Beobachter: Sie erforschen eines der intimsten Geheimnisse unseres Landes: das Geld. Was interessiert Sie daran so sehr?
Isabel Martínez: Verteilungsfragen waren schon zu Hause ein Thema. Warum kommen Leute dorthin, wo sie hinkommen, und andere nicht? Für mich als Forscherin zu Verteilungsfragen sind die Reichen spannend. In allen entwickelten Ländern spielt die Musik ganz oben.


Vor Ihnen hat noch niemand die Steuererklärungen einer Mehrheit der Einwohner analysiert. War das tabu?
Nein, das Problem ist der Datenzugang. Wer zu den Vermögensverhältnissen forscht, braucht die Steuerdaten der Kantone. Der Bund weiss zu wenig dazu. Man muss bei jedem Kanton die Klinken putzen gehen.

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Sie haben einen gigantischen Datenschatz geborgen. Der zeigt: Die 500 meistverdienenden Steuerzahler erhalten immer mehr, der Rest aber nicht weniger.
Der Einkommenskuchen wächst, aber der Zuwachs geht besonders an die 500 bestbezahlten Personen. Sie bekommen ein immer grösseres Stück des Kuchens. Der Rest der Bevölkerung wird zwar nicht ärmer, aber er bekommt wenig vom Produktivitätsgewinn der Wirtschaft.


Bei den Einkommen ist in der Schweiz die Ungleichheit in den letzten 30 Jahren aber praktisch unverändert geblieben.
Die 500 Topverdiener sind bloss 0,01 Prozent aller Steuerzahler. Der Gesamteffekt ist deshalb klein. Niemand bemerkt, wenn UBS-Chef Sergio Ermotti das Doppelte verdient, dennoch wirft es Verteilungsfragen auf. An wen geht die zusätzliche Wertschöpfung einer Firma? Hauptsächlich an die ganz oben?


Warum sind die Vermögen viel ungleicher verteilt als die Einkommen?
Das Einkommen ist ein Fluss, das Vermögen klebrig wie ein Caramel. Vermögen ist in jeder Gesellschaft ungleicher verteilt als das Einkommen, weil es die Bilanz der jährlichen Einnahmen darstellt. Wer über Ungleichheit spricht, muss deshalb Vermögen und Einkommen zusammen betrachten.


Sie haben die Jahre 2003 bis 2012 untersucht. Ist die Ungleichheit bei den Vermögen gewachsen?
Sie ist grösser geworden. Die Vermögen waren bereits 2003 sehr ungleich verteilt. Da sie seither oben am meisten gewachsen sind, hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert.


Die reichsten zehn Prozent besitzen 72,4 Prozent des Vermögens. Das sind Verhältnisse wie in den USA. Wie kommt das?
Im internationalen Vergleich sind die Vermögen auf den ersten Blick sehr ungleich verteilt. Berücksichtigt man die Vorsorgevermögen der zweiten und dritten Säule, fällt der Anteil der Reichsten aber um bis zu zehn Prozentpunkte. Die Schweiz ist kapitalfreundlich, eine Erbschaftssteuer gibt es nicht. Viele Vermögende sind aus Steuergründen hierhergezogen.


Die Ärmsten steckten in einer Vermögensfalle, schreiben Sie in Ihrer neusten Studie. Haben sie in der Schweiz keine Aufstiegschance?
Die Wahrscheinlichkeit, arm zu bleiben, ist im untersten Fünftel der Schweizer Vermögenspyramide gross. 43 Prozent der Ärmsten zählen auch zehn Jahre später noch zu den Ärmsten.


Was bedeutet das für unser Vorsorgesystem?
Die ökonomischen Ungleichheiten, die während eines Arbeitslebens entstehen, bestehen im Alter weiter. Bei den Pensionskassen hat der reichste Fünftel beinahe ein viermal so grosses Altersguthaben wie der ärmste Fünftel. Die zweite und die dritte Säule vergrössern die Ungleichheit tendenziell, sie helfen Armen kaum.


Wer sehr vermögend ist, bleibt es auch. Nur 5,6 Prozent sind in zehn Jahren aus den obersten zehn Prozent herausgefallen. Müssen die Reichsten den Tod mehr fürchten als Armut?
Wahrscheinlich schon. Die meisten Superreichen, die aus dem Top-Prozent fallen, bleiben unter den top zehn Prozent. Superreiche werden selten arm. Die Wahrscheinlichkeit, dass Arme in den Mittelstand aufsteigen, ist grösser als die Wahrscheinlichkeit, dass Superreiche verarmen. Eigentlich eine gute Nachricht.


