Frauen auf der Flucht
An einem geheimen Ort in Zürich finden Mütter und Kinder Schutz, wenn sie zu Hause geschlagen werden. Doch viele kehren zurück zu ihrem Peiniger.
Veröffentlicht am 12. März 2012 - 09:30 Uhr
Wenige Schritte reichen, um das ganze Dilemma des Frauenhauses Violetta zu ermessen. Es beginnt bei der massiven Haustür: ohne Namensschild, von aussen kameraüberwacht, von innen verriegelt durch mehrere Sicherheitsschlösser. Das ist die eine Realität. Ein paar Meter weiter hinten, im Büro, hängen aus Papier gefaltete Kraniche von der Decke, mindestens 20 Stück. Sie wirken zerbrechlich und leicht, als hätte jemand die eigene Sehnsucht gefaltet. Das ist die andere Realität.
Im Frauenhaus Violetta in Zürich finden Mütter und ihre Kinder Schutz, wenn sie zu Hause psychische, sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren. Mit Giebeldach und Fensterläden sieht es aus wie ein ganz normales Einfamilienhaus. Aber es ist gesichert wie ein Bunker, weil es Männer gibt, die sonst eindringen und wüten und morden würden. Es soll aber auch ein Ort der Geborgenheit und Zuversicht sein, eine «Insel des Friedens», wie Amina* sagt, die hier als Frauenbetreuerin arbeitet. Gewalt und Frieden – das sind die zwei Realitäten, das ist das Dilemma, das die Frauen, die hier wohnen und arbeiten, aushalten müssen.
Ein Donnerstagnachmittag, Schichtwechsel. Amina übernimmt von ihrer Kollegin. Sie arbeitet seit vielen Jahren im «Violetta». Sie ist streng und trotzdem voller Witz. Wie ihr Lidstrich, schwer und schwarz, doch am äusseren Augenrand endet er in einem neckischen Schwung. Die beiden Frauen haben sich Kaffee gekocht, naschen Jumbo-Datteln, die so süss sind, dass Amina bei jedem Bissen die Augen schliesst. «Lena hat Alpträume.» – «Nimmt sie Antidepressiva?» – «Nächste Woche hat sie einen Termin bei der Psychologin.» – «Bekommt sie das Auto?» – «Das Sozialamt sagt ja. Sie ist zu gefährdet, um mit ÖV zu fahren.» Lena, eine 35-jährige Schweizerin, kam mit ihrer dreijährigen Tochter vor einer Woche ins Frauenhaus. Das erste Mal rastete ihr Mann aus, als sie sich scheiden lassen wollte. Das ist zweieinhalb Jahre her, seitdem lässt er sie nicht in Ruhe, immer wieder kreuzt er plötzlich bei Mutter und Kind auf und prügelt. Er ist untergetaucht, niemand weiss, wo er ist, wann er das nächste Mal zuschlägt. Seine letzte SMS an Lena: «Ich finde dich und werde dich töten.»
Bevor sich Amina um den Frieden kümmern kann, muss sie auf die Gewalt reagieren. Ihr wichtigstes Mittel sind die Beratungsgespräche. In der ersten Woche führt sie fast täglich solche mit Lena. Sie hört einfach mal zu, signalisiert, dass sie Lena glaubt, dass sie auf ihrer Seite steht. «Das beruhigt und stabilisiert.» Und wenn Lena ruhiger geworden ist, bespricht Amina mit ihr die nächsten Schritte. Sie stellt sicher, dass die kantonale Opferhilfestelle den Aufenthalt im Frauenhaus bezahlt. Sie organisiert Termine bei einer Ärztin, einer Psychologin und einer Scheidungsanwältin. Sie hilft Lena, Anzeige gegen den Ehemann zu erstatten. Administration: Auch das ist ein wichtiges Mittel gegen die Gewalt.
Dann beginnt die Friedensarbeit. Es geht darum, das Selbstbewusstsein der misshandelten Frauen zu stärken, ihnen ihre Rechte vor Augen zu führen. «Empowerment» nennen das die Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen, die im «Violetta» arbeiten. «Die Frauen sollen hier rausgehen mit der Erfahrung, wie sich Ruhe und Geborgenheit anfühlen könnten. Viele wissen das nicht, hatten noch nie ein normales und gewaltfreies Leben. Die Frauen sollen wissen, dass sie etwas wert sind. Das möchte ich ihnen mitgeben», sagt Amina.
