«Ich fühle mich wie der grösste Kriminelle»
Nach zwei Verkehrsunfällen verspürt ein Basler starke Schmerzen. Die Versicherungen glauben ihm nicht. Der Mann kämpft um seinen Ruf.
Veröffentlicht am 25. April 2016 - 10:30 Uhr
Josip Novak* hat seine Spritzen bekommen. Vier Stück, direkt in den Nacken. Nun sei der Schmerz ein paar Stunden lang erträglich. Und der 67-Jährige kann Rede und Antwort stehen. Aber ihn plagen nicht nur die Schmerzen: «Ich fühle mich wie der grösste Kriminelle. Man wirft mich in einen Topf mit Leuten, die Unfälle inszenieren.»
Die Vorhänge in seiner Wohnung in Basel sind dicht. Licht tut seinen Augen weh. An der Wand hängen Heiligenbilder. Zwei Freunde sind da. Die Stimmung ist angespannt.
1989 prallt ein Auto ungebremst in Novaks Wagen. Zunächst kann er den Kopf nicht mehr bewegen, dann kommt der Schmerz. «Ich konnte kaum noch gehen, sitzen und schlafen.» Nach ein paar Monaten kann er nicht mehr arbeiten. Mit 41 ist er zu 100 Prozent arbeitsunfähig.
1995 der zweite Unfall: Der Fahrer des Taxis, in dem Novak sitzt, verliert auf dem Glatteis die Kontrolle, das Fahrzeug prallt in eine Wand. Novak erleidet eine kleine Hirnblutung, ist ein paar Tage querschnittgelähmt, muss monatelang im Spital bleiben.
Seither plagen Josip Novak starke Schmerzen in Nacken, Rücken und Kopf. Er hat Schwindelanfälle, Gleichgewichts-, Schlaf-, Konzentrationsstörungen. Ihm wird regelmässig übel. Er macht Therapien. Bei einer Operation werden zwei Halswirbel miteinander verschraubt – ohne bleibende Besserung. Jahrelang bekommt er Morphium.
Er ist bei mehreren Ärzten in Behandlung, geht regelmässig in die Physiotherapie und
in spezialisierte Kliniken. Er nimmt starke Schmerzmittel, erhält Spritzen. Nur so sei sein Leben erträglich. Da ihm beim Liegen schwindlig wird, verbringt er die Nächte halb aufrecht in einem Liegestuhl. Die Wohnung verlässt er fast nur für Therapietermine.
Doch eins will Novak nicht preisgeben: seine Würde. Der stattliche Mann trägt Anzug, erzählt stolz: «Ich war kerngesund, machte Militärdienst.» Aufgewachsen ist er in Jugoslawien, 1977 kam er mit der Familie nach Basel. Bei Ciba-Geigy verdiente er gut und bekam «hervorragende Arbeitszeugnisse», wie er mit leuchtenden Augen sagt. Und sorgte vor: «Ich bin erstklassversichert.»
Eigentlich könnte er von seiner Suva-Rente, der Pension seines früheren Arbeitgebers und seiner AHV gut leben – wären da nicht die Behandlungskosten von Zehntausenden Franken pro Jahr. Die Versicherungen bezahlen nur mehr einen kleinen Teil davon. Den grossen Rest finanziert er aus seinem Ersparten – und kämpft zäh dafür, das Geld zu bekommen, das ihm zustehe. «Mir geschieht grosses Unrecht.»
Der Streit mit den Haftpflichtversicherungen Basler und Aurora sowie den Unfallversicherern Suva und Helsana ist sein Lebensinhalt geworden. Er hat Dutzende Ordner mit Akten und bereits den dritten Anwalt, wird mehrmals versicherungsmedizinisch abgeklärt, gibt selber diverse Gutachten in Auftrag. Der Konflikt kostet ihn Hunderttausende Franken.
