Manchmal zum Kopfschütteln
Doktor Youtube erfreut sich grosser Beliebtheit. Gerade in Zeiten von Corona. Doch Vorsicht: Internetdiagnosen und virtuelle Coaches bergen Risiken.
Veröffentlicht am 30. April 2020 - 15:12 Uhr
Verspannungen zwischen den Schulterblättern? Fitness-Professor Stephan Geisler hat jahrelang nach der ultimativen Dehnübung gesucht und präsentiert sie nun seinen 34'600 Abonnenten auf Youtube: das rechte Bein im Sitzen anziehen, mit dem rechten Arm von innen um das Bein greifen «und mit dem linken Arm hinter dem Rücken versuchen, die rechte Hand zu packen – das Schulterblatt wird mechanisch ausgehebelt». Physiotherapeut Gerd Ibele drückt auf «Online-Physiotherapie» für 30'900 Abonnenten die rechte Faust in die Beckenschaufel und schwingt das Bein, um den Ischias-Schmerz loszuwerden. Und auch Medical-Fitness-Trainer Luke Brandenburg plädiert dafür, die Verantwortung für den Körper selbst wahrzunehmen. 86'000 Abonnenten folgen seinen Videobotschaften.
Was früher VHS-Videos waren, in denen Jane Fonda Aerobic-Übungen vorzeigte, hat sich zu einem einträglichen Geschäft mit Gesundheits- und Fitness-Apps und -Videos auf allen Social-Media-Kanälen entwickelt. Ein Trend, der auch manch einem Physio-Guru Millionen von Klicks und einen entsprechenden Verdienst beschert. Dazu kommen oft Sponsorenbeiträge und der Erlös aus dem Verkauf von Produkten. Vor allem Youtube bietet Tutorials für fast jedes Leiden, denn jedermann kann – ungeachtet der fachlichen Kompetenz – eigene Videos hochladen.
Zu den erfolgreichsten Influencern gehören im englischsprachigen Raum die Physiotherapeuten Bob & Brad mit 1,86 Millionen Followern. Für sie ist der Körper vergleichbar mit einem Auto – wenn etwas nicht mehr funktioniert, «you just have to fix it». Dazu liefern sie einminütige Übungen zur Heilung von so ziemlich allem. Aber auch die Multiple-Sklerose-Gesellschaft bietet MS-Betroffenen im Rollstuhl Youtube-Übungen für den Alltag an – wie die «Armstütz»-Übung zur Stärkung der Armmuskeln.
Braucht es also den Physiotherapeuten nicht mehr? Cornelia Furrer, die beim Physiotherapie-Dachverband Physioswiss für die Professionsentwicklung zuständig ist, differenziert: «Ein Video ersetzt keinen Coach aus Fleisch und Blut. Aber die Zeiten haben sich geändert. Früher haben die Therapeutinnen die Übungen skizziert. Heute gibt es Videos, die sie mit dem Patienten aussuchen oder manchmal selbst machen.» Das sei heute auch ein Thema in der Berufsausbildung. Dabei zeige sich aber, dass der Aufwand, für den konkreten Fall passende Apps oder Videos zu finden, beträchtlich sein könne. Wichtig ist ihr, «dass der erste Schritt nicht übers Netz geschieht, sondern über eine medizinisch ausgebildete, reale Person, die eine Diagnose stellen kann». Schliesslich gehe es um gesundheitliche Leiden.
Es gibt Hunderte von Videos, die die Heilung des Karpaltunnelsyndroms, des Tennisarms und Golfer-Ellenbogens versprechen oder die Lymphdrainagen im Gesicht anwenden wollen (Physiotherapeut Marvin Seidel mit 11'900 Abonnenten). Besonders beliebt sind Beiträge gegen Rücken-, Nacken- und Halswirbelsäulenschmerzen: Die Schmerzspezialisten Liebscher und Bracht zeigen ihren 772'000 Abonnenten, was zu tun ist gegen den schmerzenden Nacken: Man zieht den Kopf während zweier Minuten mit der Hand seitlich-diagonal nach unten. «Der Dehnungsschmerz muss dabei auf einer Skala von 0 bis 10 unter 10 bleiben.» Doch wie weiss der User, wann 10 erreicht ist? «Bei 10 kann man nicht mehr atmen.»
Einige dieser Videos lösen bei Isabelle Benguerel von der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Manuelle Therapie (SAMT) Kopfschütteln aus. In ihrer Praxis in Chiasso hat sie täglich mit Nacken-, Halswirbelsäulen- und Rückenproblemen zu tun. Sie warnt: «Falsch gemachte Hals-Nacken-Übungen können zu Schäden an der Wirbelsäule führen.» Man müsse dort und im unteren Rücken jeden Fall individuell betrachten und dürfe sich nicht auf eine Internetdiagnose verlassen. Sie demonstriert dies am Beispiel der im Netz oft propagierten Übung gegen Rückenschmerzen, bei der man die Hände in die Seite stemmt und sich nach hinten lehnt. «Das kann bei einer Diskushernie helfen, wobei entscheidend ist, wo die Hernie sitzt, nicht aber bei einer Arthrose.» Was ebenfalls passieren könne: dass man bei Kraftübungen ein gefährliches Hohlkreuz mache, weil der Rücken nicht richtig stabilisiert werde.
Isabelle Benguerel verurteilt die Apps und Videos nicht pauschal. Gerade die Coronakrise zeige, wie nützlich sie sein können. Bei Übungen gegen den Fersensporn, den Tennisarm oder fürs Stretching könne man nicht viel falsch machen, solange keine Schmerzen aufträten. «Die Onlineangebote übernehmen die Rolle eines Personal Trainers. Ideal ist die Kombination von Videoübungen und analoger Physiotherapie .» Weil es immer mal wieder Kontrollen brauche – auch in Coronazeiten.
Wenn es nach der Krankenkasse CSS geht, können diese künftig auch von einem digitalen Physiocoach vorgenommen werden, den die Kasse derzeit entwickelt: Mittels Mixed-Reality-Brille macht er die Übungen vor. Sobald der Nutzer elektronische Pads an seinem Körper befestigt hat, kann ihm der Coach Feedback geben. Was futuristisch anmutet, wird vermutlich schon bald Realität werden.
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