Gynäkologin im Kriegsgebiet: «Die Wut ist ein wichtiger Motor»
Monika Hauser setzt sich seit 30 Jahren für Opfer von sexualisierter Kriegsgewalt ein. Im Interview spricht sie darüber, täglich das Grauen zu erleben, den Umgang damit und warum sie immer weitermacht.
Veröffentlicht am 9. März 2023 - 13:20 Uhr
Frau Hauser, Sie sind täglich mit Grausamkeit und Machtlosigkeit konfrontiert. Macht Sie das wütend?
Ja, ich bin oft wütend oder empört. Empörung ist mein innerer Leitfaden – sie zeigt mir meine Handlungsfelder. Die Wut ist ein wichtiger Motor und lässt mich meinen Weg gehen. Wenn ich Ungerechtigkeit sehe, engagiere ich mich. Wir alle sollten uns engagieren.
Wie finden Sie die Balance zwischen Mitgefühl und Distanz?
Empathie bedeutet, sich berühren zu lassen. Die Batterien immer wieder aufzuladen, ist zentral für mich. Nach meiner Zeit in Bosnien hatte ich einen Zusammenbruch und musste lernen, mir selbst gegenüber mehr Sorge zu tragen und eine Balance zu finden. Heute bin ich in gutem Kontakt mit mir selbst, ich kenne meine Ermüdungssymptome. Die nehme ich sehr ernst. Ich lasse aber bewusst Wut und Trauer zu. Das Bewusstsein, weshalb ich das alles tue, gibt mir Kraft und Energie. Ich will weiterkämpfen, bis sich etwas ändert.
Wie hat der Krieg in der Ukraine Ihren Job verändert?
Medica Mondiale hat umgehend begonnen, Hilfe für ukrainische Aktivistinnen aufzubauen. Mit unseren Kolleginnen aus Bosnien und dem Kosovo zusammen haben wir ein Online-Trainingsprogramm etabliert. Einerseits vermitteln wir unseren bewährten Ansatz, der auf psychosozialer, medizinischer und juristischer Unterstützung der Betroffenen basiert. Andererseits sprechen wir mit den Aktivistinnen über Selbstfürsorge. Nur wenn die Helferinnen selbst gesund und handlungsfähig bleiben, ist Hilfe für die Betroffenen möglich.
Weshalb ist sexualisierte Gewalt in einem Krieg so verbreitet?
Sexualisierte Gewalt ist überall verbreitet, wo patriarchalische Strukturen herrschen, Männer ihre Machtposition nutzen und Frauen herabwürdigen. Das passiert nicht nur in Kriegsgebieten. In vielen Ländern ist sexualisierte Gewalt weitverbreitet – auch in der Schweiz. Sexualisierte Gewalt findet täglich und überall auf der Welt statt, egal, ob Frieden herrscht oder Krieg.
Handeln Täter im Kriegsgebiet auf Anordnung?
Es braucht oft gar keinen eindeutigen Befehl von oben, damit Soldaten in grosser Anzahl Frauen vergewaltigen. Unsere Erfahrung von 30 Jahren zeigt, dass die Befehlshaber wissen, dass ihre Soldaten im Kontext des Kriegs vergewaltigen werden. Und wenn Generäle aktiv keine Massnahmen ergreifen, um diese Gewalt zu verhindern – sondern im Gegenteil eine Atmosphäre schaffen, in der die Soldaten sicher sein können, keine Konsequenzen fürchten zu müssen –, dann kann man durchaus davon sprechen, dass es zur Strategie gehört. Und das sehen wir derzeit in der Ukraine: Es gibt dokumentierte Fälle sexualisierter Kriegsgewalt. Und wir haben auch gesehen, wie Putin die Soldaten, die für die Gräueltaten in Butscha verantwortlich sind, öffentlich geehrt hat.
Die Verbrecher werden ausgezeichnet?
Ja, sie wurden von Putin gewürdigt. Das ist für alle anderen Soldaten ein Freibrief. Sie erfahren so, dass Morde und Vergewaltigungen okay sind. Straflosigkeit und Orden fördern Verbrechen. Und die wenigen Verurteilungen in den Gerichtsverfahren am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zeigen, dass die Justiz sexualisierte Gewalt noch viel ernster nehmen muss.
Welche Ziele verfolgt sexualisierte Gewalt im Kontext eines Kriegs?
