Es ist ein düsteres Tal, dieses Val Sinestra. Die Sonne verschwindet, kaum hat der Tag überhaupt begonnen. Während hoch oben die Spitzen von Piz Arina und Piz Ajüz noch in der Nachmittagssonne strahlen, liegen die Talhänge längst wieder im Schatten. Sinister halt, denkt der halbbatzige Lateiner. Doch «sinestra» ist rätoromanisch und beschreibt bloss die Lage des Engadiner Seitentals: links, in Fliessrichtung des Inn gesehen.
Nichtsdestoweniger ist das Tobel mit seinen steilen Wäldern ein ungastlicher Ort. Unwirklich trotzt weit hinten ein zehnstöckiges Kurhaus den Naturgewalten: ein seltsames Konstrukt aus der Belle Epoque, halb Schloss, halb Klinik. Seine Dachspitzen ragen hoch aus den schwarzen Wipfeln.
Geschäftstüchtige Unternehmer liessen den mondänen Kasten in die raue Wildnis setzen, sechs Kilometer hinter dem selbst schon abgelegenen Dörfchen Sent. Grund für den Standort sind die «auas fortas», die starken Wasser. Schon vor tausend Jahren soll San Flurin, Dorfpfarrer und Heiler, die Quellen im Val Sinestra entdeckt haben. Fortan waren die heilenden, weil arsenhaltigen Wasser weit übers Tal hinaus bekannt. Sie sollten die Reichen zum Kuren locken. Gemäss einem Prospekt aus den fünfziger Jahren versprachen die Wasser und der «radioaktivste Fango der Schweiz» Linderung bei Hautkrankheiten, Schwächezuständen, Blutarmut und Bleichsucht.
Heute sind auf der Bäderetage des Kurhauses ganz andere Energien aktiv – ungute, sagen ehemalige Gäste und Angestellte einhellig. «Ich glaube nicht an Geister, aber dieses Gebäude musste regelrecht erobert werden», sagt Peter Kruit. Der Holländer wurde 1978 als Bauingenieur beauftragt, die Bausubstanz des damals leerstehenden Komplexes zu begutachten – und kaufte die Immobilie kurzerhand. «Zu einem sehr guten Preis», wie er sagt. Über den genauen Betrag schweigt er sich aus. Seither ist Kruit Hotelier – und hat immer mindestens einen Gast. Denn auch im Winter, wenn der Betrieb ruht, sei das Hotel nie ganz leer, heisst es.
Der Dauergast begrüsste Kruit bei dessen Einzug erst einmal gebührend: Als er eines Abends eine Tür öffnete, schallte ihm aus dem Dunkeln ein lautes Grollen entgegen. «Es hat sich angehört wie der Lärm einer ganzen Armee», erinnert sich der 63-Jährige. Er sei so erschrocken, dass er zum Auto rannte und über die enge Strasse Richtung Sent davonrauschte, um erst bei Tageslicht wieder zurückzukommen.
Seither öffnen sich im Kurhaus immer wieder Fenster von allein, Schlüsselanhänger geraten unerklärlicherweise in Schwingung, und beim Betreten der Bäderetage beschleicht viele ein unheimliches Gefühl. «Als wäre hier noch jemand», wie Wanda Hopman sagt, gleichfalls Holländerin, die das Hotel mit Peter Kruit leitet. Dass hier ein Geist wohnt, stört sie nicht. Schliesslich sei er nicht bösartig: «Er hat seine Geschichte und darf hier leben – wenn man überhaupt von leben sprechen kann.» Seit ihn die 47-Jährige «Hermann» getauft hat, gehört der Geist quasi zum Inventar.
Vom Luxus der Gründerzeit ist im Kurhaus Val Sinestra nicht mehr viel geblieben. Die beiden Weltkriege, später die Fortschritte der Pharmaindustrie verhinderten zu fast allen Zeiten ein florierendes Geschäft. 1969 wurde der Badebetrieb definitiv eingestellt. Zusammen mit einem guten Dutzend Helfer führen Hopman und Kruit das Haus im Stil einer Jugendherberge: Die Gäste helfen mit, machen ihre Betten selbst und räumen den Tisch ab. «Nur so kann es rentieren», sagt Kruit.
