Der Feind im Körper
Der Körper attackiert sich selbst - die Diagnose Morbus Bechterew ist ein Schock. Unser Autor erzählt, wie er sie erlebt und was ihn gerettet hat.
Veröffentlicht am 4. Februar 2019 - 17:03 Uhr,
aktualisiert am 31. Januar 2019 - 11:31 Uhr
«Die Diagnose der Spezialistin traf mich unvorbereitet. Ich war Mitte 30 und hatte nach jahrelangen Rückenschmerzen eigentlich nur ausschliessen wollen, dass eine Autoimmunerkrankung deren Ursache war. «Sie haben definitiv Morbus Bechterew», sagte die Professorin und schaute mich ernst durch ihre randlose Brille an.
Ich war geschockt. Es war nicht so, dass ich nie von der Erkrankung gehört hätte, die auch als Spondylitis ankylosans bezeichnet wird. Ich hatte gelesen, dass es sich um eine Form von Rheuma handelt, bei der die Wirbelsäule zunehmend versteift, bis hin zum Buckel und einer Bambuswirbelsäule – so genannt, weil die Segmente unbeweglich wie bei der zähen Pflanze miteinander verwachsen.
«Hier bildet sich Knochensubstanz, die nicht hierhergehört.»
Behandelnde Ärztin
Die Ärztin hängte mein Röntgenbild an den Leuchtschirm. Mit dem Finger tippte sie dorthin, wo der Beckengürtel an der Wirbelsäule ansetzt – auf die Kreuzdarmbeine respektive Iliosakralgelenke. Die synonym gebrauchten Bezeichnungen kannte ich schon, denn dort, wo diese Gelenke sitzen, schoss mir in unregelmässigen Abständen der Schmerz hinein. Er machte mein Gehen, insbesondere nach dem Aufstehen morgens, oft zu einem Hinken und mein Leben an manchen Tagen zur Qual.
Auf dem Röntgenbild waren im Gelenkspalt weisse Sprenkel zu sehen. «Hier bildet sich Knochensubstanz, die nicht hierhergehört», sagte die Ärztin. «Das Gelenk versteift, die Krankheit beginnt meistens in den Iliosakralgelenken und kann sich von dort weiter ausbreiten.»
Morbus Bechterew haben laut der Patientenvereinigung 0,5 Prozent der Schweizer. «Die Dunkelziffer ist sehr hoch», sagt Raphael Micheroli, Oberarzt in der Ambulanz für Spondylarthropathien am Unispital Zürich, der über die Erkrankung forscht. «Bei vielen Patienten, insbesondere mit leichten Verlaufsformen, wird die Krankheit nicht frühzeitig erkannt, oder Ärzte diagnostizieren unspezifischen Kreuzschmerz.»
Stattdessen zählt Morbus Bechterew zu den chronisch-entzündlichen, rheumatischen Erkrankungen. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung – das Immunsystem greift den eigenen Körper an. Solche Krankheiten sind weit verbreitet, mehr als fünf Prozent der Bevölkerung sind von den über fünfzig verschiedenen Autoimmunerkrankungen betroffen.
Die bekanntesten sind die rheumatoide Arthritis, bei der die Gelenke anschwellen, die Schuppenflechte, die mit Hautausschlag und starkem Juckreiz einhergeht, die Multiple Sklerose, bei der die Myelinscheiden der Nerven angegriffen werden und es deshalb zu neurologischen Störungen kommt, und die Basedowsche Erkrankung, bei der vermehrt Hormone der Schilddrüse gebildet werden und das Organ sich oft vergrössert.
Auch Diabetes Typ 1, also die Form der Zuckerkrankheit , die schon in der Kindheit auftritt, wird durch eine Autoimmunreaktion ausgelöst – diese zerstört die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse, sodass das Hormon fehlt und der Blutzuckerspiegel nicht mehr herunterreguliert werden kann.
Die Ärztin untersuchte, ob ich mich noch bewegen konnte, und fand keine Einschränkung. «Sie sind im Anfangsstadium, kommen Sie bitte einmal im Jahr zur Kontrolle», sagte sie und steckte mir ein Rezept für ein neuartiges und teures Schmerzmittel zu.