«Die Überwachung durch Detektive hat mir das Genick gebrochen», sagt Novak.
Novak liegt im Streit mit den Versicherungen, seit er nicht mehr arbeiten kann. Eskaliert ist die Sache vor zehn Jahren, als die «Basler» ihn von Privatdetektiven observieren liess. Die Versicherung wollte prüfen, ob Novak tatsächlich auf das Taxi angewiesen war. Erschütterungen oder ruckartiges Bremsen, wie es sie in Trams oder Bussen gibt, würden seine geschädigte Wirbelsäule gefährden, hatte Novak geltend gemacht. Gezeigt habe sich das bei einem Tramunfall. Daher müssten die Versicherungen die Taxifahrten übernehmen.
Die Detektive finden, Novaks Taxi fahre nicht speziell vorsichtig, und stellen keine Beschwerden wie Schwindel oder Einschränkungen der Beweglichkeit fest. Beim Tram- oder Busfahren oder bei körperlich anstrengenden Tätigkeiten beobachten sie ihn nicht.
Einer von Novaks Ärzten kritisiert die Observation durch medizinische Laien. Es sei «absurd» zu behaupten, Novak bewege sich unauffällig. Er drehe den Oberkörper «en bloc», und seine Bewegungen seien stark reduziert. «Wer meint, Schmerzen oder Gleichgewichtsstörungen aus der Ferne diagnostizieren zu können, belegt, dass ihm einfachste medizinische Sachverhalte nicht geläufig sind.» Dass sich Versicherungsvertreter und Richter auf die Detektiv-Aussagen stützen, sei stossend.
Die Überwachung sei verheerend für seine Psyche gewesen, sagt Novak. «Sie hat mir das Genick gebrochen.» Er sah sich als Simulant beschuldigt. Seither fühlt er sich im Rechtfertigungszwang, schwört ungefragt «vor Gott», dass er unglaubliche Schmerzen habe.
Nach der Überwachung kürzen die Versicherungen die Leistungen massiv. Gestützt auf eine medizinische Abklärung, schränkt die Suva 2006 die bisher bezahlten Heilungskosten um 90 Prozent ein, auf eine einzige Hausarztkonsultation pro Monat sowie maximal 18 Physiotherapiesitzungen und Medikamente für 1000 Franken im Jahr.
Laut dem Vertrauensarzt der Suva kann nur eine Reduktion der Behandlungen zum Ziel führen. Sonst finde Novak «aus der sich immer schneller drehenden Behandlungsspirale seit 1989» nicht mehr heraus. Der Arzt findet, die Dauerphysiotherapie müsse gestoppt werden, «da sie den Patienten nur in seinen Leiden bestätigt». Für Novaks Ärzte sind die zugestandenen Heilungskosten – pro Tag Medikamente für CHF 2.70 – ein Hohn.
Die Suva zahlt Novak zwar eine volle Invalidenrente, hat aber die Behandlungskosten auf ein Minimum reduziert. Novak ficht die Verfügung vor Gericht an – und verliert. Suva und Helsana teilen sich die «bewilligten Kosten» im Verhältnis 70 zu 30.
In seiner düsteren Wohnung redet sich Josip Novak in Rage, berichtet von Demütigungen durch Ärzte, die ihn im Auftrag der Versicherungen untersucht haben. Einer drehte ihm den Kopf so grob zur Seite, dass er mit heftigsten Schmerzen ins Spital musste. Ein Psychiater begrüsste ihn vor anderen Patienten mit den Worten: «Herr Novak, haben Sie das Bedürfnis nach einer Frau?»
Damit traf er einen wunden Punkt. Novaks Frau nahm sich 2004 das Leben. Zu seiner Tochter hat er keinen Kontakt, mit dem Sohn nur wenig. Nachbarn und Freunde helfen ihm.