Reisten früher Gäste aus ganz Europa mit Zug und Kutsche ins Val Sinestra, so kommen sie heute hauptsächlich aus den Niederlanden. Mit einem Bus karrt Kruit jährlich bis zu 40-mal eine Ladung Holländer ins Unterengadin und zurück. «In der Region spricht man bereits von einer holländischen Enklave», schmunzelt er. Der Geist selbst, frotzeln die Alteingesessenen in Sent, sei vermutlich ebenfalls Holländer.
«Nein, eher Belgier», sagt Beatrice Rubli. Die 46-Jährige ist hauptberuflich Medium. Sie ist aus dem Unterland angereist, um dem alpinen Spuk auf den Grund zu gehen: Gibt es im «Val Sinestra» tatsächlich einen Geist? Und wenn ja: Wer ist er und was hält ihn hier?
Geisterjägerin Rubli schliesst die Augen und horcht in den Raum. Es ist still auf der Bäderetage. Und kühl. «Er klingt jedenfalls flämisch», sagt sie. Rubli ist eine zierliche Frau mit blondiertem Haar, dreifache Mutter und nicht das, was man sich gemeinhin unter einem Medium vorstellt. Für den Kontakt zu menschlichen Mitwesen nutzt sie ein iPhone, weltliche Distanzen überwindet sie in einem alten Jaguar. Auch ihre Arbeit verrichtet sie ohne Klimbim: kein Pendel, kein Rosenquarz, keine Weihrauchrituale. Rubli verlässt sich einzig auf ihr «Gespür für Feinstoffliches», wie sie es nennt. Sie habe ein Sensorium für Botschaften und Eindrücke, die andere nicht wahrnehmen könnten. Und hier, auf der Bäderetage im «Val Sinestra», empfindet sie eine «starke, feinstoffliche Präsenz». Der Geist zeige ihr Bilder und Jahreszahlen, erklärt sie, manchmal spreche er auch zu ihr.
Bereits im Salon des Kurhauses hat Beatrice Rubli solche Signale empfangen: heitere Stimmung, Gläserklirren und Musik. Man sei hier nicht nur zum Kuren hergekommen, sondern auch, um sich zu präsentieren, vermeldet sie. Damals, in den Zwanzigern, sei der Saal noch edler ausgestattet gewesen, mit schweren Sesseln mit Polstern aus rotem Samt. Hotelleiterin Hopman staunt. «Solche Möbel stehen oben auf dem Dachboden.» Rublis Ausführungen klingen durchaus plausibel, aber auch ein Normalsterblicher kann sich vorstellen, wie es hier früher zu und her ging. Der Gruselfaktor hält sich in Grenzen.
Bei den Bädern hingegen, da will Beatrice Rubli nun ganz konkrete Informationen empfangen haben. Zielstrebig steuert sie eine Stelle im Gang an, zwischen Weinkeller und Baderaum Nummer fünf. Wanda Hopman und Peter Kruit wie auch verschiedene Angestellte und Gäste hatten exakt diesen Ort als besonders unheimlich beschrieben. «Hier fing eine Kundin einmal auf einer Hausführung zu schreien an, weil ihr so unwohl war», erzählt Kruit. Man musste sie wegbringen. Und ein grossgewachsener Sicherheitsmann, der für einen Anlass engagiert worden war, soll nach einem Kontrollgang auf der Bäderetage bleich und zitternd vor dem Kurhaus gestanden haben – und geschworen haben, nie wieder einen Fuss hineinzusetzen.
Medium Rubli weiss von alledem nichts. Dass sie trotzdem die besagte Stelle bei den Bädern gefunden hat, ist im wahrsten Sinne des Wortes begeisternd. Wie sie so reglos ins Leere starrt und mit dem längst Verblichenen Zwiesprache hält, kriecht auch dem nüchternen Besucher ein Schauer über den Nacken.
Beruhigend irgendwie, dass die meisten, die den Geist gespürt haben wollen, lediglich von einem Gefühl berichten, «als ob jemand dicht hinter einem stehe». Es sei jedoch nicht das absolut Böse, das im «Val Sinestra» umgehe, sagen sie.
