche ums Geld eingesetzt. So müssten etwa nach Berechnungen von Curaviva Zürich, dem kantonalen Dachverband der Heime, die Beiträge der Krankenkassen um bis zu 24 Prozent höher sein. Da sich der Kostenanteil der Heimbewohner am höchsten Beitrag der Kassen orientiert, würden bei einer solchen Kalkulation aber auch die Pflegebedürftigen entsprechend stärker belastet – mit bis zu rund 10'000 Franken pro Jahr.
Umstritten ist ferner, welche Vollkosten von den Kantonen akzeptiert werden. Heute gibt es Heime, die in der höchsten Pflegestufe pro Tag 350 Franken und mehr verlangen – zu viel für die Kantone. Mit in diese Rechnung fliesst die Frage ein, wo die Grenze zwischen Pflege und Betreuung in Heimen und bei der Spitex liegt. Auch hier ist noch vieles offen: Wenn beispielsweise einem Heimbewohner mit Schluckbeschwerden das Essen langsam eingegeben werden muss – wie viel dieser Zeit ist bezahlte Pflege? Und was gilt als Betreuung?
Die Unterscheidung ist deshalb wesentlich, weil die Posten Unterkunft, Verpflegung und Betreuung voll zu Lasten der Heimbewohner und Spitex-Klienten gehen.
Kräftig auf die Bremse tritt Semya Ayoubi, Projektleiterin bei der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK). «Die vorgeschlagenen Beiträge der Krankenversicherer sind um rund 260 Millionen Franken zu tief», sagt sie und fordert: «Die Kantone müssen auch die Kompetenz erhalten, die vollen Pflegekosten der Leistungserbringer normativ festzulegen.» Angesichts der vielen noch strittigen Punkte beantragt die GDK, die neue Pflegefinanzierung frühestens auf den 1. Januar 2011 einzuführen – pünktlich zum 15-Jahr-Jubiläum des Krankenversicherungsgesetzes, das einst die Übernahme aller Leistungen in der Grundpflege versprach.
Für sie ändert sich nichts: Elsa Schmid, leichter Pflegefall
Die 95-jährige Elsa Schmid lebt seit über zehn Jahren im «Haus Tabea», einem privaten Altersheim nahe dem Dorfzentrum von Horgen mit Platz für 85 Bewohner. Für das Gespräch hat sie sich schick gemacht. Ihre Stimme hat mit dem Alter an Klangfülle verloren, doch was sie sagt, beeindruckt: «Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Wenn ich zurückblicke, bin ich dankbar.»
Die betagte Frau stammt aus bescheidenen Verhältnissen, hat ihren Vater früh verloren und musste mit ihrer Schwester schon als Kind mit anpacken. «Damals gab es noch keine AHV.» Elsa Schmid arbeitete in einer Stickerei, dann als Dienstmädchen, später auch in einer Haushaltshilfe-Organisation. «Ich habe viel erlebt, war nie reich, aber meist zufrieden.» Ihr Zimmer ist angefüllt mit Erinnerungen – Fotos, Bilder, Souvenirs, persönliche Gegenstände, die alle ihre Geschichten erzählen. Auf dem Bett liegt die NZZ, die sie regelmässig liest, «ausser dem Sportteil».
Elsa Schmid ist weitgehend selbständig und braucht nur die niedrigste Pflegestufe. Sie lobt das Personal, das Essen und das Programm im «Haus Tabea»: «Wir haben es gut hier», sagt sie. Um die Finanzierung muss sie sich keine Sorgen machen. Dank AHV und Ergänzungsleistungen sind ihre Heimkosten für Wohnen, Betreuung und Pflege von monatlich rund 4500 Franken gedeckt. Gut 600 Franken werden von der Krankenkasse vergütet.
Für Elsa Schmid wird sich mit der neuen Pflegeversicherung nichts ändern. Übernehmen der Kanton und die Gemeinde einen Teil der Pflegekosten, benötigt sie weniger Ergänzungsleistungen – wer nichts übrig hat, den kann man nicht mehr belasten.
Für sie wird es teurer: Doris und Fred Oesch, Spitex-Klienten
Wie es ihr gehe, will der Journalist von Doris Oesch wissen. Die 62-Jährige, zu Hause in Rüfenacht BE, beugt sich auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer leicht nach vorne und antwortet offen: «Mittelmässig.» Es ist ein Dienstag und damit der entspanntere Teil ihres Alltags. An diesem und einem weiteren Tag pro Woche wird ihr Mann Fred in einer Tagesstätte betreut. Der pensionierte Maschineningenieur leidet an Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium. Vor vier Jahren wurde die unheilbare Krankheit, die langsam das Hirn zerstört, beim heute 70-Jährigen diagnostiziert.
