Der Täter erfährt, wo das Opfer wohnt
Wenn eine Frau sexuell belästigt wird und Anzeige erstattet, erhält der Täter ihre Adresse und ihre Telefonnummer. Für den Bundesrat ist das in Ordnung.
Veröffentlicht am 22. Oktober 2020 - 18:07 Uhr
Ein warmer Sommernachmittag an der Thur. Nadja Kunz* (Name geändert) spielt mit ihrem Hund am Wasser. Ein Unbekannter beobachtet sie und folgt ihr. In einem bewaldeten Wegabschnitt entblösst er sich vor ihr und masturbiert.
Als die junge Frau den traumatisierenden Vorfall der Polizei meldet, wird sie vor die Wahl gestellt: Die Beamten dürfen den Verdächtigen nur vernehmen, wenn sie einen Strafantrag stellt. Dann aber darf der Mann in die Untersuchungsakten Einsicht nehmen und erfährt so den Namen, die Wohnadresse, die Telefonnummer und das Geburtsdatum des Opfers.
Soll Nadja Kunz nun Anzeige erstatten und riskieren, dass der Mann sie auch zu Hause aufsucht und erneut belästigt? Oder lässt sie es bleiben und nimmt in Kauf, dass der Mann unbehelligt weitermachen kann, bis sich ein anderes Opfer zu einem Strafantrag durchringt?
Nadja Kunz verzichtet – wie es viele Opfer von Stalkern und Exhibitionisten tun.
Sexuelle Belästigung und Exhibitionismus zählen zu den Antragsdelikten. Der Staat muss daher nicht von sich aus tätig werden. «Gerade Opfer von Sexualdelikten schrecken aber oft vor einem Strafantrag zurück, weil der Täter durch die Akteneinsicht Zugriff auf private Daten des Opfers erhält», sagt Fedor Bottler von der Opferberatung Zürich.
Die gesetzlichen Grundlagen machten es schwer, dass ein Opfer anonym bleiben kann. «Das ist höchstens bei einer konkreten und schwerwiegenden Gefährdung der Fall, zum Beispiel im Zusammenhang mit Menschenhandel oder organisierter Kriminalität. Sexuelle Belästigung oder Exhibitionismus reichen allein sicher nicht aus, um dem Opfer Anonymität zuzusichern.»
Bei einem möglichen Strafverfahren bietet die Opferhilfe Unterstützung an. Sie versucht, zwischen Opfer und Strafverfolgungsbehörden zu vermitteln. «Allein schon eine Schwärzung der Adresse würde helfen. Doch das ist wie gesagt kaum möglich», sagt Bottler. In Absprache mit der Staatsanwaltschaft könnte aber statt der Wohnadresse die Geschäftsadresse des Opfers oder die Postadresse der Anwältin angegeben werden.
Die Zürcher Rechtsanwältin Olivia Pelli warnt jedoch vor Illusionen. Ziel der Gesetzgebung sei es, alle Parteien fair zu behandeln. Und deren Interessen stehen oft im Widerspruch zueinander. «Das Akteneinsichtsrecht ist in der Bundesverfassung und auch in der Europäischen Menschenrechtskonventionverankert. Beschuldigte und Verteidiger müssen die Strafakten kennen, um sich adäquat verteidigen zu können.»
«Die Strafverfolgungsbehörde wird im vorliegenden Fall insbesondere berücksichtigen, dass das Opfer die einzige Zeugin ist und dass die Straftat relativ leicht ausfällt», so Pelli. «Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man da einer Schwärzung des Namens des Opfers zustimmt.» Eventuell könne eine Schwärzung der anderen Daten in Frage kommen, etwa Wohnadresse, Telefonnummer, Bürgerort und Geburtsdatum.
«Die geltende Regelung ist ausgewogen und fein austariert.»
Antwort des Bundesrats auf ein Postulat, das die Identität von Opfern besser schützen will
Aktuell arbeitet das Bundesamt für Justiz an einer Revision des Sexualstrafrechts. Dabei will man auch prüfen, wie das Recht sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person behandeln soll, wenn es weder zu Gewalt noch zu Drohungen kam – also etwa bei sexueller Belästigung.
- Mehr dazu: Sexualstrafrecht: Der Missstand bei sexueller Gewalt (Be+)
Die Berner SP-Nationalrätin Nadine Masshardt verlangte dazu vor einem Jahr in einem Postulat, dass die Identität von Opfern in Strafverfahren besser geschützt werden soll, ohne die Rechte der beschuldigten Personen einzuschränken. Die schnöde Antwort des Bundesrats: «Die geltende Regelung stellt eine ausgewogene, fein austarierte und praxistaugliche Lösung dar, weshalb der Bundesrat keinen Handlungsbedarf im Sinne des Postulats sieht.»
