Ein Hauch von Freiheit
In der Strafvollzugsanstalt Hindelbank sitzen 87 Frauen ein. Innerhalb der Gefängnismauern können sie sich zwar relativ frei bewegen. Doch Knast bleibt Knast. Und manche zweifeln am Sinn ihrer Strafe.
Veröffentlicht am 20. Januar 2004 - 12:37 Uhr
Das geschriebene Gesetz bedeutete ihm nicht mehr als aneinander gereihte Buchstaben. Und er beugte es nach Belieben: Zielstrebig verfolgte Hieronymus von Erlach eine militärische Karriere in fremden Kriegsdiensten und verdiente sich dabei ein Vermögen und den Titel eines Reichsgrafen. Skrupellos schwängerte er eine Minderjährige, lebte in Bi- gamie und schmückte sich mit falschen Adelstiteln. Selbst eine Arreststrafe konnte seiner masslosen Selbstgefälligkeit nichts anhaben.
Bevor von Erlach 1721 zum Schultheissen der «Stadt und Republik Bern» ernannt wurde, liess er sich eine Sommerresidenz bauen: ein Schloss, wie er es in fremden Diensten unter Kaiser Leopold I. kennen gelernt hatte. Die exorbitanten Unterhaltskosten des pompösen «Château de Hindelbanck» führten seine Nachfahren beinahe in den Ruin. 1866 musste Grossrat Ludwig von Erlach das Refugium an den Staat Bern verkaufen. Dieser vergitterte das prunkvolle Herrenhaus und funktionierte es 1912 in ein «Weiber Zucht- und Korrektionshaus» um. Seitdem haftet an Hindelbank der zweifelhafte Ruf, in der Schweiz das härteste Zuchthaus für Frauen zu sein.
Das dachte auch Alice Furrer (Name von der Redaktion geändert), als sie sich Mitte November 1998 wegen des Imports von Kokain vor dem Zürcher Obergericht verantworten musste.
Das Urteil traf die 40-Jährige wie ein Hammerschlag: 27 Monate Hindelbank. Das bedeutete das Tragen von Zuchthauskleidern und Eingeschlossensein in einer kargen Zelle mit vergittertem Fenster, brillenloser Kloschüssel und einer aufklappbaren Pritsche an der Wand. Hindelbank, das hiess: täglich eine halbe Stunde Kreisgang im ummauerten Gefängnishof, schweisstreibende Arbeit in der Korberei und fades Anstaltsessen, das durch die Klappe der massiven Zellentür aus Holz gereicht wird.
Das Urteil löste in Alice Furrer panische Ängste aus. Wenige Tage vor dem Strafantritt floh sie nach Paraguay, wo sie auf der Farm eines Auslandschweizers eine Stelle fand.
Funktionelle Zimmer statt Zellen
Vier Jahre später entschied sich die Flüchtige, mit ihrer unbewältigten Vergangenheit ins Reine zu kommen. Sie kehrte in die Schweiz zurück und stellte sich freiwillig den Behörden. Seit Anfang Juni 2003 verbüsst sie ihre Strafe in Hindelbank. Was sie dort antraf, hatte mit ihren traumatischen Vorstellungen vom «Frauenknast» kaum mehr etwas zu tun.
Umarmt von saftigen Wiesen, ruht der imposante Schlossbau auch heute noch in ehrfürchtiger Sichtdistanz vom Berner Landdorf Hindelbank auf einer leichten Anhöhe. Doch in seinen verschwenderisch bemessenen Räumen, an deren mit erlesenem Holz ausgeschlagenen Wänden seit der Renovation im Jahre 1966 wieder historische Ölschinken von gekrönten Häuptern, Päpsten und Kriegsherren hängen, sucht man vergeblich nach Zellen. In den Gemächern, in denen sich von Erlach einst verlustiert hatte, befinden sich heute eine Cafeteria, Sitzungsräume, ein ökumenischer Gemeinschaftsraum sowie die Büros der Gefängnisdirektion.
Die Insassinnen sowie die Arbeitsplätze sind bereits 1962 in ein neu erstelltes Gebäude auf dem Schlossareal verlegt worden. Die hier untergebrachten Zellen werden Zimmer genannt, sehen auch so aus und sind funktionell möbliert: Arbeitstisch, Sitzmöbel, Kleiderschrank, TV-Gerät, Bett, separate Toilette, Deckenlicht und Leselampe, eine Pinnwand für Fotos und Notizen sowie Platz für persönliche Gegenstände. Sogar die Benützung von privaten Computern ist erlaubt.
Von den 107 Plätzen sind derzeit 87 belegt, darunter 43 von Ausländerinnen aus 22 Nationen. Was die Delikte und Strafmasse der Inhaftierten betrifft, findet sich vom Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz bis zum Mord und von Gefängnisstrafen von wenigen Monaten bis zu lebenslangem Zuchthaus alles.
