Über 40 Jahre lang experimentierte Roland Kuhn in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen TG. Er testete mindestens 67 Substanzen an 3000 Personen – und verdiente dabei kräftig mit. Die Fakten dazu haben Medizinhistorikerinnen im Bericht «Testfall Münsterlingen» aufgearbeitet. Das Ergebnis kratzt schwer am Lack des langjährigen Oberarzts und Direktors. Roland Kuhn wird bis heute als Entdecker der antidepressiven Wirkung von Imipramin Medikamentenversuche «Man sah und sagte nichts» gefeiert, und damit als Wegbereiter der modernen Antidepressiva.

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Die als Testpersonen missbrauchten Patienten haben durch den Bericht eine gewisse Genugtuung erfahren. Doch einige Weggefährten von Kuhn ärgern sich bis heute.

Zehn Ärzte um den einstigen Thurgauer Kantonsarzt Alfred Muggli veröffentlichten jetzt in der «Schweizerischen Ärztezeitung» eine Replik auf den Forschungsbericht. Es sei ein «einseitiges, negatives Bild von Roland Kuhn» entstanden, das die «positiven Aspekte seines Wirkens völlig vergessen lässt».
 

Ein Feigenblatt

Der Standpunkt dieser Ärzte zeugt von beängstigender Uneinsichtigkeit. Sie waren zu Zeiten Kuhns entweder in der Psychiatrie in der Ostschweiz tätig oder standen Kuhn anderweitig nahe – fachlich oder freundschaftlich. Ihr Beitrag liest sich wie eine Rechtfertigung für ihre eigene unkritische Haltung gegenüber Kuhns Tun. «Wir sind uns bewusst, dass die Art von Forschung von Roland Kuhn aus heutiger Sicht nicht mehr zulässig wäre, aber es wäre auch falsch, die damalige Forschungstätigkeit mit den heutigen Wertvorstellungen über die Forschung am Menschen zu beurteilen.»

Ja, es war eine andere Zeit damals in den Fünfzigerjahren. Psychiatrische Kliniken Psychiatrie Wer in der Psychi war, weiss es besser waren «Irrenanstalten» mit Hunderten Patientinnen und Patienten, viele schwer behandelbar. Diesem Umstand hat das Forschungsteam um die Zürcher Medizinhistorikerin Marietta Meier Rechnung getragen. Die Ärzte hingegen beschönigen Kuhns Tätigkeit mit geradezu heuchlerischen Worten: «Wer ärztliche Verantwortung trug, der musste sich, getrieben von Mitleid und Menschlichkeit, um neue Therapieansätze kümmern.»
 

Wissenschaftlich unlauter

Von wegen Mitleid und Menschlichkeit: Kuhns Verhalten war wissenschaftlich fragwürdig, auch aus damaliger Perspektive. In seine Antidepressiva-Versuche bezog er Frauen und Männer ein, die nicht depressiv waren, sondern Diagnosen wie Intelligenzminderung oder sogar organische Schäden hatten. Kuhn nahm für sich in Anspruch, sogar aus Stoffcocktails die Wirkung einzelner Prüfsubstanzen herauslesen zu können. Methoden wie Datenanalyse und Statistik, die seine Beobachtungen relativiert hätten, lehnte er ab. Deshalb kam Medizinhistorikerin Meier zum Schluss: «Dieses Vorgehen widersprach systematischen, wissenschaftlichen Prüfungsanordnungen.» Münsterlingen Millionen für Tests an Menschen

Kuhns Weggefährten wollen nicht wahrhaben, was die Aufarbeitung, gestützt auf 45 Laufmeter Akten, dokumentiert. Der angeblich so selbstlose Psychiater Roland Kuhn suchte mit seiner Forschung Anerkennung in medizinischen Kreisen – seine Tätigkeit war aber auch finanziell motiviert. Er betrachtete die Entschädigungen der Pharmaindustrie Geschenke für Ärzte Die Alibiübung der Pharmaindustrie als Kompensation für den seiner Ansicht nach zu tiefen Lohn als Oberarzt und Klinikdirektor.

Kuhns Tätigkeit hätte schon damals zu denken geben müssen. Denn alle wussten, dass es bei den Menschenversuchen keine Kontrollen gab. Aber alle schauten weg – auch jene, die sich jetzt, posthum, für ihn wehren. So grenzt es an Geschichtsklitterung, wenn sie Roland Kuhn bis heute als «suchenden Pionier der Psychopharmakologie» bezeichnen.

Die Rechtfertigung von Kuhns Ärztekollegen ist vor allem eines: Zeugnis ihres Glaubens an die eigene Unfehlbarkeit. Einen Arzt darf man demnach nicht in Frage stellen, auch nicht mit einer wissenschaftlichen Studie.
 

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Otto Hostettler, Redaktor
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