Nadine Masshardt ist überrascht von dieser Einschätzung. «Es befremdet mich, dass der Bundesrat mögliche Verbesserungen des Schutzes nicht einmal prüfen will. Politiker aus unterschiedlichsten Parteien haben mitunterzeichnet. Die breite Abstützung zeigt, dass es in dieser Sache Handlungsbedarf gibt.»
Die laufende Revision werde in Sachen Anonymisierung von Opfern wohl nichts ändern, sagt Beat Rieder, Präsident der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats. «Es geht vor allem darum, ob eine Vergewaltigung als Antrags- oder Offizialdelikt behandelt und verfolgt werden soll.» Zudem wolle man festlegen, was alles unter die Definition einer Vergewaltigung falle. Der Schutz der Identität der Opfer stehe nicht auf der Traktandenliste. «Das fällt eher unter das Datenschutz- oder das Opferhilfegesetz.»
Nur jede Zehnte zeigt an
Nur wenige Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, zeigen den Täter an. Die Reaktion der Frauen nach dem Vorfall:
Schweigen aus Scham
Begründungen von Frauen, warum sie nach der Tat nicht zur Polizei gegangen sind:
Erschreckende Ansichten
Gemäss einer EU-Umfrage denken 27 Prozent der Befragten, dass nicht-einvernehmlicher Sex in gewissen Fällen gerechtfertigt sei. Zum Beispiel wenn die Frau ...
11 Kommentare
Als junge Frau wurde ich von einem Mann vergewaltigt. Als ich mich gewehrt habe, drohte er mir mit dem Tod und hat versucht, mich zu ersticken. Meine einzige Chance, da lebend rauszukommen: ich stellte mich bewusstlos, gab keinen Ton mehr von mir und habe einfach irgendwie abgeschaltet.
Anzeige wollte ich gar nicht erstatten, da ich mich so geschämt habe, habe mich dann durch einen erfahrenen Polizisten im Familienkreis doch dazu ermutigen lassen. Durch meine Mutter, welche durch meinen Bruder informiert wurde, habe ich mich im Spital untersuchen lassen. Die DNA liess keinen Zweifel zu, trotzdem fühlte ich mich immer schuldig, das wurde mir auch von Seiten der Polizei und sogar aus meinem damaligen Freundeskreis so vermittelt.
Als ich die Löschung meiner Daten aus dem Dossier entfernen lassen wollte, bekam ich von der zuständigen Polizistin folgende Antwort: „Sie wären die Erste, die nach einer Anzeige vom Täter bedroht, aufgesucht, eventuell getötet würde“ na Merci!
Ich habe ihr ganz klar gesagt, dass ich in ihrer Statistik aber nicht die Erste sein wolle, der sowas passiert! Und woher sie eigentlich so genau wissen könne, dass sowas nie passiert...
Interessant: wenn ich von einer anderen Person angezeigt wurde, weswegen auch immer, wurde mir immer gesagt, ich dürfe aus Gründen des Datenschutzes nicht wissen, wer das war.
Warum also sollen Sexualstraftäter die Adresse und Telefonnummer des Opfers sehen können? Absolut unlogisch!
Mit solchen Gesetzen, Massnahmen von - offensichtlich unfähigen - Zuständigen im Schweizer Rechtssystem, ist es klar, dass sich Opfer nicht melden! Die "Verhätschelung" von Gewalttätern jeglicher Abart, Sexualstraftätern etc, ist erschreckend beschämend für die Schweiz und deren Rechtssystem!! "Falsche Leute, in falschen Positionen"!!
Diese Regel basiert auf den kranken Gedanken der Juristen, die angeblich kompetent seien, brauchbare Gesetze zu gebären. Eine ziemlich bescheidene Berufsgruppe.
Bescheiden ist noch viel zu nett... aber die Opfer wären ja auf demselben Niveau, würden sie sowas nur ansatzweise erwähnen...
Als angeblicher "Täter" hat Mann in der Schweiz schon jetzt nur noch Alibi-Rechte. Ein Mann ist bereits verurteilt, weil er ein Mann ist.
Die Opferhilfestellen beeinflussen und drängen die weiblichen "Opfer" so stark, dass Mann keine Chance hat. Meine Nichte wurde auch so von einer Leiterin einer solchen Stelle "missbraucht". Diesen Frauen geht es nie um das Wohl der Menschen sondern nur um Ausübung von Gewalt durch den Staat und dessen Handlanger.