Donnerstagabend, Adeleke kocht Abendessen für die Bewohnerinnen und das Team. Sie ist 27, stammt aus Togo und kam vor zwei Tagen mit ihren fünf Kindern ins Frauenhaus. Ihr Mann hatte die Angewohnheit, auf Adelekes Kopf einzutreten und dabei zu rufen: «Ich bin dein Gesetz, du bist in meiner Hand.» In der Küche herrscht Chaos, die Kinder verteilen Chips und Salzstangen auf dem Boden, ungewaschene Töpfe stehen herum, auf dem Herd kocht das Wasser für die Spaghetti über. Mittendrin Adeleke, unbeweglich, wie eingefroren, völlig überfordert mit der Situation. Amina kommt in die Küche, schaut Adeleke an, bis diese den Kopf hebt und zurückschaut, dann lächelt Amina, lächelt, bis Adeleke zurücklächelt. «Mhm, das riecht gut, was du hier kochst», sagt Amina. «Ich freu mich schon aufs Essen!»
Später erzählt Adeleke in ihrem schlechten Deutsch, wie sie ihrem Mann nie etwas recht machen konnte. «Er immer Kopf schlagen.» Sie sagt das schnell, ohne aufzublicken.
Das «Violetta» ist voll von solchen Gewaltgeschichten. Im Spielzimmer, im Keller des Hauses, malen die Kinder die Geschichten in bunten Farben aufs Papier, riesige Wesen mit aufgerissenen Mäulern und Zähnen wie Felsspitzen. Im Raucherzimmer im ersten Stock erzählen sich die Mütter die Geschichten, inhalieren dabei so tief, dass sie husten müssen. Im Büro füllen die Geschichten eine Wand voll Aktenordner. Manchmal strahle diese Wand eine solche Kälte aus, dass sie Gänsehaut bekomme, sagt Amina.
Es gibt Menschen, die glauben, dass diese Gewaltgeschichten Amina und ihre Kolleginnen zu Männerhasserinnen machen. Dass Frauenhäuser Orte sind, wo «Männerhass geschürt wird», wie die Interessengemeinschaft Antifeminismus behauptet. Wo böswillig daran gearbeitet wird, den Männern ihre Kinder zu nehmen, wie der Verein «Kinder ohne Rechte» unterstellt. Beide Organisationen forderten letztes Jahr unter grossem Medientrara die Abschaffung der 18 Frauenhäuser in der Schweiz. Und, falls das nicht gelingen sollte, zumindest die Veröffentlichung der geheimen Adressen. Vor kurzem wies ein Gericht dieses Anliegen ab.
«Jaja», sagen die Frauen, die im «Violetta» arbeiten, und sie lachen wie über einen abgestandenen Witz. Tatsächlich sind die Frauenhäuser in der Schweiz angesehene Institutionen, an deren Bedeutung niemand mehr ernsthaft zweifelt. «Das sind Vorurteile von vorgestern», sagen die Frauen. Sie ärgern sich nicht einmal. Das wäre ein billiger Friede, einfach die Männer zu verteufeln. Und es wäre eine Qual für die Frauen, die hierhin geflüchtet sind. «Viele sind ja noch so verliebt», sagt Amina. Einige wollen sich auch nicht scheiden lassen, weil sie Ausländerinnen sind und die Schweiz dann verlassen müssten.
Einmal wollte eine Frau zurück zu ihrem Mann, obwohl er sie und die zwölfjährige Tochter schlug. Amina machte eine Gefährdungsmeldung an die Vormundschaftsbehörde, damit diese die Familie im Auge behält. Sie organisierte einen Hortplatz, damit das Mädchen möglichst wenig zu Hause ist. Bevor die Mutter und die Tochter dann auszogen, gab sie dem Kind Adressen mit, wo es sich im Notfall melden kann. «Auch die Tochter wollte zurück. Sie hat so lange mit der Situation gelebt, für sie ist es normal. Für uns Aussenstehende ist es schlimm. Das ist manchmal schwer auszuhalten.»
