Beobachter: Bei wie viel Prozent der Bevölkerung sind Rückenschmerzen vorwiegend psychisch bedingt?
Susanne Hartmann-Fussenegger: 90 Prozent der Schweizer haben schon mal Rückenschmerzen gehabt. Bei 80 Prozent verschwinden sie von allein, beim Rest bleiben sie oder kommen immer wieder. Wir sprechen dann vom chronischen Rückenschmerz – und bei chronischem Schmerz ist die Psyche immer beteiligt.
 

Beobachter: Wie kann die Psyche unmittelbar Schmerz verursachen?
Hartmann-Fussenegger: Die Patienten reagieren sehr empfindlich, wenn man sagt, dass ihr Schmerz psychisch bedingt ist – und es stimmt ja auch nicht. Der Schmerzreiz wird über die Nerven ins Grosshirn geleitet. Dort fügt das Nervensystem die Vorerfahrungen eines Menschen hinzu. Angenommen, ich habe mir einst das Bein gebrochen. Dann habe ich gelernt: Es gibt erst mal eine Phase, in der ich starke Schmerzen habe. Wenn damals der Bruch gut verheilt ist, weiss ich aber auch: Das hört auf, am Ende sind die Schmerzen verschwunden. Es gibt aber auch Menschen, bei denen der Schmerz nicht schnell abklingt. Ein solcher Patient fügt diese negative Erfahrung hinzu, wenn er wieder Schmerzen erleidet. Man spricht vom Schmerzgedächtnis.
 

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Beobachter: Kann auch Stress Schmerz verursachen?
Hartmann-Fussenegger: Es gibt die Theorie, dass Stress empfindlich für Schmerz macht. Auch sind stressbedingte Verspannungen oft der Anfang einer Schmerzspirale. Der Körper verspannt sich durch Stress, man bekommt dadurch einen Hexenschuss, der Schmerz schiesst ins Bein, man nimmt eine Fehlhaltung ein. Dadurch verkrampft sich die Muskulatur noch stärker und verursacht plötzlich auch noch Schmerzen in der Hüfte oder auf der gegenüberliegenden Seite des Rückens.
 

Beobachter: Sind vor allem Leute betroffen, die besonders fleissig und gewissenhaft sind?
Hartmann-Fussenegger: Menschen mit perfektionistischen Persönlichkeitszügen sind stark gefährdet für stressbedingte Schmerzen.
 

Beobachter: Warum dauert es oft so lange, bis ein Patient auf psychische Ursachen seiner Rückenschmerzen untersucht wird?
Hartmann-Fussenegger: Patienten akzeptieren oft nicht, dass ihr Schmerz etwas mit der Psyche zu tun hat. Sie spüren den Schmerz im Rücken und denken, da muss die Ursache sein. Oft findet man diese aber nicht. Es hat wahrscheinlich einen körperlichen Auslöser gegeben, aber der ist nicht nachweisbar. Der Schmerz hat sich verselbständigt. Schmerzen, die lange andauern, haben meistens verschiedene Komponenten. Schmerz ist biopsychosozial, das heisst, neben dem Körper wirken die Psyche und das soziale Umfeld auf den Schmerz.

 

«Patienten reagieren empfindlich, wenn man sagt, dass ihr Schmerz psychisch bedingt ist – und es stimmt ja auch nicht.»

Susanne Hartmann-Fussenegger

 

Beobachter: Wie reagieren Patienten auf diese Nachricht?
Hartmann-Fussenegger: Manchen fällt auf: Wenn ich mehr Stress habe, dann habe ich auch mehr Schmerzen. Oder wenn ich traurig bin, vertrage ich die Schmerzen schlechter, als wenn ich gut gelaunt bin. Diese Zusammenhänge erleben viele Patienten unbewusst, aber manchmal hilft es, ihnen den Spiegel vorzuhalten, damit sie sich auf das biopsychosoziale Krankheitskonzept einlassen können. Genauso was den sozialen Teil betrifft. Wie geht meine Umwelt mit meinem Schmerz um? Wie wird er durch meinen Beruf beeinflusst? Macht der Job den Schmerz schlimmer, weil ich durch ihn belastet bin ? Oder verbessert er die Problematik, weil ich dort Erfolgserlebnisse, soziale Kontakte und Ablenkung habe?
 

Beobachter: Viele Menschen mit Rückenschmerzen machen eine Odyssee von Arzt zu Arzt ohne Besserung – was läuft falsch in deren Behandlung?
Hartmann-Fussenegger: Oft wollen die Patienten eine schnelle Lösung. Mit einer Operation Rückenschmerzen Oft wird zu schnell operiert oder mit Tabletten soll der Schmerz verschwinden. Wie in einer Werkstatt: Bitte reparieren! Das funktioniert aber nicht. Beim chronischen Schmerz ist ein wichtiger Therapieansatz, dass die Patienten selbst bereit sind, aktiv zu sein oder etwas in ihrem Verhalten zu ändern, etwa ein regelmässiges körperliches Training trotz den Schmerzen aufzunehmen, um Verspannungen entgegenzuwirken.
 