Ist in der Schweiz Abstammung bestimmender als Leistung?
Das kann ich hoffentlich in einem Jahr beantworten. Wir arbeiten an einer Studie dazu.


Dieses Jahr werden geschätzte 95 Milliarden Franken vererbt. So viel wie noch nie. Wie wirkt sich das aus?
In der Schweiz liegen wenig Studien dazu vor. Aus Schweden wissen wir, dass Erbschaften ausgleichend wirken auf die Vermögensverteilung, weil ein Erblasser sein Erbe meist auf mehrere Kinder verteilt. Aber nur in einer ersten Runde. Denn wer viel erbt, kann das Vermögen erhalten und verbraucht es nicht gleich für einen Autokauf oder anderen Konsum.


Wer nichts erbt, kann heute kaum noch Wohneigentum kaufen. Was ändert sich damit?
Immobilien haben in den letzten 20 Jahren stark an Wert gewonnen, nicht nur hier. Wer ein Haus an guter Lage besitzt, ist ohne Zutun reicher geworden. Steigende Immobilienpreise vergrössern die Ungleichheit. Das Vermögen der Hausbesitzer steigt, das der Mieter nicht. In der Schweiz besitzen nur zwei von fünf Steuerzahlern ein Haus, in Spanien etwa sind es vier von fünf.
 

«Nach Corona wird es für Firmen schwerer, sich gegen höhere Steuern zu wehren.»

Isabel Martínez, Ökonomin und ETH-Forscherin

Der Ökonom Thomas Piketty sagt, Wohlstand sei nicht mehr breit gestreut, sondern konzentriert. Geht das goldene Zeitalter des Mittelstands zu Ende?
Ich hoffe nicht. Die Zustände sind hier nicht so schlimm wie in den USA, bei uns sinken die tiefen Einkommen nicht. Aber die verfügbaren Einkommen des Mittelstands sind in den letzten 20 Jahren unter Druck gekommen. Die Abgabenlast durch Krankenkassenprämien ist gestiegen, Wohnen wurde teurer, Kinderbetreuung kostet viel. Das setzt dem Mittelstand zu. 


Ist die Chancengleichheit bedroht?
Wenn man sich Chancengleichheit wie ein Leiterlispiel vorstellt, dann wurde der Abstand zwischen den einzelnen Spielfeldern mit Aufstiegsmöglichkeit grösser, weil die Ungleichheit grösser geworden ist. Es kann schwieriger sein, auf die nächsthöhere Stufe zu kommen.


Wird mit der Coronakrise die Frage der gerechten Besteuerung an Brisanz gewinnen?
Bisher bezog sich die Umverteilungsdebatte stark auf Menschen. In der Coronakrise haben sehr viele Unternehmen plötzlich gemerkt, dass sie auf Hilfe vom Staat angewiesen sind. Keine Versicherung deckt das alles ab. Den Firmen wird es deshalb in Zukunft schwerer fallen, gegen höhere Steuern zu argumentieren. Ich gehe davon aus, dass höhere Unternehmenssteuern für Grosskonzerne europaweit ein Thema werden.


Sie sagten, Steuern könnten progressiver sein. Sollen die oben mehr für die unten abgeben?
Das ist eine politische Frage, die sich nicht ökonomisch beantworten lässt. Ich weise lediglich auf zwei Punkte hin. Erstens hat die Ungleichheit zugenommen. Zweitens hat die Steuerbelastung der Reichen abgenommen. Der effektiv bezahlte Steuersatz bei Einkommen über einer Million Franken sinkt, auch weil Reiche systematisch in Tiefsteuergemeinden umziehen.


Die Politik diskutiert meist die Ungleichheit der Löhne. Gingen die Vermögen vergessen?
Nein, wir haben vor fünf Jahren über eine Erbschaftssteuer abgestimmt. Da ging es um Vermögen. Die 99-Prozent-Initiative der Juso, die bald zur Abstimmung kommt, hat auch die Vermögen im Visier. Die Schweiz ist aber eines der wenigen Länder, die Vermögen überhaupt noch besteuern, wenn auch zu tiefen Sätzen.

Zur Person

Isabel Martínez, Ökonomin und ETH-Forscherin

Die promovierte Ökonomin Isabel Martínez, 34, forscht an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich über Verteilungsfragen. Die Bernerin gehört dem internationalen Forschungsnetzwerk des Ökonomen Thomas Piketty an, das eine Weltungleichheitsdatenbank aufbaut: WID.world.

Quelle: Florian Bachmann
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