In ihrem Zimmer standen sieben Blumensträusse, die Angehörige am Vorabend vorbeigebracht hatten. Es duftete nach Sandelholz, Jasmin und Rosen. Tante Rösli lag im Kerzenschein tot auf ihrem Bett. Alles war still, friedlich und feierlich.

Doch dann kamen der Amtsarzt und drei Polizisten, die wie bei jedem Freitod alles untersuchen und Fragen stellen mussten. Und die Bestatter warteten auf Anordnungen. Da wurde mir alles zu viel.

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Rösli war die Schwester meiner Mutter. Noch mit über 80 kurvte sie mit dem Velo herum, besorgte ihren Garten, hütete oft meinen Sohn und achtete auf ihr Äusseres. Sie trug nicht einfach Schuhe. Sondern schöne! Und trotzdem war sie auch pragmatisch. Sie wünschte, dass sie in ihren grünen Trainerhosen und einem weissen T-Shirt bestattet wird. So war sie. Sie wusste immer, was sie wollte.

Als sie innerhalb weniger Monate zum Pflegefall wurde und das Morphium ihre Schmerzen nicht mehr lindern konnte, organisierte sie sich Sterbehilfe. Sie hatte das Leben satt. Dabei war sie keineswegs verbittert oder depressiv, sie war vielmehr satt vom Leben – so wie man nach einer guten Mahlzeit satt und zufrieden ist und sich nicht mit weiteren Bissen beweisen muss, dass das Essen schmeckte. Wohl deshalb wollte sie ihren geliebten Garten gar nicht mehr sehen, als sie zum Sterben nach Hause kam.

Sie wünschte uns ein schönes Leben

Am Tag vor ihrem Freitod holte ich sie im Pflegeheim ab, denn dort war jede Art von Sterbebegleitung verboten. Abends erledigte sie einige Anrufe, um sich von ihren Liebsten zu verabschieden. Es war schon seltsam, wie sie allen ein schönes Leben wünschte. Vielleicht mehr um mich selbst zu trösten, sagte ich zu ihr, wir sähen uns irgendwann wieder. Sie sah mich an, zog die Augenbrauen nach oben, lächelte: «Vielleicht. Aber weisch, ich glaube nicht an solche Sachen.»

Es blieben nur noch wenige Stunden bis zum nächsten Morgen, an dem der Sterbebegleiter bestellt war. Wir sassen da und redeten. Sie dankte mir für die Lieblingspralinés, die ich ihr mitgebracht hatte – doch sie bedeuteten ihr nichts mehr. Sie freute sich nur noch auf den Tod. Vielleicht konnte sie deshalb wie ein Murmeltier schlafen, während ich auf dem Klappbett neben ihr kaum ein Auge zudrückte.

Am Morgen, als der Sterbebegleiter und der Schwager kamen, wollte sie vorwärtsmachen. «Geben Sie mir nun bitte die Papiere zum Unterschreiben», sagte sie zum Mann der Sterbehilfeorganisation. Den Todestrunk kippte sie, auf dem Bettrand neben mir und ihrem Schwager sitzend, wie ein Schnäpsli einfach ex hinab – obwohl er doch bitter schmeckt, wie man mir sagte.

Sie nickte dem Sterbebegleiter zu, hielt meine Hand und jene des Schwagers und legte sich hin. Sie wollte noch etwas sagen: «Jetzt bin ich ganz …» Müde? Glücklich? Erlöst? Sie konnte den Satz nicht mehr beenden, während sie von dieser Welt ging.

Sterben mit Exit

Einige lehnen Sterbebegleitung aus religiösen, politischen oder weltanschaulichen Überlegungen ab. Für andere ist ein begleiteter Freitod gar eine Sünde. Für eine wachsende Anzahl Menschen ist er jedoch die einzige Möglichkeit, in Würde zu scheiden.

