«Das Albani ist ein Zufluchtsort, ein Daheim»
Der Lieblingsclub soll verkauft werden, da kaufen ihn die Gäste halt selbst: Innert zwei Wochen sammelte der Winterthurer Musikclub Albani eine halbe Million Franken.
Veröffentlicht am 17. Dezember 2020 - 16:53 Uhr
Dieser Beitrag ist Teil unserer Artikelserie «Was 2020 sonst noch geschah – 12 Geschichten über erfreuliche Entwicklungen». Alle Artikel der Serie finden Sie am Ende dieses Artikels oder hier.
Beobachter: Was ist das Albani für Sie?
Roland Mages: Eine Marke, ein Treffpunkt, schon seit ewig, immer noch und bleibt es weiterhin.
Justus Schmitz-Hübsch: Mein älterer Bruder verkehrte hier oft, als Gymischüler hat es mich dann auch hierhin verschlagen. Ich machte hier meine ersten Ausgangs- und Konzerterfahrungen, das verbindet. Das Albani ist ein Stück Heimat.
Olivia Staub: Ein Zufluchtsort, ein zweites Daheim, meine zweite Familie.
Das sehen die Besucherinnen und Besucher offensichtlich auch so. Innert zwei Wochen haben über 2500 Gäste mehr als 500'000 Franken gespendet. Überrascht?
Olivia Staub: Ich bin stolz, die ganze Stadt kann stolz sein! So viel Geld in so kurzer Zeit, wir waren überwältigt. Mich hat beeindruckt, dass die Leute im Schnitt 250 Franken gespendet haben, das ist ein sehr hoher Betrag. Es gab viele schöne Geschichten, viele kamen auf uns zu und erzählten, wieso sie gespendet haben.
Und wieso haben sie gespendet?
Justus Schmitz-Hübsch: Weil sie sich hier kennengelernt oder verliebt haben. Weil das Albani für sie immer ein sicherer Hafen war.
Olivia Staub: Ein alter Mann kam zum Beispiel eines Tages in die Bar und streckte mir eine 1000er-Note entgegen, sagte, das sei von ihm und seinen Freunden, die nicht mehr lebten. Wir sollten weitermachen und schauen, dass alles so bleibt, wie es ist.
Roland Mages: Andere versteigerten ihre Kunstwerke oder Töffli und gaben uns den Erlös. Auch Cafés hier in der Nähe spendeten 50 Rappen pro verkauften Kafi, eine sehr schöne Geste. Sie sind ja eigentlich unsere Konkurrenten.
Justus Schmitz-Hübsch: Auch andere Kulturinstitutionen wie die Musikfestwochen oder das Gaswerk haben uns unterstützt, die Solidarität war wirklich enorm. Für die Schweizer Musikszene ist das Albani sehr wichtig.
Eine Immobilienfirma aus der Innerschweiz bot 3,3 Millionen Franken für das Albani. Der Schätzpreis lag deutlich tiefer. Ein Schock?
Roland Mages: Wir waren überrumpelt, dass alles so schnell ging. Ich bin enttäuscht über unsere Vermieter. Die Vertreter der Immobilienfirma habe ich selbst durchs Gebäude geführt. Ich fand sie unsympathisch und arrogant. Das gab uns den Anschub: Diese Leute sollen unser Bijou nicht kriegen.
Olivia Staub: Es ist eine Art Bewegung entstanden. Dass sich so viele für das Albani eingesetzt haben, ist ein starkes Zeichen. Die Leute haben genug davon, dass Herzblut-Betriebe der Gentrifizierung zum Opfer fallen. Ausserdem war es eine schöne Geschichte, an der man sich festhalten konnte – nach der Zeit, in der Corona die News dominiert hat.
Justus Schmitz-Hübsch: Statt auf die Fallzahlen des BAG starrten wir auf unser Spendenbarometer. Nach 24 Stunden stand es auf 130'000 Franken. Die Leute haben in diesen Zeiten gemerkt, wie wichtig die Kultur für ihr Leben ist, wenn plötzlich fast alle Betriebe geschlossen sind.
Die vielen Spenden bedeuten auch viel Verantwortung. Wie gehen Sie damit um?
Roland Mages: Es ist eine grosse Bestätigung für den Club und seine Vielfältigkeit. Wir wollen seine Seele erhalten und verstehen das als Auftrag, weiterzumachen wie bisher.
Wie geht es nun weiter?
Olivia Staub: Das Haus gehört uns. Wir gründen eine eigene Immobilienfirma für die Liegenschaft. Der Verein Albani ist Hauptaktionär. Die Personen, die sich am Kauf beteiligt haben, halten die übrigen Aktien.
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