Mitleid ist oft fehl am Platz
Kinder, die man immer schont, werden geschwächt und gewöhnen sich so an eine Opferrolle. Besser ist es, seinen Sprössling sensibel zu begleiten und ihm einiges zuzutrauen. Das macht ihn stark fürs Leben.
Veröffentlicht am 13. April 2010 - 09:06 Uhr
Zu Hause müssen sie keinen Finger rühren. Und Regelverstösse haben kaum Folgen für sie. «Schliesslich», so entschuldigen sich dann die Eltern, «fordert die Schule unser Kind schon genug, da können wir nicht auch noch andere Dinge von ihm verlangen.»
Bereits früh gibt es genügend Gründe, weshalb ein Kind in den Augen der Eltern als «armes Kind» gilt: weil es oft krank ist, weil beide Eltern ständig arbeiten müssen oder weil es ein Einzelkind ist.
Eltern, die sensibel auf Bedürfnisse und Fähigkeiten ihrer Kinder achten, sind gute Eltern. Besonders dann, wenn sie versuchen, die Perspektive ihres Sprösslings einzunehmen. Dann merken sie etwa, dass es ein Einjähriges überfordern kann, wenn es in einem vollen Einkaufszentrum oder auf dem Rummelplatz zu vielen Reizen ausgesetzt ist und meiden deshalb vorerst solche Plätze. Es ist ebenfalls sinnvoll, später auf Über- oder Unterforderung, Mobbing oder Frust in der Schule zu achten. Und dabei die Ursachen für ungenügende Leistungen, vergessene Hausaufgaben, mangelnde Motivation herauszufinden. Druck wirkt da meist kontraproduktiv. Besser ist es, sein Kind ernst zu nehmen und mit ihm gemeinsam Lösungen zu finden.
Problematisch wird es aber dann, wenn man die Haltung einnimmt, sein Kind sei grundsätzlich benachteiligt und müsse ständig beschützt werden. Wer nichts von ihm fordert, sondern ihm alles abnimmt, raubt ihm die Chance zu zeigen, was in ihm steckt. Ein Kind, das erlebt, dass es vor allem in der Opferrolle Beachtung und Zuwendung bekommt, wird diese Strategie womöglich über Jahre hinweg anwenden. Gut möglich, dass es so von anderen als schwach, hilflos und angreifbar wahrgenommen wird. Es wird ihm ausserdem schwerfallen, aus eigener Kraft Dinge zu erreichen, die es sich zum Ziel gesetzt hat.
Ob ein Mensch eher optimistisch oder pessimistisch durchs Leben geht, zeigt sich bereits vor Beginn der Pubertät. Stärken Sie deshalb Ihr Kind, indem Sie es von klein auf ermutigen, vieles selber zu machen und Neues auszuprobieren. Trauen Sie ihm etwas zu, und Sie werden sehen, wie schon bei kleinen Erfolgserlebnissen sein Selbstvertrauen wächst. Und wie es lernt, mit Misserfolgen klarzukommen.
Wie aber soll man mit einem Kind umgehen, das denkt, es sei dumm, langweilig, ungeschickt? Reframing nennt sich eine Technik, die eher unvorteilhafte Charakterzüge ins Positive umformuliert. Das Prinzip ist einfach: Wer langsam ist, ist dafür genussfähig, kann sich auf eine Sache einlassen. Wer ständig Sprüche klopft und alles kommentiert, hat die Begabung, Situationen rasch zu erfassen und Komik in Worte zu packen oder Tabus offenzulegen. Wenn auch nicht immer angebracht, erfordert dies zumindest eine Portion Mut.
Nicht jede Schwäche lässt sich in eine Stärke umdeuten. Aber bei jedem Kind lässt sich etwas finden, worin es talentiert ist. Manchmal sind es Eigenschaften, die für das spätere Leben wichtiger sind als für die Schule. Sie machen in jedem Fall jedes Kind zu etwas Besonderem, das mehr verdient hat als nur Mitleid.