Exit begleitet Sterbewillige, die an unerträglichen Beschwerden leiden, unheilbar und hoffnungslos krank sind oder eine unzumutbare Behinderung haben. Exit führt keine Begleitung durch, wenn der Sterbewunsch unklar ist oder nicht autonom gefällt wurde. Zudem braucht es ein Arztzeugnis über die Urteilsfähigkeit, die Diagnose und ein Rezept fürs Sterbemittel. Urteilsfähigkeit ist die Fähigkeit, vernunftgemäss zu handeln, seine Handlungen in bestimmten Situationen richtig zu beurteilen. Die Frage der Urteilsfähigkeit wird immer an einer bestimmten Handlung gemessen und für eine konkrete Situation beurteilt. Daher kann jemand für bestimmte Handlungen urteilsfähig und für andere urteilsunfähig sein.

Sobald die rechtlichen und gesundheitlichen Fragen geklärt sind, kann die sterbewillige Person entscheiden, ob und wann sie in den Tod begleitet werden soll. Sie entscheidet auch, wer anwesend sein soll.

Beihilfe zum Suizid ist in der Schweiz straflos, sofern bei der helfenden Person keine selbstsüchtigen Motive vorliegen. Wer aber einem Sterbewilligen eine tödliche Substanz verabreicht, macht sich aktiver Sterbehilfe schuldig. Sterbewillige müssen darum die Substanz selber einnehmen oder die Infusion selber öffnen können.

Interview mit Heidi Vogt, Leiterin der Freitodbegleitung bei Exit

Heidi Vogt von der Sterbehilfeorganisation Exit erklärt, was man tun muss, wenn man den begleiteten Freitod will.

Beobachter: Angenommen, ich möchte sterben. Wie gehe ich vor?
Heidi Vogt: Was fehlt Ihnen?

Beobachter: Nichts, es geht mir gut. Aber ich könnte mir vorstellen, dass ich dereinst nicht mehr leben möchte, wenn das Leben nur noch Leiden ist.
Vogt: Vielleicht sind Sie Mitglied einer Sterbehilfeorganisation. Wenn Sie das bei Exit sind oder es werden möchten, können Sie uns anrufen, und wir senden Ihnen Unterlagen, die Sie sorgfältig studieren sollten. Danach könnten Sie sich wieder mit uns in Verbindung setzen, uns ein medizinisches Diagnoseschreiben und eine Bescheinigung Ihrer Urteilsfähigkeit zustellen. Danach kommt ein Freitodbegleiter bei Ihnen vorbei.

Beobachter: Das geht so schnell?
Vogt: Nein. Bei einem ersten Gespräch würden wir über Ihren Sterbewunsch und über allfällige Alternativen reden: Vielleicht hätten Sie gar keinen konstanten Sterbewunsch mehr, wenn Sie Hilfe im Alltag hätten. Vielleicht sind Ihre Schmerzen bloss unerträglich, weil Sie falsche Medikamente einnehmen. Vielleicht ist Ihnen alles über den Kopf gewachsen, weil Sie die passende Hilfe nicht kennen. Vielleicht fürchten Sie, für die Gesellschaft oder für Angehörige eine Last zu sein. Ein Gespräch über das Sterben ist auch Lebensberatung. Aus diesem Grund sind bei einem ersten Gespräch oft auch Angehörige oder gute Freunde dabei.

Beobachter: Wäre mein Hausarzt verpflichtet, zuhanden von Exit eine Diagnose zu schreiben und ein Rezept für das tödliche Medikament auszustellen?
Vogt: Als Patient haben Sie das Recht, einen Bericht zur Diagnose zu bekommen. Aber vielleicht lehnt Ihr Arzt jede Form von Sterbebegleitung ab und stellt kein Rezept aus. Ist das der Fall, kann Ihnen Exit einen Vertrauensarzt vermitteln.

Beobachter: Meistens findet eine Sterbebegleitung in den eigenen vier Wänden statt. Ist Sterbebegleitung auch in Spitälern möglich?
Vogt: Nein. Ausser in ganz wenigen Spitälern in der Westschweiz ist dies nirgends möglich.