Basler und Aurora als Haftpflichtversicherer zahlten bis 2005 an die Folgekosten der Unfälle. Dann entbrannte der Streit um die Taxikosten. Novak schlug einen Vergleich aus und verklagte die Versicherer auf 4,5 Millionen Franken – für Taxifahrten und weitere Unfallfolgekosten. Er ging bis vor Bundesgericht. Dieses entschied 2015 gegen ihn. Bekannte hatten ihm von einer Klage abgeraten – erfolglos.
Für seine Kollegen und Ärzte ist es unverständlich, wie dieses Urteil zustande kam. Ausschlaggebend war – wie auch im Prozess mit der Suva – ein Gutachten des versicherungsmedizinischen Instituts Asim in Basel. Die Asim-Ärzte bestreiten nicht grundsätzlich, dass Josip Novak an Unfallfolgen leidet. Doch die Hauptursache der Leiden sei eine psychische Störung, die schon vor den Unfällen bestanden habe.
Novak findet das unhaltbar. Wie könne man heute ein psychisches
Leiden diagnostizieren, das vor 1989 bestanden habe? Eine rückwirkende Diagnose sei unsinnig. Die Gerichte übernahmen trotzdem die Argumentation und entschieden gegen Novak.
Die Basler-Versicherung sieht «keine Veranlassung», sich zum Fall zu äussern. Novaks Forderungen seien durch alle Instanzen abgewiesen worden. Aurora war für eine Stellungnahme nicht zu haben. Die Krankenversicherung Helsana wollte sich nicht weiter äussern.
Novaks Ärzte kritisieren das Asim-Gutachten scharf: «Dass vor dem Unfall bestehende psychische Symptome» die Krankheitsursache sein sollen, sei «an den Haaren herbeigezogen». Es sei stossend, dass die Unfälle «trotz ausgesprochen gut dokumentierten und schweren Folgen» nicht als Hauptursache von Novaks Leiden betrachtet würden. Auf Scans seien die Hirnschäden klar nachweisbar. Diese Befunde seien ignoriert worden, da die Richter die Gutachten von Novaks Ärzten als «Parteigutachten» zurückgewiesen hätten. Den Gerichten werfen Novaks Ärzte zudem vor, sie hätten den zweiten Unfall fälschlicherweise als «leichten Unfall mit Blechschaden» eingestuft. Das sei eine «schwindelerregende» Verharmlosung.
«Balkanstämmige Menschen haben es schwerer.»
Ist Josip Novak ein Versicherungs- und Justizopfer? Oder hat er sich bloss heillos verrannt? Sohn Ivan* glaubt, zumindest mit den Haftpflichtversicherungen hätte sein Vater wohl eine Lösung finden können, wäre er kompromissbereiter gewesen. Er könne aufbrausend und rechthaberisch sein.
Im Konflikt spiele auch die Herkunft seines Vaters eine Rolle, meint Ivan. Er sei gebürtiger Kroate, spreche Deutsch mit Akzent. Ein Versicherungsmitarbeiter soll zu ihm gesagt haben: «Sie mit Ihrem Namen werden nie gewinnen. Dafür werde ich persönlich sorgen.» Ivan ist überzeugt: Balkanstämmige Menschen haben es schwerer bei Versicherungen und Gerichten.
Ein Bekannter vergleicht Novak mit Michael Kohlhaas, dem Helden in Heinrich von Kleists gleichnamiger Novelle. Der kämpfte bis zum Äussersten gegen das Unrecht, das man ihm angetan hatte. «Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!», war sein Motto. Auch Novaks Ärzte sagen: Solange er prozessiere, werde sich sein Zustand nicht verbessern. Für Menschen mit solchen Hirnschäden sei es typisch, dass sie sich in der Welt nicht mehr zurechtfänden.
Josip Novak gibt nicht auf. Jetzt klagt er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Verliert er auch dort, sei er «bald pleite». Aber irgendwann müsse ja die Gerechtigkeit siegen.
*Name geändert
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