Doris Oesch legt ein Kästchen auf den Tisch. Es ist unterteilt in 28 kleine Fächer – vier für jeden Tag. In die Abteile sind die 25 Pillen eingefüllt, die Fred Oesch über den Tag verteilt schlucken muss. Kürzlich hat er seine ganze Morgenration in den Kaffee gerührt. «Ich muss ständig auf alles gefasst sein», erzählt seine Frau. 41 Jahre sind die beiden miteinander verheiratet, haben drei Töchter grossgezogen – und heute kennt Fred seine Doris nicht mehr. Er fragt jeden Tag nach ihrem Namen, hält sie an der Hand und möchte sie gerne zur Freundin haben. «Anfänglich bricht dir das fast das Herz. Heute kann ich es mit Humor nehmen», erzählt Doris Oesch.
Sie musste lernen, den Zerfall ihres Partners zu akzeptieren. Nach einer Erschöpfungsdepression vor einem Jahr nimmt sie nun Hilfe von anderen an: «Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr. Mein Leben geht weiter. Wir dürfen uns nicht von der Krankheit des Partners auffressen lassen.»
Mühe hat sie damit, dass die Angehörigenpflege in unserem Gesundheitssystem so wenig zählt. Die Krankenkasse übernimmt aktuell 75 Spitex-Stunden pro Quartal für die tägliche Pflege sowie einmal pro Woche die Physiotherapie und anderthalb Stunden Aufenthalt in einer Spezialklinik. Fred Oesch erhält Hilflosenentschädigung von 570 Franken pro Monat. Den Aufenthalt in der Tagesstätte, den Fahrdienst und die Spitex-Entlastung im Haushalt bezahlen die Oeschs aus dem eigenen Sack – jeden Monat zwischen 1200 und 1500 Franken. Sie greifen auf Erspartes zurück.
Wird nun die neue Pflegefinanzierung eingeführt, zahlen Spitex-Kunden neu auch noch einen Anteil an den reinen Pflegekosten – maximal 20 Prozent des höchsten vom Bundesrat festgesetzten Pflegebeitrags. Laut Verordnung wären dies rund 16 Franken pro Spitex-Stunde, was für Fred Oesch aufs Jahr gerechnet zusätzlich 4800 Franken ausmachen würde. Doris Oesch schüttelt den Kopf: «Da ist das letzte Wort hoffentlich noch nicht gesprochen.»
Für sie wird es günstiger: Christoph und Agathe Eggenberger, «Vollzahler»
Christoph Eggenberger, 81, steht im Pflegeheim Werdenberg SG am Bett seiner Frau Agathe, 84. Er hält sie an der Hand und macht sich Sorgen: «Bis vor wenigen Tagen haben wir in einer 2½-Zimmer-Wohnung in einem privaten Pflegeheim gelebt. Das geht nun leider nicht mehr.» Agathe hatte sich ihr heiteres Gemüt bewahrt, trotz zwei Stürzen mit einer Gehirnerschütterung und dem Bruch des Oberschenkelhalses. Doch jetzt ist ihr Zustand innert kurzer Zeit schlechter geworden. Sie braucht nun ständige Pflege.
Bisher hatte ihr Mann den Grossteil der Betreuung übernommen. Der Senior, früher leitender SBB-Angestellter, spürt zwar auch die Jahre – «die Gelenke rosten ein» –, kochte aber jeden Tag, half seiner Frau beim Essen, unterhielt sie und besorgte grösstenteils den Haushalt. Nun wird er die Wohnung kündigen und voraussichtlich ins Altersheim in Agathes Nähe ziehen.
Haus und Boden musste das Paar verkaufen, um sich das Leben in der betreuten Alterswohnung überhaupt leisten zu können. Eggenbergers sind sogenannte «Vollzahler». Was das heisst, zeigt ein Blick auf die monatliche Rechnung: Obwohl das private Pflegeheim Christoph Eggenberger fürs Kochen und die Betreuung einen Abzug gewährte, blieben trotz Hilflosenentschädigung und dem Beitrag der Krankenkasse noch Kosten von rund 6400 Franken. Neu wird es mit Pflege- und Altersheim noch um rund 3000 Franken teurer pro Monat. Die Rente reicht bei weitem nicht aus – das Vermögen wird «verpflegt».
Das neue Modell wird Vollzahler wie die Eggenbergers spürbar entlasten. Aktuell bezahlen sie jährlich knapp 37'000 Franken an reinen Pflegekosten. Künftig werden es noch 20 Prozent des höchsten Pflegebeitrags der Krankenversicherung sein, was in Heimen gemäss Verordnungsentwurf 7446 Franken pro Jahr ausmacht. Ersparnis: rund 30'000 Franken pro Jahr.
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