Beobachter: Auch manche Heime lehnen jegliche Form von Sterbehilfe ab.
Vogt: Ja. In streng religiös geführten Heimen ist die Begleitung oft nicht möglich, deshalb stellt Exit Sterbezimmer zur Verfügung.

Beobachter: Müsste ich meine Angehörigen über meinen Sterbewunsch informieren?
Vogt: Ein Mitentscheidungsrecht haben Angehörige nicht. Aber es empfiehlt sich fast immer, mit den Angehörigen über den Sterbewunsch zu reden. Wir könnten Ihnen dabei helfen. Wir unterstützen die Leute auch darin, einen Perspektivenwechsel einzunehmen: Was bedeutet der Freitod für Angehörige?

Beobachter: Wie muss ich mir den Tag X vorstellen? Mache ich nach Gesprächen mit dem Sterbebegleiter einen Termin ab wie mit dem Heizungsmonteur?
Vogt: Wenn Sie so wollen. Wie und wann Sie einen Termin vereinbaren, ist ganz allein Ihnen überlassen. Zum vereinbarten Termin bringt der Sterbebegleiter das vom Arzt verschriebene Sterbemittel Natrium-Pentobarbital mit.

Beobachter: Wie würde ich meine letzten Stunden verbringen? Mit dem Freitodbegleiter allein oder im Kreise meiner Liebsten?
Vogt: Wie Sie wollen. Sterben ist so unterschiedlich wie das Leben. Fast immer sind die Angehörigen dabei. Manchmal redet man miteinander und verabschiedet sich. Manchmal ist alles bereits gesagt. Wichtig ist, dass die letzten Stunden würdevoll sind. Auf jeden Fall müssen zwei Zeugen anwesend sein – wenn nicht Angehörige, dann werden Sie von zwei Leuten von Exit begleitet. Bei beiden Möglichkeiten müssen Sie unterschreiben, dass Sie auf eigenen Wunsch sterben und sich die Substanz selber zuführen werden.

Beobachter: Dann wird mir das tödliche Mittel nicht verabreicht oder injiziert?
Vogt: Nein, das wäre aktive Sterbehilfe. Das ist verboten.

Beobachter: Was wäre, wenn ich das Sterbemittel schlucke und das sogleich bereue?
Vogt: Oh nein, das wäre ja furchtbar. Um das zu verhindern, finden Gespräche statt. Manchmal reicht ein Gespräch, manchmal dauern sie über Jahre. Am Sterbewillen und am Todeswunsch dürfen Sie und darf der Sterbebegleiter letztlich keine Zweifel haben.

Beobachter: Nach der Einnahme gibt es kein Zurück. Wie lange gehts, bis ich im Jenseits bin?
Vogt: Nach etwa fünf Minuten fällt man in eine Art komatösen Schlaf. Bis der Tod eintritt, kann es einige Minuten bis einige Stunden dauern.

Beobachter: Ist das schmerzhaft?
Vogt: Nein. Oral eingenommen, ist das Sterbemittel jedoch sehr bitter. Einige Minuten bevor das Mittel eingenommen wird, schluckt man deshalb etwas zur Magenberuhigung.

Beobachter: Danach ist man tot. Was dann?
Vogt: Ein Arzt muss den Tod feststellen. Nebst dem Arzt muss aber auch die Polizei und in einigen Kantonen gar die Staatsanwaltschaft aufgeboten werden, denn ein begleiteter Freitod gilt als aussergewöhnlicher Todesfall, der untersucht werden muss. Erst wenn die behördliche Abklärung abgeschlossen ist, geht es weiter wie nach jedem anderen Todesfall.

Heidi Vogt, 62, ist die Leiterin der Freitodbegleitung bei Exit. Sie ist ehemalige Krankenschwester und Supervisorin.

Quelle: Christian Schnur
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