Wie schlechte Erfahrungen prägen
Eine schambehaftete Kindheitserinnerung kann einen noch lange verfolgen. Dann hilft es, den Vorfall und seine Folgen ganz nüchtern zu betrachten.
Veröffentlicht am 18. Juli 2022 - 15:36 Uhr
Frage einer Leserin: Als ich ein Kind war, stellte mich eine Tante bloss. Meine Eltern taten nichts. Das trifft mich noch heute.
Besten Dank für Ihr sehr ausführliches und persönliches Schreiben. Mit den Eltern haben Sie recht engen Kontakt, und doch gibt es dieses Thema, das Ihnen im Wege steht. Auch Sie denken, dass es eigentlich nichts wirklich Gravierendes war. An einem Geburtstagsfest wurden Sie von einer Tante vor allen blossgestellt. Ein Kommentar, der wohl eher dem Weisswein als dem Verstand geschuldet war – er betraf Ihr neues Kleid, auf das Sie so stolz waren.
Sie wurden rot, wären am liebsten vom Erdboden verschluckt worden. Sie fühlten sich völlig allein in dem Moment. Alleingelassen vor allem von Ihren Eltern, die den Spruch klar mitbekommen hatten, aber nicht reagierten, sondern einfach weiter die Gäste bewirteten. Sie merkten anscheinend nicht einmal, dass Sie anschliessend für eine Stunde allein in Ihrem Zimmer weinten, bis Ihr jüngerer Bruder Sie dann holte.
«Wir alle haben Schlüsselerlebnisse, die uns bis heute prägen.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Zumindest Ihre Mutter schien aber das Ganze sehr bewusst mitbekommen zu haben. Denn das besagte Kleid fehlte anschliessend im Schrank. Gesprochen darüber wurde nie. Bis Sie es vor ein paar Jahren zum ersten Mal thematisierten. Eigentlich müsste man eher sagen, dass Sie versuchten, es zu thematisieren, ein Gespräch war nämlich nicht wirklich möglich. Seither haben Sie mehrere Anläufe genommen. Gehört haben Sie einiges: dass Sie zu sensibel seien, dass es doch eine Bagatelle sei, dass man sich aufs Positive im Leben konzentrieren soll. Das alles war nicht heilsam, es hat die Wunde eher vergrössert.
Viele verstehen Sie sehr gut. Eigentlich haben wir alle in der Biografie Schlüsselerlebnisse, die uns bis heute prägen. Oft war es wie bei Ihnen nichts wirklich Gravierendes, nichts Lebensbedrohliches. Und doch scheint das Erlebnis einen wunden Punkt getroffen zu haben. Irgendwie waren wir an besagtem Tag in besagter Situation gerade sehr verletzlich.
Erinnern können wir uns meist noch gut an das erlebte Gefühl, häufig Angst , Scham oder Wut. Die genauen Umstände der Situation sind dann oft schon etwas weniger klar, besonders wenn wir damals noch recht jung waren.
Hilfreich können bei solchen Sachen die zwei folgenden Strategien sein:
Überlegen Sie sich, was wohl die zehn wichtigsten Ereignisse in Ihrem Leben waren, die Sie geprägt haben – und die Sie zu der Person gemacht haben, die Sie heute sind. Idealerweise nehmen Sie dafür fünf positive und fünf negative Lebensereignisse. Es müssen vor allem für Sie persönlich wichtige Ereignisse sein, vielleicht waren es eben für andere Bagatellen.
Nun überlegen Sie, welche Werte, welche Eigenschaften oder auch welche Verhaltensweisen daraus entstanden sind. Dazu machen Sie etwas Paradoxes: Auch bei den negativen Erlebnissen überlegen Sie sich, welche positiven Eigenschaften sie auslösten. Und auch bei den positiven Lebensereignissen überlegen Sie sich, ob die nicht auch eine Kehrseite haben und Eigenschaften hervorriefen, die vielleicht nicht nur positiv sind.
«Es hilft von anderen zu hören, wie sie besagte Situation erlebt haben.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Sie sprechen nicht gern vor vielen Leuten. Zugleich haben Sie ein grosses Herz und viel Verständnis für Ihren kleinen Neffen, der hyperaktiv ist und sein Verhalten noch nicht genügend steuern kann und dann oft mit Wut oder Scham reagiert. Beide Eigenschaften lassen sich auf besagtes Ereignis zurückführen.
So entsteht am Ende eine Landkarte, die Ihre positiven und negativen Lebensereignisse einordnet und illustriert, dass die alle Sie zu dem gemacht haben, was Sie heute ausmacht – mit Ihren wundervollen Eigenschaften und vielleicht auch denjenigen, die Sie im nächsten Jahrzehnt gern loswerden möchten.
Wer bestimmte Erinnerungen aus der Kindheit oder Jugend einordnen möchte, kann sich an andere Zeuginnen und Zeugen wenden. Es hilft in vielen Fällen, von anderen zu hören, wie sie besagte Situation erlebt haben. Interviewen Sie also die beiden Brüder, die Cousine, aber auch die Eltern und fragen Sie, wie sie beschreiben würden, was damals passiert ist. Dabei geht es nur um die Wahrnehmung, nicht um eine Frage von Schuld . Auch so entsteht eine andere, vielschichtigere Landkarte.
Ihre Eltern haben Mühe, zu Fehlern zu stehen oder über Schwieriges zu sprechen. Auch das hat Sie geprägt. Es hat nämlich dazu geführt, dass Sie sich bei Fehlern einfach und unkompliziert entschuldigen und Schwieriges mit Ihren Kindern immer besprechen.
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