«Dieser Feind liess sich nicht abwehren. Ich fühlte mich ohnmächtig.»
Frederik Jötten, Autor
Später recherchierte ich über die Erkrankung: Bei Morbus Bechterew greift das Immunsystem das eigene Knorpelgewebe an. Der Körper reagiert darauf mit Bildung von Knochensubstanz, was im Röntgenbild durch weisse Punkte in den Gelenkspalten zu sehen ist. Dadurch versteifen Gelenke, vor allem in der Wirbelsäule.
Unheimlich. Mein Körper, den ich bislang mit einer gesunden Lebensweise zu stärken versucht hatte und der mir das mit einer guten Gesundheit gedankt hatte, richtete sich gegen sich selbst. Ich fühlte mich ohnmächtig. Denn anders als ein äusserer Erreger liess sich dieser Feind nicht abwehren.
Wenn man sich aber näher mit dem Immunsystem beschäftigt, erscheinen Autoimmunreaktionen nicht mehr so rätselhaft. Sie können als Überreaktion einer intakten Immunabwehr auftreten. Krankheitserreger haben charakteristische Proteine – an diesen erkennt die Immunabwehr sie. Der Körper produziert Milliarden von Immunzellen, die jeweils eine Proteinstruktur identifizieren.
Dies geschieht nach dem Zufallsprinzip, sodass auch Immunzellen entstehen, die körpereigene Proteine erkennen können. Die meisten Zellen, die körpereigene Strukturen identifizieren können, werden allerdings gleich nach der Entstehung wieder aussortiert und abgetötet. Damit sie sich nicht gegen den eigenen Körper richten anstatt gegen schädliche Eindringlinge. Ist dieser Prozess gestört, kann eine Autoimmunerkrankung die Folge sein. Dieser direkte Mechanismus ist jedoch selten.
Die häufigere Ursache von Autoimmunerkrankungen ist folgende: Nicht alle Immunzellen, die körpereigene Strukturen erkennen, können abgetötet werden. Einige werden nämlich noch gebraucht: weil sie auch Erreger erkennen, die ihrerseits körperähnliche Strukturen haben. Gewisse Erreger tarnen sich so. Bei Gesunden wird die Aktivität dieser Immunzellen durch sogenannte regulatorische T-Zellen gedämpft. Sie benötigen dazu einen Botenstoff namens Interleukin-2. Dieser Regulationsmechanismus ist bei Autoimmunerkrankungen oftmals gestört.
Warum der Einzelne eine Autoimmunerkrankung entwickelt, ist jedoch unklar. Es gibt eine genetische Komponente, aber es müssen auch andere, noch unverstandene Faktoren eine Rolle spielen.
Therapiert werden Autoimmunerkrankungen oft mit Kortikosteroiden (umgangssprachlich bekannt als Kortison), die Entzündungsprozesse dämpfen. «Diese Substanzen wirken rasch, die Dosis sollte aber schnell wieder reduziert werden, weil sie im Körper viele unangenehme Nebenwirkungen haben können», sagt Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie am Unispital Zürich und Professor für Klinische Immunologie an der Uni Zürich.
Bei Morbus Bechterew wirken die Kortikosteroide zudem kaum. Seit einigen Jahren setzen Ärzte bei der Therapie verstärkt auf sogenannte Biologika – das sind industriell hergestellte Antikörper gegen Botenstoffe, die Entzündungen hervorrufen. «Diese Medikamente wirken spezifischer als Kortikosteroide, weil sie einzelne entzündungsfördernde Botenstoffe, zum Beispiel den Tumor-Nekrosefaktor alpha, hemmen», sagt Boyman.
In meinem Befund stand: «Es besteht glücklicherweise noch nicht die Indikation zur Einleitung einer Anti-TNF-alpha-Therapie.» Das «noch» klang nach einer düsteren Zukunft. Es bedeutete, dass ich, wie mir die Ärztin bestätigt hatte, bislang mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen, Naproxen oder Diclofenac auskam. Diese Mittel wirkten tatsächlich gut – typisch bei den meisten rheumatischen, nicht aber sonstigen Autoimmunerkrankungen.
