Echtheit macht attraktiv
Wenn das Alter keine Rolle spielt: Manche Menschen strahlen ein Leben lang schlichtweg Schönheit aus. Was ist ihr Geheimnis?
Veröffentlicht am 4. Oktober 2012 - 13:35 Uhr
Nehmen wir als Beispiel die auf die 70 zugehende ehemalige Deutschlehrerin: Das dünne graue Haar hat sie streng nach hinten frisiert und im Nacken zum Knoten gebunden. Gesicht und Hals sind faltig, die Hände mit Altersflecken übersät. Eine Frau, die aus dem gängigen Schönheitsschema fällt. Dennoch hat sie das gewisse Etwas. Eine Bekannte nennt es die «Audrey-Hepburn-Aura». Und diese hat nicht nur mit äusseren Merkmalen zu tun. Die Lehrerin hat zwar eine kerzengerade Haltung, ein charmantes Lächeln und ein Blitzen in den Augen. Es ist aber auch diese Präsenz, diese Herzenswärme, dieser trockene Humor. Und der Eindruck, dass sie nichts aus der Ruhe bringen kann.
Eine Frau mit Ausstrahlung. Sie selbst sagt, sie habe ihren Frieden mit sich gemacht, gelernt, auch die weniger vorteilhaften Seiten ihrer Persönlichkeit und ihr Aussehen zu akzeptieren - einen liebevollen Umgang mit sich selbst. Das Geheimnis von altersunabhängiger Attraktivität liegt darin echt zu sein. Nicht ständig Erwartungen von aussen erfüllen, einem bestimmten Bild entsprechen zu wollen. Sondern das verkörpern, was man wirklich ist. Denn: Wir alle haben einen Sinn für Echtheit, und deshalb wirkt gerade ein authentisch gelebtes Leben attraktiv.
Liest man Ratgeber für reifere Menschen, ist viel von «mentalem Anti-Aging» die Rede. Gesund zu altern habe nicht nur mit körperlicher Verfassung, mit ausreichend Bewegung und ausgewogener Ernährung zu tun, sondern sei auch Kopfsache und Gemütspflege. Daraus resultiere dann so etwas wie eine Schönheit von Geist und Seele. Praktische Tipps dazu gibt es jede Menge: Sorgen Sie für Stressbewältigung und Tiefenentspannung. Blicken Sie optimistisch in die Zukunft. Bringen Sie die grauen Zellen mit Gehirnjogging auf Trab. Und: Bleiben Sie neugierig, offen, begeisterungsfähig.
Das mag alles hilfreich sein, aber für ein zufriedenes und glückliches Leben im Alter muss eine Reihe weiterer Faktoren stimmen, wie Studien belegen: Wirtschaftliche Sicherheit gehört dazu. Ob man auf erfüllte Jahre zurückblicken kann. Darüber hinaus braucht es ein Aktivitätsniveau, das den eigenen Bedürfnissen entspricht. Wer früher quirlig war, mag es auch nach der Pensionierung sein; passiveren Naturen gefällt es als Rentner hingegen beschaulicher.
Wesentlich sind überdies soziale Kontakte. Ältere Menschen legen Wert auf die Qualität ihrer Beziehungen. Eng und persönlich müssen sie sein. Wer sich bei guten Freunden im Element fühlt oder beim Spielen mit den Enkeln die Zeit vergisst, kann daraus tiefe Befriedigung schöpfen, und die, da sind sich Experten einig, strahlt nach aussen. Ob man alt ist oder körperlich attraktiv, verliert dann an Bedeutung.
Die Lage ist paradox: Immer mehr Frauen und Männer stufen sich selbst jünger ein, als sie sind. Die Phase eines jugendorientierten Lebens hat sich ausgedehnt; weit über 60-Jährige übernehmen Verhaltensweisen, die früher den Jungen vorbehalten waren: sportlich sein, reisen, guten Sex haben. Gleichzeitig ist das Alter nicht akzeptiert. In einer Leistungsgesellschaft, in der das Prinzip «Alles ist machbar» gilt, hat man Mühe mit schicksalhaften Gegebenheiten wie Altern und Sterben.
Jugendlich, schlank, faltenfrei – lautet deshalb das propagierte Schönheitsideal. Vergessen Sie das und nutzen Sie den Vorteil des Reiferwerdens: Junge Menschen wollen und müssen sich den allgemeingültigen Normen ihrer Gruppe anpassen. Ältere dagegen können sich die Freiheit nehmen, unverwechselbar zu werden. Denn reife Schönheit ist immer individuelle Schönheit. Eine, die sich in kein Schema pressen lässt, wie die ehemalige Lehrerin zeigt.