Sie müssen es aushalten. Es gehört zum Mechanismus der Gewaltspirale, in der nichts eindeutig ist, in der die Opfer die Täter nicht einfach hassen, sondern von ihnen abhängig sind, sie lieben, zu ihnen zurückkehren. Der Friede, den Amina und ihre Kolleginnen meinen, ist kompliziert. Manchmal bereitet er Amina schlaflose Nächte, in denen sie sich sorgt und zu akzeptieren versucht, dass sie die Welt nicht besser machen kann, als sie ist. In der internen Supervision, in Gesprächen mit Fachleuten wie Traumatherapeuten kann sie über ihre Sorgen sprechen. Es gibt aber etwas, das ganz und gar eindeutig ist, an dem niemand rütteln darf: die Sicherheit des Frauenhauses selbst. Ohne die kameraüberwachte Tür, die Sicherheitsschlösser, ohne den «Bunker» gibt es keinen Frieden.
Freitagnachmittag, eine Frau ruft an. Der Mann hat die Kinder. Sie hat Angst, dass er sie für sich behält, dass sie sie nie mehr wiedersehen wird. Sie hat aber auch Angst, zur Familie zurückzukehren, weil sie vom Mann geschlagen wird. Sie weiss nicht, wohin. «Beruhigen Sie sich», sagt Amina. «Sie kommen jetzt erst einmal hierher, wir werden einen Weg finden.» Die Frau soll ein Taxi nehmen, Amina gibt ihr die Adresse eines Restaurants in der Nähe.
Die Frau steigt aus dem Taxi, blass, verstört, verheulte Augen. Amina bezahlt den Taxifahrer, nimmt der Frau den kleinen Koffer ab. Später im Büro macht sie der Frau einen Kaffee, schaut ihr lange in die Augen, bis sie erzählt. Memnune, 24, aus Mazedonien, verheiratet mit einem Landsmann, seit sieben Jahren in der Schweiz, zwei Kinder. Die Familie lebt bei den Schwiegereltern. Memnune darf keinen Deutschkurs machen, keinen Job annehmen, der Mann will das nicht. Sie hat kaum Kontakt zur Aussenwelt.
Amina hört zu, das richtige Aufnahmegespräch findet später statt, es geht jetzt nur darum, dass sich Memnune die Seele freiredet. Dann erklärt Amina die Hausordnung. Memnune muss das Handy abgeben, damit sie nicht geortet werden kann. Ihre Verwandten darf sie nur vom Haustelefon aus anrufen. Sie darf niemandem die Adresse verraten, sich mit niemandem in der Nähe des Hauses treffen. Wenn sie das Haus verlässt, muss sie in einer Liste eintragen, wohin sie geht, von wann bis wann. Amina gibt der Frau eine Karte mit der Notfallnummer der Polizei. «Die musst du immer bei dir tragen, hast du verstanden?»
Memnune ist erschöpft, ihr machen die Sicherheitsregeln Angst, weil sie ihr den Ernst der Lage wieder vor Augen führen. Sie schleppt sich hinter Amina die Treppe hoch in den Estrich, wo das Kleidungsdepot ist, Spenden von Geschäften und Privatpersonen. Memnune sucht einen warmen Pullover, eine Hose und einen Pyjama aus. Amina gibt ihr eine Zahnbürste, Zahnpasta, Duschgel und Finken, dann zeigt sie ihr das Zimmer. Ein frisch bezogenes Bett, ein Schrank, eine Kommode. Der Raum strahlt Einsamkeit aus. Memnune kommen beinahe die Tränen, sie erträgt diese Ruhe, diesen Frieden noch nicht.
Was, wenn es keine Frauenhäuser gäbe? Wo würden Lena, Adeleke und Memnune Schutz finden? Gut möglich, dass eine von ihnen nicht mehr lebte. Das Bundesamt für Statistik veröffentlichte vor sechs Jahren eine einmalige Sondererhebung zu den zwischen 2000 und 2004 registrierten Tötungsdelikten. Im Schnitt wurden pro Jahr 25 Frauen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt getötet – jeden Monat zwei. Das ist die oberste Spitze des Eisbergs. Darunter kommen all jene Frauen, die überleben. Allein in der Stadt Zürich musste 2010 die Polizei 368-mal wegen häuslicher Gewalt ausrücken, in 95 Prozent der Fälle waren die Täter Männer. Und dann kommt noch der grosse Rest des Eisbergs, den niemand sieht, der unter Wasser liegt, weil viele Frauen zu viel Scham oder Angst haben, sich bei der Polizei zu melden.