«Die Medikamente schlucken, und das wars? Das kam mir vor wie Aufgeben.»
Frederik Jötten
Schmerzfrei war ich trotzdem selten. Ausserdem reichen die Nebenwirkungen bei Daueranwendung von Nierenschäden bis zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und können sogar tödlich sein. Das galt auch für das neuartige Schmerzmittel, auch ein NSAR, das die Spezialistin mir verschrieben hatte.
Dieses schlucken, und das wars? Das kam mir vor wie Aufgeben. Ich wollte aktiv etwas tun. Zudem: Gegen meine Rückenschmerzen halfen doch Dehnübungen und Massagen. Sprach das nicht eher dafür, dass die Muskulatur die Ursache war?
Ich zweifelte an meiner Diagnose und stellte mich deshalb – ohne von der Morbus-Bechterew-Diagnose zu erzählen – in einem interdisziplinären Zentrum vor. Dort kämpfen Orthopäden, Physiotherapeuten und Psychologen gemeinsam gegen Rückenschmerzen.
Ich lernte Übungen, um meine tiefe Bauch- und Rückenmuskulatur zu kräftigen sowie meine Wirbelsäule beweglich zu halten. Eine Psychologin klebte mir Elektroden auf den Rücken und machte mir durch Biofeedback klar, dass Stress im Kopf meine Schmerzen verstärkte. Und über allem stand die Maxime: bloss nicht schonen, wenn es weh tut. Immer weiterbewegen.
«Sich ein bisschen zu bewegen, reicht nicht – man sollte etwa beim Ausdauertraining 60 bis 80 Prozent des Maximalpulses erreichen, damit es wirksam ist.»
Karin Niedermann, Professorin für Physiotherapieforschung
Das beherzigte ich. Ich machte zusätzlich zur Gymnastik Krafttraining und reduzierte das Gewicht nicht mehr, wenn ich Rückenschmerzen hatte. Ich ging auch weiter joggen , fuhr Ski und Kajak. Es funktionierte: Die Symptome wurden nicht stärker, sondern schwächer.
«Beweglichkeits-, Kraft- und Ausdauertraining lindern die Symptome bei Morbus Bechterew», sagt Karin Niedermann, Professorin für Physiotherapieforschung an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, die in einer Metastudie die Wirkung von Sport auf die Krankheit untersucht hat. «Sich ein wenig bewegen reicht nicht; man sollte zwei- bis dreimal wöchentlich trainieren und beim Ausdauertraining 60 bis 80 Prozent des Maximalpulses erreichen, damit es wirkt.» Der Grund dafür sind wohl die entzündungshemmenden Stoffe, die die Muskulatur beim Sport ausschüttet .
Ich wusste das zum Zeitpunkt meiner Morbus-Bechterew-Diagnose nicht. Aber ich blieb meinem Sportprogramm treu, einfach weil es sich gut anfühlte – von der morgendlichen Gymnastik über Krafttraining, Joggen bis zum Wildwasserpaddeln und Skifahren .
Letzteres nicht unbedingt das, was man erwarten würde von einem Patienten, dem die Versteifung seiner Gelenke droht. Aber davon merke ich bis heute nichts. Schmerzen habe ich in dem Bereich, der mir zur Zeit der Diagnose Probleme bereitete, nur noch selten.
Natürlich gibt es viele Menschen, deren gesamtes Leben durch eine Autoimmunerkrankung überschattet wird. Ich habe Morbus-Bechterew-Patienten kennengelernt, die eine versteifte Wirbelsäule und einen Buckel entwickelt hatten. Vielleicht habe ich also bis jetzt einfach Glück gehabt, dass Morbus Bechterew bei mir nicht derart hart zugeschlagen hat. Aber wenn man eines lernen kann aus meiner Geschichte und der Studienlage: Es ist immer besser, sich zu bewegen, als es sein zu lassen.