«Diese Klagen kann ich nicht mehr hören»
Gibt es ein Zuviel an Moral in unserer Zeit? Im Gegenteil – es brauche mehr soziales Engagement, nicht weniger, sagt die Philosophin Barbara Bleisch.
Veröffentlicht am 23. Dezember 2019 - 09:33 Uhr
Wir fürchten uns vor der Klimakatastrophe, der Digitalisierung, Populismus, Flüchtlingen, Wurst, Hackern und Deos mit Aluminium. Ist die Angst zum Soundtrack unseres Lebens geworden?
Barbara Bleisch: Bei John Stuart Mill, dem Philosophen aus dem 19. Jahrhundert, kann man nachlesen, dass wir Optimisten tendenziell für unterbelichtet halten. Das ist tief in uns drin. Wir glauben den Mahnern und Besorgten und gehen lieber vom Schlechteren aus, um auf der sicheren Seite zu sein. Aus Angst lässt sich ausserdem prima Kapital schlagen. Mit angstbesetzten Themen wie Masseneinwanderung oder Terrorismus werden politisch Stimmen geholt. Und man kann mit der Angst Geld verdienen, indem man Versicherungen, Check-ups, Pillen anbietet. Anstatt der üblichen Pommes-Chips müssen es dann die teuren sein, ohne Transfette und Zusatzstoffe.
Wie wird man die Angst los
?
Es geht um Mündigkeit. Wir sollten uns informieren: Wo lauern die wirklichen Gefahren, wo werden uns welche eingeredet? Allerdings beruhigt Wissen nicht in jedem Fall. Das weiss jeder, der 50 geworden ist und einen medizinischen Check-up
macht, «nur um sicherzugehen»: Die Chance, dass man etwas Auffälliges findet, ist gross. Mehr zu wissen hat die Kehrseite, dass auch Negatives zutage treten kann.
Was ist aus philosophischer Sicht ein guter Umgang mit Angst?
Das wichtigste Wort in unserer Zeit ist Vertrauen. Wir müssen wieder lernen zu vertrauen. Wer jedes Nahrungsmittel auf seine Inhaltsstoffe hin seziert, wird davon krank, nicht vom Essen. Vertrauen braucht übrigens auch die Politik. Wir sollten den Politikern, die wir gewählt haben, grundsätzlich Vertrauen entgegenbringen, ansonsten funktioniert keine Demokratie
.
Angesichts der drohenden Klimakatastrophe fällt das Vertrauen in die Politik gerade etwas schwer. Die Angst ist bei vielen so gross, dass die Amerikanische Psychologische Gesellschaft seit Jahren erwägt, Klimaangst in die Liste der psychischen Störungen
aufzunehmen.
Die Klimakatastrophe ist eine reale Bedrohung für die Menschheit. Mit Angst darauf zu reagieren erscheint mir adäquat und nicht gestört. Es sei denn, diese Angst lähmt eine Person völlig. Der Umgang mit der Angst vor der Klimakatastrophe ist schwierig, weil das Individuum nur begrenzt etwas bewirken kann. Man ist von den anderen abhängig und fühlt sich ohnmächtig.
«Freiheit bedeutet immer auch Verantwortung. Darüber zu jammern ist nicht angebracht.»
Barbara Bleisch, Philosophin
Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich jeden Tag mit einer ganzen Reihe moralischer Entscheidungen zu quälen. Ist es okay, mit dem Auto in die Ferien zu fahren? Wie viel Fleisch darf ich essen? Und was ist mit dem Palmöl
? Wir betrachten das Leben ständig durch eine moralische Brille. Ist eine Lebensführung, die sich so stark nach ethischen Prinzipien richtet, nicht auch schädlich?
Ich würde gern unterscheiden zwischen der Sorge angesichts der drohenden Klimakatastrophe, die ich für angemessen halte, und der Klage über Verhaltensänderungen
, die von uns allen verlangt sind. Mit letzterer Klage kann ich nicht viel anfangen. In den letzten Jahren ist es Mode geworden, über einen zunehmenden Moralismus zu klagen – das kann ich nicht mehr hören.
Warum?
