Beobachter: Warum tragen in der Schweiz so wenige Leute eine Hygienemaske in der Öffentlichkeit?
Thomas Ihde:
Wenige in der Deutschschweiz. In Genf oder Lugano sieht es anders aus. Das hat zum Teil mit der Einschätzung der Sicherheit zu tun – bei uns ist Corona relativ abstrakt geblieben. Dazu sind wir herdenorientiert und verbringen sehr viel Zeit mit dem, was andere über uns denken. Das steuert das Ganze sehr. Wenn plötzlich die Hälfte der Leute im Zug Maske tragen würde, würde sich das umkehren.

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Also unabhängig davon, ob die Fallzahlen steigen.
Ja. Mich erinnert das an ein anderes Thema hier im Berner Oberland: Skifahren mit Helm. Das hat es traditionell nicht gegeben. Der Wechsel begann sehr langsam, Leute mit Helm waren Exoten – plötzlich ist es innerhalb eines Winters gekippt. Und es wurde völlig normal, dass man einen Helm hat. Eigentlich hatte sich am Risiko Covid-19 Wie schütze ich mich vor dem Coronavirus? selbst gar nichts geändert, aber nun fiel man ohne Helm auf.


Was sagt es über eine Person aus, wenn sie eine Maske trägt? Sagt es überhaupt etwas aus?
Es sagt etwas aus. Wir in der Schweiz verbringen sehr viel Zeit in der freien Natur. Das ist in anderen Kulturen nicht so. Die Maske hat etwas Unnatürliches. Im Spital trägt man Maske, oder der Zahnarzt hat eine an. Aber eine Maske draussen oder im Zug hat etwas sehr Unnatürliches. Das heisst: Keine Maske zu tragen ist ein Zeichen von Normalität, von Natürlichkeit und es ist auch das Zeichen für «Ich habe keine Angst». Was aber bedeuten würde, dass sich das Virus davon beeinflussen lässt, ob man Angst hat oder nicht.


Frauen und Ältere scheinen häufiger Masken zu tragen. Gehen sie das Thema rationaler an?
Man sieht vor allem, wie unterschiedlich das Sicherheitsbedürfnis ist. Die Genfer haben im Moment noch ein höheres Sicherheitsbedürfnis und sind deshalb viel eher bereit, eine Maske zu tragen. Ältere merken natürlich, wie verletzlich sie sind und sind deshalb eher bereit, mehr zu machen, um sich zu schützen Schutz vor Coronavirus So verwenden Sie die Hygienemaske richtig . Ich möchte nicht zu biologisch argumentieren, weil sich das zum Glück ja auch langsam aufweicht, aber ich denke schon, dass sich Frauen mehr für Sicherheit zuständig fühlen.


Wenn jemand als Teil einer kleinen Minderheit eine Maske trägt und sich dann etwas komisch fühlt – wie geht man mit diesem Gefühl um?
Es ist eine natürliche Reaktion, dass man sich dann unwohl fühlt. Ich würde das Gefühl akzeptieren, aber mich nicht dadurch lenken lassen, sondern mir vergegenwärtigen, was der Grund für das Maskentragen ist. Ich würde den Gedanken in den Vordergrund stellen, dass ich die Gesellschaft schützen möchte, auch wenn andere keine Maske tragen.
 

Leute ohne Maske sagen manchmal, dass es sich wie ein unausgesprochener Vorwurf anfühlt, wenn sie Maskenträger sehen. 
Ein Grossteil derjenigen, die keine Maske tragen, kennt dieses Gefühl nicht. Wenn ich es habe, ist meine Handlung in diesem Moment nicht authentisch in Bezug auf mein Wertesystem. Ich finde eigentlich etwas anderes richtig, als ich jetzt mache. Nun gilt es zu reflektieren: Ist es richtig, keine Maske zu tragen? Ist es eine Situation, in der ich wirklich gut darauf achten kann, dass ich die Sicherheitsdistanz einhalten kann? Wenn sich das schlechte Gewissen meldet, muss man sich immer wieder überlegen, wie verhalte ich mich gerade? Irgendetwas scheint da mit dem Wertesystem und der Handlung nicht aufzugehen.
 

Und im Zweifel etwas Mut haben und die Herde verlassen?
Ja, es ist wichtig, dass man nach seinem Wertesystem lebt und sich nicht von einem Herdenphänomen beeinflussen lässt. Ich glaube, jeder Raucher wäre froh, wenn er früher zu rauchen aufgehört hätte und nicht so lange mitgeraucht hätte, weil alle anderen geraucht haben.
 

Wenn einzelne Leute ohne Maske anfangen, sich bei Maskenträgern zu rechtfertigen, geht es auch um das schlechte Gewissen?
Ja, aber typischerweise gehen sich solche Leute gegenseitig aus dem Weg und treten nicht in Kontakt. Die Konfliktfreudigkeit von Schweizerinnen und Schweizern ist ja eher unterdurchschnittlich ausgeprägt.
 