Das Medium bestätigt das. Der tote Belgier sei einfach gesellig: «Er mag es, wenn etwas läuft.» Hier unten sei er aber einsam, vor allem in den Wintermonaten, wenn ein Grossteil des Kurhauses leer und ungenutzt ist. «Er heisst Gilbert oder Guillaume», fährt Rubli fort. Soldat sei er gewesen, vielleicht Offizier. Mitte 40, dunkelhaarig, hagere Statur. Und der arme Gilbert habe sich im Ersten Weltkrieg ein chronisches Lungenleiden zugezogen. Rubli spürt das, weil sie nicht gut atmen könne. «Er war gerne hier und mochte es, wenn man ihn umsorgte.» Gesund wurde er aber nicht, vermutlich sei er gar hier gestorben. Jedenfalls kehrte er nicht mehr in seine Heimat zurück. Deshalb könne sich Gilbert von diesem Ort auch nicht verabschieden.
Vorläufige Bilanz der Spurensuche: Der Geist ist ein selbstverliebter Nostalgiker, der bei den seltenen Besuchern auf der Bäderetage ein bisschen Aufmerksamkeit erheischen will. Eher lästig als gruselig. Das Medium gibt letzte Hinweise: Gilbert müsse über mehrere Jahre hinweg Stammgast im Kurhaus gewesen sein, um 1927 herum. Und mit einem leitenden Arzt und dessen Frau habe er ein freundschaftliches Verhältnis gepflegt. Die Frau habe den Arzt um 20 oder gar 30 Jahre überlebt: «Sie starb vermutlich in den achtziger Jahren.»
Verstörender als die Vorstellung, hier gerade neben einem Geist zu stehen, wäre die Aussicht, vielleicht selbst einmal auf ewige Zeit in einem kalten, leeren Gang festzusitzen. Gab es ihn also wirklich, den kurzatmigen belgischen Offizier?
Vieles von dem, was Beatrice Rubli erzählt, ist überprüfbar. Es gälte nur, im Gästebuch von 1927 nach einem Belgier namens Gilbert oder Guillaume zu suchen. «Gästebücher haben wir nie gefunden», winkt Hotelleiterin Hopman ab. Und alte Medizinalakten, die Peter Kruit beim Einzug vorfand, hat er damals vernichtet, «damit sie nicht in falsche Hände geraten». Weder das Bündner Staatsarchiv noch die Kantonsbibliothek oder der Dorfarchivar von Sent wissen, wo die Bücher geblieben sind. Schwarz auf weiss ist Gilbert nicht zu finden.
Der zweite mehr oder minder überprüfbare Hinweis des Mediums ist das Ärztepaar, mit dem der Geist befreundet gewesen sein soll. Ein gewisser Albert Nadig war von 1916 bis zu seinem Tod 1956 leitender Arzt im Kurhaus; ihm ist eine Vitrine im Entree gewidmet. Aus einer Gedenkschrift geht hervor, dass er mit einer Thea, geborene Muggli, verheiratet war. Ja, Thea Nadig sei erst viele Jahre nach ihrem Mann verstorben, sagt ein Grossneffe des Kurarztes. Aber wann, könne er nicht genau sagen, vielleicht wüssten seine Cousinen mehr. Weitere Telefonate ergeben: Thea kam 1918 als Patientin ins «Val Sinestra». Sie und der Arzt heirateten drei Jahre später. Als sie starb, wurde sie im Familiengrab auf dem Churer Friedhof beigesetzt. «Thea Nadig-Muggli, 1882 bis 1971», sagt die Dame vom Bestattungsamt. Die Frau Doktor starb also nur 15 Jahre nach ihrem Mann.
Von dem, was Geisterjägerin Beatrice Rubli aus ihrem Gespür fürs Feinstoffliche abgeleitet hat, hat sich somit nur wenig bestätigt. Das komme vor, sagt sie: «Geister sind manchmal eitel. Sie geben vor, etwas zu sein, was sie in Wirklichkeit nicht sind.» In Wirklichkeit sind Tote eben auch nur Menschen. Wanda Hopman jedenfalls ist froh zu wissen, dass ihr Dauergast niemandem Böses will. Möglich, dass die verschollenen Gästebücher irgendwann doch noch zum Vorschein kommen und die Existenz eines belgischen Stammgastes namens Gilbert belegen. «Aber bis dahin nennen wir ihn weiter Hermann.»