Sexualisierte Kriegsgewalt wird unterschiedlich funktionalisiert: Sie kann der ethnischen Vertreibung dienen. Eine Gesellschaft soll ausgelöscht werden. Im Kosovokrieg flohen ganze Dorfgemeinschaften, wenn sie hörten, dass der serbische Freischärler Arkan und seine Männer in der Nähe waren. Das war ein Kommandeur einer paramilitärischen Freiwilligengarde im Kosovokrieg, ähnlich den Wagner-Söldnertruppen im heutigen Ukrainekrieg. Man wusste, was diese Männer Frauen antun. Umgekehrt wussten die Täter, dass betroffene Frauen danach verstossen und von der Gemeinschaft ausgegrenzt werden.
Dr. Monika Hauser, 63, wuchs in St. Gallen auf und machte dort ihre Matur. Danach hat sie in Innsbruck Medizin studiert. In Köln spezialisierte sie sich in der Gynäkologie. Hauser sagt, sie sei Frauenaktivistin, seit sie denken kann. Durch Erzählungen von Grossmutter und Mutter hörte sie früh von Gewalt durch deren Erleben im Zweiten Weltkrieg, als die Südtiroler sich für das faschistische Italien oder das ebenso faschistische Deutschland entscheiden mussten. Die Grosseltern entschieden sich für Bayern.
Als 1992 der Krieg in Bosnien ausbrach, reiste Hauser ins Kriegsgebiet. 1993 baute sie in Bosnien zusammen mit zwanzig Fachfrauen vor Ort ein interdisziplinäres Frauentherapiezentrum auf, damit Betroffene psychosoziale, medizinische und juristische Hilfe erhalten. Ihre Arbeit ging 1999 im Kosovo weiter. Afghanistan, Liberia, Elfenbeinküste, Ruanda und Uganda sind weitere Tätigkeitsgebiete, wo Hauser Frauen hilft, die sexualisierte Gewalt erlebt haben.
Und das passiert auch jetzt so im Krieg in der Ukraine?
In der Ukraine beobachten wir, wie Russland gezielt medizinische Einrichtungen zerstört, die Versorgung mit Strom, Wasser, Nahrungsmitteln verhindert. Kinder werden deportiert. Das sind alles Zeichen, dass die ukrainische Gesellschaft ausgelöscht werden soll. Und Vergewaltigungen sind da ein weiteres, äusserst wirkungsvolles Instrument.
Was erleben diese Frauen?
Sexualisierte Kriegsgewalt geschieht in unterschiedlichen Formen: Frauen werden erniedrigt und lächerlich gemacht, müssen sich nackt ausziehen und vor Soldaten tanzen, sie werden vergewaltigt, zwangsgeschwängert, zwangsprostituiert, verkauft an andere Männer, versklavt.
Welche Folgen hat das für die Betroffenen?
Neben den körperlichen Verletzungen werden diese Frauen schwer traumatisiert. Das kann sich ganz unterschiedlich äussern. Die einen sind ständig übererregt und nervös, andere sind in einer Schockstarre. Wichtig ist, dass Betroffene zeitnah Hilfe erhalten. Ansonsten chronifizieren sich die Symptome und schränken die Lebensqualität dauerhaft massiv ein. Daraus entstehen posttraumatische Belastungsstörungen, Schmerzzustände, Suizidgedanken. Weitverbreitet sind sogenannte Flashbacks, beispielsweise durch einen Männergeruch wird die Frau sekundenschnell wieder an das Geschehene erinnert.
Vorher sprachen Sie davon, dass die Opfer oft auch gesellschaftlich ausgeschlossen werden.
Richtig, die Taten haben auch schwerwiegende soziale Folgen. In der patriarchalischen Gesellschaft ist die männliche Ehre an die Unversehrtheit des weiblichen Körpers gebunden. Da die betroffenen Frauen dieses «Ideal» verloren haben, werden sie in der Folge stigmatisiert und ausgegrenzt. Sie erleben also doppelte Gewalt: Die Tat selbst und danach die Ausgrenzung oder Bagatellisierung – «du wolltest es ja». Deshalb liegt über der sexualisierten Gewalt vielfach ein Schweigegebot. Betroffene können schwer darüber sprechen.
«Sexualisierte Gewalt findet täglich und überall auf der Welt statt, egal, ob Frieden herrscht oder Krieg.»
Monika Hauser
In der Schweiz haben viele Gastfamilien Flüchtlinge aufgenommen. Wie können sie helfen?
Nach dem Erlebten brauchen Angekommene erst mal Ruhe. Ein Gefühl von Sicherheit zu geben, ist zentral. Menschen mit Fluchterfahrung sind potenziell traumatisiert. Hilfreich ist, solidarisch an ihrer Seite zu stehen – nicht hilfreich ist, Überlebende auszufragen, was passiert ist. Es ist sinnvoll, Hilfsangebote für Betroffene in der Nähe ausfindig zu machen, die Angekommenen sanft darauf hinzuweisen und anzubieten, sie dahin zu begleiten.