Wir haben so viele Freiheiten wie nie zuvor. Freiheit bedeutet immer auch Verantwortung. Wir können uns grossartige Reisen leisten und wissen um die Folgen des Flugverkehrs – also müssen wir uns mit diesen befassen und unser Handeln überdenken. Darüber zu jammern ist nicht angebracht. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, die keine einzige Reise unternehmen können. Interessanterweise sind viele bereit, Zeit und Geld zu investieren, um fitter und schöner zu werden. Aber anständiger oder respektvoller zu werden ist ihnen zu mühsam. Einem Ideal zu folgen ist aber immer anstrengend. Diejenigen, die für das Frauenstimmrecht gekämpft haben oder für die Abschaffung der Sklaverei, investierten auch viel. Wir brauchen mehr soziales Engagement
, nicht weniger.
Warum fällt es uns so schwer zu verzichten?
Wir haben uns einen Lebensstil angewöhnt, der sich nicht verallgemeinern lässt, der aber sehr angenehm ist. In der Welt herumjetten, essen und konsumieren, was wir wollen, ist natürlich schön. Doch über diese Privilegien müssen wir nun diskutieren. Es gibt auch Menschen, die grundsätzlich bereit wären, sich einzuschränken, aber sie möchten sich nicht ständig diese Überlegungen machen müssen. Mehr Regulierung, mehr Labels würden hier helfen. Das ist letztlich eine politische Frage.
Darf man andere kritisieren, weil sie nicht bereit sind, ihre Privilegien aufzugeben?
Den Einzelnen zu kritisieren finde ich nie schön. Aber ein gewisser gesellschaftlicher Druck kann schon zum Umdenken bewegen. Bei vielen gesellschaftlichen Umwälzungen hat er dazu geführt, dass bestimmte Dinge irgendeinmal einfach nicht mehr möglich waren. Gewisse Formen von Rassismus kann man heute auch rechtlich verfolgen. MeToo hat ein anderes Problem sichtbar gemacht – teilweise übertrieben gross und in einer fragwürdigen Art und Weise –, aber auch hier hat sich etwas getan: Sexismus wird heute weniger toleriert.
Die Fronten zwischen Klimaaktivisten
und Klimaskeptikern sind verhärtet. Obwohl die Wissenschaft Fakten liefert, gibt es keine verbindliche Gesprächsgrundlage. Wie finden wir zu einem Dialog mit Andersdenkenden?
Ich bin mir nicht sicher, ob die Fronten verhärtet sind. Vor wenigen Jahren vertraten Parteien und prominente Persönlichkeiten in der Schweiz noch die Meinung, es gebe keinen Klimawandel. Heute streitet man immerhin darüber, wie gross der menschengemachte Anteil ist. Es gibt einen Lerneffekt. Aber er braucht Zeit.
Warum dauert es so lange?
Weil es um Besitzstandswahrung geht. Es ist hart, Wahrheiten anzuerkennen, Gewohnheiten, Privilegien und Geschäftsmodelle aufzugeben. Es muss einem bewusst sein, dass es immer einfacher ist, etwas aufzugeben, was einem nicht so viel bedeutet. Ausserdem sind viele Folgen des Klimawandels noch nicht erfahrbar.
Wie schaffen wir es als Gesellschaft, wieder gemeinsam an einem Strick zu ziehen und die Dinge zum Besseren zu wenden?
Eine Gesellschaft ist mehr als eine Ansammlung von Menschen. Sie braucht eine Idee von Gemeinsinn, gemeinsame Werte und Solidarität. Auch wenn wir global interagieren – Gemeinsinn global herzustellen dürfte schwierig werden. Gemeinsinn wird gestärkt durch Traditionen
und Rituale, durch geteilte Lebenswelten und die Möglichkeit, sich in die Haut des anderen zu versetzen. Rituale sollten wir nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken lassen oder denjenigen überlassen, die sie für ihre Zwecke instrumentalisieren. Ein Sozialdienst täte uns Schweizerinnen und Schweizern gut. Oder Projekte, in denen Kinder in Altersheime oder Asylzentren gehen und die Lebensrealität von anderen erleben. Gemeinsinn muss erarbeitet werden.
In unserer digitalisierten Welt werden verbindende Erlebnisse rar. Wir verbringen unsere Zeit lieber am Handy, allein. Der deutsche Autor Tobias Haberl stellt in seinem Buch «Die grosse Entzauberung» fest, das authentische, pralle Leben bleibe auf der Strecke.