«Im Anstaltsalltag machen wir keinen Unterschied zwischen Gefängnis- und Zuchthausstrafen», sagt die 57-jährige Marianne Heimoz, seit 1995 Direktorin von Hindelbank. «Bei einer kürzeren Gefängnisstrafe erhält die Insassin eher Urlaub, und Austrittsvorbereitungen wie beispielsweise Wohnungs- und Stellensuche haben früher einen hohen Intensitätsgrad. Insassinnen, die eine Zuchthausstrafe zu verbüssen haben, werden dagegen erst nach einem Drittel der Strafdauer erstmals Ausgang und Urlaub gewährt.»
Statt düsterer Zellentrakte gibt es in Hindelbank vier Wohngruppen mit insgesamt 79 Plätzen für den Normalvollzug. In den Gängen und Aufenthaltsräumen dominieren die Farben Weiss und Blau: Wer hier zum ersten Mal eintritt, fühlt sich eher ins sterile Ambiente einer psychiatrischen Privatklinik denn in eine Strafanstalt versetzt. Die «Zellentüren», zu denen alle Insassinnen einen eigenen Schlüssel haben, bestehen aus weiss gestrichenem Leichtmetall, weisen keine Sichtklappen auf und sind mit den Namen der eingewiesenen Frauen angeschrieben. Von 21 Uhr 30 bis 6 Uhr 30 – in der so genannten Einschlusszeit – können die Zimmer allerdings nicht mehr geöffnet werden.
In den Wohngruppen können sich die Insassinnen nach der Arbeit und während der Freizeit frei bewegen. Das gilt auch für die «Muki»-Gruppe, in der bis zu sechs inhaftierte Mütter ihre Strafe zusammen mit ihren bis zu drei Jahre alten Kindern verbüssen können. Aus dem Rahmen fällt lediglich die in einem getrennten Gebäude untergebrachte «WG Hochsicherheit und Integration», die acht Einzelzimmer für extrem gefährliche oder psychisch instabile Insassinnen aufweist.
«Was die Delikte betrifft, wissen wir natürlich alle, weshalb jemand hier ist», beschreibt Viviane Bruchez (Name geändert) die Stimmung in Hindelbank. Die 42-jährige Genferin sitzt wegen Betäubungsmitteldelikten eine 42-monatige Gefängnisstrafe ab. «Die begangenen Taten sind unter uns jedoch kaum ein Thema. Lediglich zu Frauen, die ein Kind getötet oder misshandelt haben, wird da und dort auf Distanz gegangen.»
In den anstaltsinternen Gewerbebetrieben, zu denen Schneiderei, Töpferei, Gärtnerei, Wäscherei und Kartonageabteilung gehören, arbeiten Verkehrssünderinnen und Drogendelinquentinnen 35 Stunden pro Woche mit Gewaltverbrecherinnen und Mörderinnen zusammen. Der durchschnittliche Tageslohn beträgt für alle 26 Franken – wenn Leistung, Pünktlichkeit und Verhalten stimmen.
Das trügerische Gefühl von Freiheit
In einem separaten Ess- und Aufenthaltsbereich des Normalvollzugs wird das von der zentralen Küche angelieferte Essen eingenommen. Auch hier gibt helles Design den Farbton an. Eine gitterlose Fensterfront entlang den Esstischen erlaubt zudem einen Rundblick über die künstlerisch gestaltete Gartenanlage, die die Annexbauten voneinander trennt. Zur Illusion der Freiheit trägt bei, dass die Insassinnen in den WGs auf Wunsch auch auf eigene Rechnung kochen können und seitens der Anstaltsleitung auf religiöse Essensvorschriften, Diät- oder vegetarische Kost Rücksicht genommen wird.
Für die Aufsicht in den Wohngruppen sind sozialpädagogisch ausgebildete Betreuerinnen zuständig. Sie unterstützen die Gefangenen bei der Lösung ihrer Probleme sowie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und der Erfüllung ihrer Pflichten. Betreuerinnen und Insassinnen können von Aussenstehenden kaum unterschieden werden: In Hindelbank gibt es keine Uniformen und keine Sträflingsbekleidung.
«Hierarchien, wie man sie aus dem Männerstrafvollzug kennt, gibt es hier nicht», sagt die Gefangene Viviane Bruchez. Weder die körperlich Stärkeren noch bestimmte ethnische Gruppen hätten in Hindelbank das Sagen. Stattdessen werde Wert auf Äusserlichkeiten gelegt: körperliche Vorzüge, tolle Klamotten, modische Frisuren und perfektes Make-up. «Eine Gemeinsamkeit findet sich zudem bei den täglichen Gesprächsthemen, und diese heissen Sex, Joints, but no Rock ’n’ Roll.»
Sex und Drogen seien hier tatsächlich der wichtigste Diskussionsstoff, bestätigt die dreifache Mutter Tina Salla (Name geändert). Die 48-jährige Südafrikanerin sitzt eine dreieinhalbjährige Gefängnisstrafe ab. «Was den Sex betrifft, ist das doch verständlich», meint sie. «Schliesslich ist kein Mensch dazu gemacht, allein zu sein. Auch Vibratoren, über die die meisten Insassinnen verfügen, können Zärtlichkeiten nicht ersetzen. Viele, die nicht lesbisch sind, holen sich ihre Streicheleinheiten dort, wo sie können.» Lediglich zu Drogen gehe sie auf Distanz, betont Salla. «Da ich selber wegen Kokainhandels verurteilt worden bin, ziehe ich es vor, meine Freizeit mit Kolleginnen zu verbringen, die nichts mit Drogen zu tun hatten.»