In der Schweiz werden die Unterkünfte für Geflüchtete knapp, insbesondere fehlen Strukturen für Frauen. Was bedeutet das für Betroffene?
Wir wissen, dass viele Frauen auf der Flucht sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Sicherheitsleute, Schlepper, Mitfliehende tun den Frauen Gewalt an. In den Flüchtlingsunterkünften setzt sich die Gewalt oft nochmals fort. Je nach Einrichtung der Unterkunft fehlt es an Schutzmassnahmen, abschliessbaren Waschräumen und so weiter. Dazu kommt, dass die Asylverfahren nicht auf sexualisierte Gewalt ausgerichtet sind.
Tut die Schweiz genug, um sexualisierte Gewalt zu bekämpfen?
Die Schweiz hat hinsichtlich Frauenrechten viele Baustellen. Nehmen wir den 7. März 2023 im Schweizer Parlament als Beispiel. Einerseits ein guter Tag: Nach vierjährigem Kampf hat sich der Ständerat für die «Nein heisst Nein»-Lösung ausgesprochen. Andererseits ein schlechter Tag: Der Abbruch einer Schwangerschaft soll in der Schweiz ein Straftatbestand bleiben. Auch auf juristischer Ebene gibt es noch viel zu tun.
Inwiefern?
60 Prozent der Frauen in der Schweiz geben an, sexuell belästigt worden zu sein, und 22 Prozent waren sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Doch nur 8 Prozent der Betroffenen erstatten Anzeige. Zwei Drittel der Verfahren werden danach wieder eingestellt. Das zeigt, dass in der Schweiz immer noch stark patriarchalische Strukturen auch in der Justiz herrschen. Darum ist es wichtig, dass Frauen für ihre Anliegen und Rechte kämpfen. Sie müssen sich auflehnen. Es geht um sie und das
Recht der Selbstbestimmung über ihren Körper.
«Ich will weiterkämpfen, bis sich etwas ändert.»
Monika Hauser
Sie setzen sich seit 30 Jahren mit Medica Mondiale als Frauenaktivistin ein. Sehen Sie Veränderungen oder Fortschritte?
Einer der grössten Erfolge ist die UN-Resolution 1325 «Frauen, Frieden, Sicherheit», die im Jahr 2000 erlassen wurde. Darin geht es unter anderem um die Beteiligung von Frauen an Friedensabkommen. Mit deren Beteiligung halten Friedensabkommen bis zu 35 Prozent länger. Die Interessen von Frauen müssen berücksichtigt werden, wenn der Frieden nachhaltig sein soll. Im öffentlichen Bewusstsein ist das Thema der sexualisierten Gewalt insgesamt präsenter. Trotzdem gibt es noch sehr viel zu tun. Erst wenn Medien und Parlamente sich dauerhaft damit befassen, besteht die Chance, dass sich nachhaltig etwas verändert. Wir brauchen weniger Patriarchat und viel mehr feministische Politik.
Was wünschen Sie sich für die Frauen und für sich selbst?
Wenn Aktivistinnen international und lokal in den Parlamenten vertreten sind, sie eingeladen werden und an Beratungen teilnehmen, dann haben wir die Chance, dass Frauenrechte weltweit durchgesetzt werden. Ich wünsche mir eine noch bessere Umsetzung der UN-Resolution 1325 und die entsprechenden Ressourcen dazu. Erst wenn Geschlechtergerechtigkeit in hoch entwickelten Ländern wie der Schweiz oder Deutschland umgesetzt ist, wird es auch Geschlechtergerechtigkeit in den Nachkriegsländern geben.
Medica Mondiale wurde 1993 während des Bosnienkriegs gegründet. Mit eigenen Programmen und in Kooperation mit lokalen Frauenorganisationen bietet die Organisation Betroffenen von sexualisierter Gewalt ganzheitliche Unterstützung vor Ort. Auf politischer Ebene setzt sie sich für die Durchsetzung der Frauenrechte ein, fordert eine konsequente Strafverfolgung der Verbrechen sowie wirksamen Schutz, Gerechtigkeit und politische Teilhabe für Überlebende von Gewalt. Derzeit ist Medica Mondiale unter anderem in der Ukraine, Nordirak/Kurdistan, Afghanistan, Liberia, Südosteuropa und in der Region der Grossen Seen Afrikas tätig.
2008 wurde die Schweizer Stiftung Medica Mondiale Foundation Switzerland gegründet. Damit gibt es auch für Personen mit schweizerischem Wohnsitz die Möglichkeit, Medica Mondiale mit Spenden und Vermächtnissen zu unterstützen.