Beobachter: Bei vielen Ärzten ist anscheinend vom biopsychosozialen Modell des Schmerzes auch noch nicht viel angekommen.
Hartmann-Fussenegger: Das ist das Problem unserer spezialisierten Medizin. Jeder Experte fokussiert auf sein Gebiet und versucht mit seinen Mitteln zu helfen. Zu mir kommen Patienten, die bereits zehnmal an der Wirbelsäule operiert sind – und bei denen sich die Schmerzen nicht verbessert haben. Ein Dilemma! Der Patient will eine schnelle Lösung, und der Behandler bietet das an, was er kann. Aber wenn es der falsche Weg ist Arzt will nicht operieren Kann ein Eingriff verweigert werden? und die ganzheitliche Sicht fehlt, erreicht man das Ziel nicht.

Beobachter: Wie sollte man sich verhalten, wenn man Rückenschmerzen hat?
Hartmann-Fussenegger: Zunächst muss geklärt werden, ob es eine Lähmung oder Gefühlsstörungen gibt. Das weist auf einen akuten Bandscheibenvorfall hin, der schnell behandelt werden muss. Bei unspezifischen Schmerzen sollte man abwarten, entspannen, vielleicht mal ein warmes Bad nehmen und darauf achten, dass man in Bewegung bleibt. Wenn der Schmerz nicht nachlässt, sollte man zum Hausarzt gehen. Wenn es die erste Rückenschmerz-Episode ist, wird er eine Physiotherapie verordnen. Falls das nicht hilft, sollte man nach sechs Wochen eine ganzheitliche Beurteilung durch einen Schmerzspezialisten anstreben.

 

«Es gibt Dinge, die muss man akzeptieren. Nach einer Voroperation am Rücken habe ich eine Narbe, das Gewebe ist nicht mehr wie vor dem Eingriff.»

 

Beobachter: Was macht dieser anders als andere Mediziner?
Hartmann-Fussenegger: Er führt ein ausführliches Erstgespräch, in dem er auch psychische und soziale Aspekte anspricht. Anhand der Ergebnisse erarbeitet er in der multimodalen Therapie ein koordiniertes Therapiekonzept. Beispiel: Ein Mann ist arbeitsunfähig wegen Rückenschmerzen, möchte aber wieder zurück in den Job Rückenschmerzen Wenn Stehen, Gehen und Sitzen schmerzt . Schmerzmediziner, Psychologe, Physio- und Ergotherapeut setzen sich zusammen. Dann sagt die Physiotherapeutin: Der Patient muss für seine Arbeit zwei Stunden am Stück sitzen können, wir müssen Muskulatur aufbauen. Die Ergotherapeutin sagt: Wir müssen den Arbeitsplatz anpassen. Die Psychologin sagt, der Patient sollte in einer Psychotherapie sein Angstvermeidungsverhalten abbauen und seinen Selbstwert stabilisieren.
 

Beobachter: Was ist das Ziel der multimodalen Therapie?
Hartmann-Fussenegger: Wir suchen mit dem Betroffenen ein konkretes Ziel, zum Beispiel dass ein Patient bei seiner Chorprobe wieder eine Stunde stehen können wird. Wenn wir das erreicht haben, können wir das nächste Ziel in Angriff nehmen. So schaffen wir Erfolgserlebnisse – und die sind wichtig, damit der Patient motiviert bleibt für die Therapie.
 

Beobachter: Muss man als Schmerzpatient also lernen, mit einem gewissen Mass an Schmerz zu leben?
Hartmann-Fussenegger: Es gibt Dinge, die muss man akzeptieren. Nach einer Voroperation am Rücken habe ich eine Narbe, das Gewebe ist nicht mehr wie vor dem Eingriff. Ich kann meine Muskulatur stärken und so lernen, etwa wieder länger zu stehen oder zu gehen. Wahrscheinlich werde ich aber trotzdem manchmal Schmerzen haben. Für diesen Fall kann ich aber Strategien entwickeln, um den Schmerz zu kontrollieren – zum Beispiel genügend Pausen, Entspannungstechniken, Ablenkung mit freudvollen Tätigkeiten. Damit kann ich trotz Schmerzen aktiv sein und ein gutes Leben haben.

Zur Person

Susanne Hartmann-Fussenegger, 44, ist leitende Ärztin am Schmerzzentrum des Kantonsspitals St. Gallen. Sie behandelt vorwiegend Rückenschmerzpatienten. 2012 gründete sie die Interessengruppe Multimodale Schmerztherapie im Rahmen der Schweizerischen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (SGSS).

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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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