Beim Sex scheiden sich die Geister
Nicht alle Insassinnen stehen den anstaltsinternen Dauerthemen Sex und Drogen derart pragmatisch gegenüber. «Es geht mir nicht darum, diese Frauen zu diskriminieren», sagt die 52-jährige Brigitte Jaggi (Name geändert), die wegen Imports und Verkaufs von 23000 Ecstasypillen eine dreijährige Haftstrafe verbüsst. «Und ich habe auch nichts dagegen, wenn wirkliche Lesben nach ihren Neigungen leben. Doch hier geht es vielfach um Frauen, die einfach ihre Triebe ausleben und keine Rücksicht auf jene nehmen, für die Sex in eine Beziehung gehört und die sich deshalb an dieser freien Liebe stören.» Sie könne auch nicht nachvollziehen, weshalb man drogenabhängige Insassinnen nicht in eigenen Wohngruppen unterbringe, sagt Jaggi.
«Wie in jeder Vollzugsanstalt machen Drogen und Sexualität auch in Hindelbank Probleme, denen man sich stellen muss», kontert Direktorin Marianne Heimoz. «Im Hinblick auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erachte ich es als verfehlt, in einer Strafanstalt Verhältnisse schaffen zu wollen, die mit der Realität in der Freiheit nichts zu tun haben. Eine Isolation der drogenkranken Insassinnen würde bedeuten, dass sie sozusagen Gefangene unter Gefangenen sind.»
Deshalb sind in den Wohngruppen Spritzenautomaten aufgestellt. «Wir können Drogenkranke nicht zur Abstinenz zwingen», sagt Marianne Heimoz. «Vielmehr versuchen wir, mit Spritzen-, Methadon- und kontrollierter Heroinabgabe sowie mit auf Abstinenz ausgerichteten Programmen den drogenabhängigen Frauen gerecht zu werden.» Wer beim Kiffen erwischt wird, muss den Joint abgeben, wird aber nicht mit Arrest bestraft. Die Betreuenden haben jedoch die Pflicht, den Drogenkonsum mit der Insassin zu thematisieren. «Wir haben uns entschieden, jene Praxis zu übernehmen, die auch draussen gilt», sagt Heimoz. «Das Einsperren ist ein untaugliches Mittel, um Drogenkranke von ihrer Sucht wegzubringen.»
Das von Marianne Heimoz in Hindelbank praktizierte Strafvollzugskonzept heisst «Tataufarbeitung und Wiedergutmachung». «Um die Wiedereingliederung zu fördern», so die Direktorin, «wird darauf hingearbeitet, dass die Insassinnen ihre Verantwortung akzeptieren lernen, ihre Denkmuster hinterfragen und sich zu ändern beginnen.» Bei Viviane Bruchez hat diese Veränderung der Denkmuster schon längst stattgefunden. «Eigentlich weiss ich gar nicht, was ich hier noch soll, ausser sinnlos meine Zeit totzuschlagen», erklärt sie. «Ob ich Hindelbank als besserer Mensch verlassen werde, weiss weder ich noch sonst jemand. Sicher bin ich hier jedoch kein schlechterer Mensch geworden.»
Der Sinn der Strafe wird hinterfragt
Auch Alice Furrer hat sich seit dem Haftantritt mit ihrer Tat «bis zum Gehtnichtmehr» befasst. «Bereits in Paraguay habe ich nie mehr Kokain konsumiert und einen neuen Lebensinhalt gefunden», beteuert sie. «Ich sehe deshalb beim besten Willen nicht ein, welchen Zweck die Bestrafung noch haben soll. Anstatt den Steuerzahlern zur Last zu fallen, könnte ich in der Freiheit durch Arbeit meinen Lebensunterhalt selber finanzieren.»
Furrer stösst sich auch an der Tatsache, dass es in der Schweiz keine offenen Anstalten für Frauen gibt. «Offenbar hat die in der Bundesverfassung verankerte Gleichberechtigung diesbezüglich keine Gültigkeit. Es gibt nicht wenige Insassinnen in Hindelbank, die, wenn sie Männer wären, in offenen Anstalten untergebracht wären – wenn überhaupt.»
Um die herbeigesehnte Freiheit noch vor dem regulären Entlassungstermin zu erlangen, hat sich Furrer zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen. Letzten September reichte sie beim Zürcher Regierungsrat ein Begnadigungsgesuch ein. Diesem legte sie einen handschriftlichen Brief ihres ehemaligen Arbeitgebers in Paraguay bei. «In Anbetracht der Wiedergutmachung appelliere ich an die zuständige Schweizer Behörde, Frau Furrer zu begnadigen und das Strafmass auf eine erzieherische Massnahme zu beschränken.» Eine Antwort steht noch aus.