Wie lange wird es das «Violetta» und das zweite Frauenhaus in der Stadt Zürich, in dem Frauen ohne Kinder betreut werden, noch geben? Bedarf wäre da. 146 Frauen und 138 Kinder haben 2011 in beiden Häusern Schutz gesucht, 97 Frauen und 130 Kinder mussten Amina und ihre Kolleginnen aus Platzmangel sogar abweisen. Aber die Stiftung Frauenhaus Zürich, Trägerin der Institutionen, hat Geldprobleme. In den ersten drei Wochen, die eine Frau in einem der beiden Frauenhäuser verbringt, bekommt die Stiftung von der Opferhilfestelle zwar eine Tagestaxe von 185 Franken, und der Kanton beteiligt sich zusätzlich mit einem kleinen Staatsbeitrag. Das deckt die effektiven Kosten jedoch bei weitem nicht. Die letzten Jahre schloss die Stiftung jeweils mit einem Defizit von über 220'000 Franken ab, das immer wieder aus dem Stiftungsvermögen gedeckt werden musste. «Wenn es so weitergeht, laufen wir bald auf dem Zahnfleisch», sagt Susan Peter, Geschäftsleiterin der Stiftung. Sie fordert kostendeckende Tagestarife. Es könne doch nicht sein, dass Kanton und Stadt Zürich den Schutz gewaltbetroffener Frauen einer privaten Stiftung und privaten Spendern überlassen.
Susan Peters Büro liegt im Zürcher Kreis 4, unweit der Langstrasse. Peter wirkt kämpferisch, aber irgendwie auch ratlos und müde. Ständig ist sie damit beschäftigt, Geld zu sammeln. Und ständig grübelt sie, wo sie noch sparen könnte. Frei gewordene Stellen besetzt sie nicht mehr, so dass Amina und ihren Kolleginnen die Arbeit oft über den Kopf wächst. Die Kleidung und Hygieneartikel, die sie den Müttern und Kindern verteilt, sind oft Spenden. Auch ein Teil der Lebensmittel, mit denen die Frauen im «Violetta» kochen, sind gespendet. Der Computer, auf dem die Bewohnerinnen nach Wohnungen und Jobs suchen, ist von vorgestern.
Susan Peter wünscht sich eine Studie, die umfassend aufzeigen würde, welche Kosten häusliche Gewalt in der Schweiz tatsächlich verursacht. «Dann hätten wir vielleicht endlich die Argumente, die auch bei Politikern ziehen.» Es gebe Studien zu den Kosten von Littering, über die Kosten, die dicke Kinder verursachen, sogar über die Sicherheit von nicht bewachten Bahnübergängen, sagt Peters. Und immer seien diese Studien verknüpft mit politischen Massnahmen, mit grossen Kampagnen und Präventionsprogrammen. «Warum hat es das Thema häusliche Gewalt so schwer? Warum greift es keine Partei auf?»
Samstagabend, Memnune hat ihre erste Nacht im «Violetta» hinter sich. Sie brauchte eine Schlaftablette, aber dann kam der Schlaf schnell. Im Gesicht ist sie immer noch blass, tiefe Augenringe, aber die Anspannung ist von ihr abgefallen, sie wirkt weicher, runder. Sie sitzt im Raucherzimmer, die Hand mit der Zigarette zittert leicht. «Es tut gut, hier zu sein. Zu Hause habe ich ständig geweint, und als mich mein Mann deswegen anschrie, habe ich noch mehr geweint. Es war immer Stress. Hier werde ich ruhiger und kann wieder lachen. Gestern Nacht bin ich noch lange mit den anderen Frauen zusammengesessen, wir haben geredet. Wir helfen uns gegenseitig.» Lena ruft zum Nachtessen. Auf dem Tisch im Esszimmer stehen Platten mit Fisch und Reis. Aus dem Gettoblaster in der Küche dröhnt Balkanpop, Adelekes Kinder tanzen und kreischen, Amina bleibt in der Tür stehen, schlägt die Hände vors Gesicht. «Nein, dieses Chaos!» Sie lacht. «So ist das Leben», sagt Memnune. Sie kann noch nicht lachen.
* Namen geändert