«Irgendwann muss das Leiden ein Ende haben»
Wer es so will, soll sein Leben selbst abschliessen dürfen: Markus Reutlinger, 65, begleitet Sterbewillige in den Tod. Eine Tätigkeit, die ihm immer wieder viel abverlangt.
Veröffentlicht am 11. März 2011 - 17:10 Uhr
Die Wirbelsäule einer Frau, die an Osteoporose litt, brach innert eines Jahres acht Mal. Zuletzt gossen die Ärzte einige ihrer Wirbel mit Gips aus. Die Frau hatte einfach nur noch unerträgliche Schmerzen, Tag und Nacht. Bei einem Mann mit Magen- und Darmkrebs entleerte sich der Darm über Mund und Nase, alle anderen Wege waren durch Geschwüre verschlossen. Diese Menschen wünschten sich nur noch etwas: in Würde ihr Leben abschliessen zu dürfen.
Als Lehrer und Psychologe war ich stets bemüht, die Anliegen von Menschen aufzunehmen und dazu beizutragen, in Krisen Lösungen zu finden. Zehn Jahre war ich in der Drogentherapie tätig und habe mich bis zur Belastungsgrenze mit Fragen zu Leben und Tod beschäftigt, habe miterleben müssen, wie junge Menschen starben. In einer späteren Phase verlegte ich mich auf Familientherapie und Schulcoaching. Mit dem Tod wurde ich erst wieder konfrontiert, als meine Mutter und meine Schwiegereltern kurz nacheinander starben.
Ich bin schon lange Mitglied des Sterbehilfevereins Exit Schweiz. Das steht auch in meiner Patientenverfügung – ich bin leidenschaftlicher Motorradfahrer und wollte ausschliessen, jemals ohne Bewusstsein an lebenserhaltenden Maschinen zu hängen. Vor einigen Jahren arbeitete ich als Seminarleiter für Exit. Da fragte mich ein Vorstandsmitglied, ob ich mich als Freitodbegleiter engagieren wolle. In der Ausbildung begleitete ich ein Jahr lang erfahrene Mitglieder des Freitodbegleiterteams zu Einsätzen und durchlief zum Abschluss ein Beurteilungsverfahren an der Uni Basel. Seit letztem Oktober bin ich nun ausgebildeter Freitodbegleiter, arbeite wie meine Kollegen ehrenamtlich.
Jedem begleiteten Freitod geht ein intensiver Prozess voraus, der Wochen und Monate dauern kann. In dieser Zeit erörtere ich mit dem sterbewilligen Menschen immer wieder Alternativen zum Freitod und kläre zwingend vier Punkte: Ist die Person urteilsfähig? Ist der Sterbewunsch wohlerwogen? Ist der Sterbewunsch konstant? Übt irgendwer Druck aus? Im Zweifelsfall ziehe ich psychiatrische, medizinische oder andere Fachleute bei. Familie und Freunde sowie oft der Hausarzt sind sowieso in die Abklärungen integriert. Schliesslich schreibe ich einen Bericht an Exit.
Freitodbegleitung erfordert ständige Auseinandersetzung. Abt Martin Werlen sagte in einer TV-Diskussion, hinter jedem Leiden im Sterben liege ein Segen. Ich finde, in schwerem, aussichtslosem Leiden liegt irgendwann kein Segen mehr. Es muss ein Ende haben. Dennoch gilt es für mich seit der ersten assistierten Freitodbegleitung, die intensive Emotionalität des Augenblicks auszuhalten und mit ihr umgehen zu lernen. Mich begleitet der Gedanke wie ein Mantra im Alltag: Es geht nicht um mich, es geht um den leidenden Mitmenschen mit seinem Sterbewunsch. Ich begleite ihn und akzeptiere seinen Entscheid.
Verarbeitung ist mir wichtig, um gesund zu bleiben. Ich drücke zum Beispiel innere Themen und Bilder in Eisenplastiken aus. Dabei geht es ums Herstellen und ums Loslassen – ich habe auch schon Skulpturen ausgestellt und danach alle weggeworfen. Einige haben allerdings Bestand, jene etwa am Bahnhof Hüntwangen. Wichtig sind auch die Spaziergänge mit meinem Hund.
Ich habe ein Buch geschrieben, das sicher ein Teil meiner Verarbeitung des Erlebten ist. Ich schildere darin die begleiteten Freitode in meinem Ausbildungsjahr, die damit verbundenen Krisen, reflektiere die verschiedenen Geschichten, denke nach über Würde, das Leben, das Sterben, den Tod. Wir sollten uns mehr mit dem Tod beschäftigen, er gehört zum Leben. Ich wollte schildern, was Freitodbegleitung konkret bedeutet. Das schadet der abgehobenen Diskussion nicht, die derzeit über Sterbehilfe geführt wird. Mein Manuskript ist eben fertig geworden, einen Verlag suche ich noch.
Entscheidet sich jemand nach all den Vorgesprächen und Abklärungen definitiv für einen begleiteten Freitod, ruft die Person bei Exit an: «So, ich möchte jetzt einen Termin.» Die Geschäftsstelle fertigt zwei Dossiers an, eines für den Amtsarzt, eines für die Polizei. Wir gehen dann zu der sterbewilligen Person. Wie während des ganzen Prozesses arbeiten wir mit einer Checkliste, den Ablauf der eigentlichen Freitodbegleitung rapportieren wir minutiös.
In der Regel sind Angehörige dabei, es herrscht eine vertraute Atmosphäre. Die sterbewillige Person verabschiedet sich und geht diesen letzten Schritt je nach Persönlichkeit aufgeregt oder ruhig – das Ringen um Fragen zum Sterben ist oft längst vorbei. Sie nimmt dann ein Magenberuhigungsmittel ein und wenig später das Sterbemittel – beide Male wird die Person nochmals gefragt, ob dies ihrem festen Willen entspreche. Kurz nach Einnahme des Sterbemittels verspürt die Person eine starke Müdigkeit, bald darauf schläft sie ein.
Einen Monat nach dem Freitod frage ich auf Wunsch bei den Angehörigen nach, wie es ihnen geht. Oft erhalte ich Briefe voller Dankbarkeit, gerade auch von jenen, die anfänglich Bedenken hatten. Dem Freitod gehen ein langer Prozess und langes Leiden voraus. Nach dem Tod kommt es zu Dankbarkeit und Trauer. Schliesslich findet eine Auflösung der Trauer statt, trotz aller Verzweiflung und aller Wut, die es auch geben kann. Es ist die Abrundung eines Lebens da, ein Aufatmen. Die Leidenszeit ist abgeschlossen. Das Bild ist vollendet.
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