Ich finde hier den Begriff der Resonanz hilfreich. Der Soziologe Hartmut Rosa hat einen Nerv getroffen, als er sagte, es gehe im Leben darum, tief berührt zu werden. Man kann von Musik oder Natur berührt sein oder in aufrichtigen Beziehungen. Resonanz kann man nur erfahren, wenn man Zeit hat. Sie findet nicht auf Knopfdruck statt. Man muss sich einlassen. Doch das fällt uns zunehmend schwerer: Wenn wir ins Kino gehen, checken wir noch während des Abspanns E-Mails. So kann die Erfahrung nicht nachklingen.
Das Smartphone ist schuld?
Das ist zu einfach. Aber der Umgang mit neuen Technologien muss erlernt werden. Das braucht eine oder zwei Generationen. Wir sind in Bezug auf Mobilfunk und soziale Medien die Versuchskaninchen-Generation.
«Es muss einem erst einmal hinreichend gut gehen, damit man sich mit der Sinnfrage beschäftigt.»
Barbara Bleisch, Philosophin
Warum sehnen sich so viele Menschen nach einem sinnerfüllten Leben?
Weil wir nicht anders können. Einige geben sich sozusagen aus der Vogelperspektive eine religiöse Antwort. Gott hat den Menschen erschaffen, er ist der Sinn. Bricht diese Perspektive weg, stellt sich die Frage aus der Froschperspektive, wie wir selber unserem Leben Sinn verleihen können. Die Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre und Albert Camus glaubten, das Leben sei absurd und habe keinen Sinn. Der Sinn des Lebens
besteht dann darin, diese Absurdität auszuhalten und etwas zu schaffen, was das Leben lohnt. Für die meisten hat der Sinn des Lebens mit authentischen Beziehungen zu tun und damit, etwas Gutes zu bewirken. Es muss einem erst einmal hinreichend gut gehen, damit man sich überhaupt mit der Sinnfrage beschäftigt. Wir dürfen dankbar sein, wenn wir über diese Frage nachdenken können.
Wie haben die alten Philosophen die Frage nach dem erfüllten Leben beantwortet?
Bei den Stoikern war der Gedanke wichtig, dass wir das persönliche Glück nicht abhängig machen von äusserlichen Umständen. In diesem Sinn Gelassenheit und innere Ruhe
finden, das ist heute vielen wichtig. Ein gutes Leben zu führen bedeutete für Aristoteles oder Platon nicht nur, das Richtige zu tun. Es ging umfassender darum, erfüllt zu leben. Wir tendieren heute dazu, uns etwas zu sehr auf die Moral auszurichten. Aber der Lupenblick reduziert das Leben und macht uns ängstlich. Das ist nicht erstrebenswert. Wir sollten wieder umfassender über das gute Leben nachdenken.
Die Philosophin Barbara Bleisch, 46, moderiert die «Sternstunde Philosophie» im Schweizer Fernsehen. Daneben ist sie Kolumnistin beim «Tages-Anzeiger» und Dozentin für Ethik an der Universität Zürich. Sie ist Autorin verschiedener Bücher, unter anderem «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» (2018).
2 Kommentare
Ganz viele Menschen auf diesem Erdball, haben auch gar keine andere Möglichkeit (Wahl) als die Karre mit ihren Geldherren an die Wand zu fahren. Weil sie Lohnempfänger sind und eine Familie zu ernähren haben (und zu schweigen haben, ansonsten sie ihren Job verlieren) oder sog. working poor sind, die mit ihrem generierten Einkommen auf ausschliesslich günstige Importwaren aus Schwellenländern (Arbeitsrechte, Umweltschutzstandards etc. lassen grüssen) angewiessen sind um überhaupt noch einigermassen über die Runden zu kommen. Ich gehe davon aus, dass dies die Mehrheit der Weltbevölkerung ist.
Toller Beitrag! Gerade habe ich mich gefreut, dass da jemand, meine Gedanken in Worte fasste. Das Buch "warum wir unseren Eltern nichts schulden" kenne ich leider nicht.... ich erlebe das glücklicherweise anders. Vielleicht nicht schulden, doch Dankbarkeit zu spüren, für das was ich während meiner Kindheit erhalten durfte ist auch für mich wiederum ein Geschenk an meine eigenen Gefühle und an meine Mitmenschen.