Wäre eine Maskenpflicht zum Beispiel im ÖV hilfreich, weil man dann nicht mehr selbst entscheiden muss?
Damit könnte man die Gesellschaft recht entlasten, weil doch eine sehr grosse Verunsicherung da ist. Wenn ich im Zug die 2. Klasse betrachte, wahrt dort niemand die nötige Distanz, und es ist offensichtlich, dass eine Maskenpflicht herrschen müsste. Eine klarere Kommunikation wäre dort hilfreich.
 

Stichwort Kommunikation: Bundesrat und Bundesamt für Gesundheit (BAG) haben lange gesagt, die Masken bringen zu wenig, wichtiger ist der Abstand. Hat unser jetziges Verhältnis zu Masken auch damit zu tun?
Sonst lobe ich das BAG, aber dieser Punkt ist sehr schwer zu verstehen. Auch wenn die meisten Leute inzwischen gemerkt haben, dass so kommuniziert wurde, weil nicht genug Masken verfügbar waren, bleiben trotzdem Zweifel im Hinterkopf Schutz vor Coronavirus Der Masken-Mythos , dass die Masken anscheinend doch nicht ganz wirken. Wenn das BAG früher vertreten hätte, dass Skihelme nichts bringen, wäre ihre Einführung relativ schwierig gewesen. Auch das war eine Einengung, die das Ski-Erlebnis sehr verändert hat. Und Maskentragen ist etwas sehr Unangenehmes. Es ist sehr störend, die Luftfeuchtigkeit ist eine andere, Masken sind unbequem, sie haben einen Eigengeruch. Sie sind nichts, bei dem man schnell vergisst, dass man sie anhat.
 

Hätte das BAG ehrlich sagen sollen: Wir würden die Masken empfehlen, wenn wir welche hätten?
Ja. Es hätte wohl in der Bevölkerung Aufruhr gegeben, aber auch schneller bewirkt, dass die Maskenproduktion in der Schweiz angelaufen wäre, dass die Swiss Masken aus China mit Cargo-Flügen geholt hätte. Ich glaube, es hätte eine Dynamik gegeben, die schlussendlich der Bevölkerung genützt hätte.

«Asiaten tragen Maske, wenn sie sich in irgendeiner Form unsicher fühlen. Ähnlich wie wir eine Sonnenbrille tragen.»

Thomas Ihde, Psychiater

Wieso ist das Maskentragen in Asien normal und bei uns ein Problem? Hat das wieder mit der Beziehung zur Natur zu tun?
Ich war letzten Sommer in Korea in den Bergen – Südkoreaner tragen sogar beim Bergsteigen Masken. Für sie ist das kein Widerspruch. Sie tragen aber auch sonst sehr viel mehr Schutzkleidung. Sie hatten spezielle Armschoner an und alle einen Hut. Sie schützen sich allgemein mehr. Für Asiaten ist die Maske ein Symbol für Schutz. Sie tragen Maske, wenn sie sich in irgendeiner Form unsicher fühlen. Ähnlich wie wir eine Sonnenbrille tragen, wenn wir eine Barriere zwischen uns und der Aussenwelt wollen. Arabische Frauen sagen auch, dass sie ihre Gesichtsbedeckung vor allem dann tragen, wenn sie sich unsicher fühlen.
In allen Kulturen gibt es solche Schutzphänomene und in Asien ist das die Gesichtsmaske. Wobei sie getragen wird als Schutz bei Erkältung, aber auch als Schutz bei schlechter Luftqualität und Luftverschmutzung. Das sind Assoziationen, die wir nicht haben. Und noch etwas: Wenn Asiaten erkältet sind, gilt es als sehr unhöflich, die Nase zu schnäuzen. Dann ist eine Maske wichtig, weil man sonst ständig Flüssigkeit an der Nase hätte. Hinzu kommt, dass sie 15 Jahre Erfahrung mit Sars haben.


Während des sogenannten Lockdowns war der Solidaritätsgedanke sehr bestimmend. Auch bei den Masken geht es mehr um die anderen und weniger darum, sich selbst zu schützen. Warum ist Solidarität jetzt so schwierig?
Ich erlebe es so, dass alle Sicherheitsmassnahmen mittlerweile sehr locker umgesetzt werden. Auch die Distanz wird recht schlecht eingehalten. Die Gruppengrössen haben nicht mehr so richtig gegolten, noch bevor sie aufgehoben wurden. Die Deutschschweizer scheinen das Risiko, dass sie selbst erkranken könnten oder jemand aus ihrem Umfeld, mittlerweile als sehr gering zu erachten. So dass sie den Schutz im Vergleich zu den damit verbundenen Unannehmlichkeiten nicht mehr ganz so hoch ansiedeln. Wir fühlen uns fast zu sehr in Sicherheit.
 

Zur Person

Portrait Thomas Ihde

Thomas Ihde ist Chefarzt der Psychiatrie der Spitäler fmi AG im Berner Oberland, Präsident der Stiftung Pro Mente Sana und Kolumnist des Beobachters.

Quelle: Kilian Kessler

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