Müssen Männer immer können?
Vier Fünftel der Männer, die unter Impotenz leiden, suchen keine ärztliche Hilfe. Es fragt sich nur, ob das schlimm ist.
aktualisiert am 8. Oktober 2018 - 14:01 Uhr
Die Kamera begleitet Geoff und Kate ins Schlafzimmer. Es ist kurz vor ihrem 45. Hochzeitstag. Das Vorspiel gelingt ganz gut, die beiden Senioren halten sich eng umschlungen, küssen zärtlich und lachen wie frisch verliebt. Doch dann verliert Geoff von einem Moment auf den anderen seine Erektion.
Als Zuschauerin ist man versucht zu rufen: «Hätte er doch ein Viagra genommen!» Man möchte den Mann am liebsten zum Arzt schicken, damit er seine Erektionsstörungen behandeln lasse, auch der Frau zuliebe. Doch von einem Arztbesuch ist in «45 Years», dem feinfühligen Beziehungsfilm des Briten Andrew Haigh, nie die Rede.
Als Vertreter der Ü-70-Generation ist Geoff ein typischer Fall: Mehr als die Hälfte der 70- bis 80-Jährigen leiden an «erektiler Dysfunktion» , wie es im Fachjargon heisst. Irritierend: Vier Fünftel der Betroffenen gehen nicht zum Arzt.
Für Spezialisten ist der Fall klar: Die Männer trauen sich nicht. Das Thema Erektionsstörung sei trotz Viagra & Co. noch immer tabuisiert, schreiben die Urologen des Unispitals Basel auf ihrer Website; der Kenntnisstand in der Bevölkerung sei niedrig und beim Fachpersonal «nicht selten enttäuschend». Entsprechend hoch sei der Leidensdruck der Männer. Das leuchtet ein, nur: Stimmt es auch? Leiden alle Männer, die nicht «können»?
Bei Jüngeren trifft es wohl zu. Zu den Geplagten gehören etwa jene Männer, die sich wegen einer Krebsdiagnose einer Prostataoperation unterziehen müssen, wie der 58-jährige Roland*: Nach der Prostataentfernung, erzählt er, habe sich sein Penis während Monaten überhaupt nicht geregt.
Obwohl er schonend operiert worden sei. Seine Frau zog sich zurück, er selbst fühlte sich schlecht, vom Leben betrogen, depressiv. Und ohnmächtig. «Ich weiss nicht, weshalb wir Männer derart penisfixiert sind», sagt Roland. Schliesslich verordnete ihm der Arzt Potenzpillen – zwei-, dreimal pro Woche – und riet zum Gebrauch einer Vakuumpumpe. Vier Monate nach der Operation brachte Roland wieder eine Erektion zustande, «ein befreiender Akt», wie er sagt.
Ähnlich die Geschichte von Moritz*, 60, bei dem der Prostatakrebs per Hormontherapie behandelt wurde: Auch er empfand die «Nebenwirkungen» als katastrophal. «Du fühlst dich nicht mehr als Mann», berichtet er über seinen Potenzverlust. «Du hast Mühe, dich einer Frau zu nähern, du hast sogar Schuldgefühle, schon nur mit einer Frau zu reden. Weil man ständig im Hinterkopf hat: Ich könnte diese Frau nicht befriedigen , ich wäre im Bett ein jämmerlicher Waschlappen.» Moritz brach die Hormontherapie vorzeitig ab, drei Monate später funktionierte sein bestes Teil mit Hilfe eines Penisrings wieder einwandfrei.
Bei Potenznöten helfen heute in erster Linie Viagra & Co. Diese Medikamente, die im Wesentlichen ein Enzym namens Phosphodiesterase-5 (PDE-5) blockieren, hätten die Behandlung von Erektionsstörungen «dramatisch verbessert», betont die Ärzteschaft. Selbst bei Risikogruppen – Prostata- oder Diabetespatienten – seien PDE-5-Hemmer wirksam. Als Viagra Ende der neunziger Jahre auf den Markt kam, löste die kleine blaue Wunderpille eine zweite sexuelle Revolution aus. Es sei «das grösste Geschenk auf Erden», frohlockte etwa «Playboy»-Gründer Hugh Hefner im Fernsehen und prahlte damit, täglich ein Viagra zu schlucken.
Inzwischen hat sich die Viagra-Begeisterung gelegt wie ein erschlaffter Penis, das Patent von Hersteller Pfizer ist abgelaufen, und Viagra-Witze bringen niemanden mehr zum Lachen. Stattdessen fragt man sich: Müssen Männer denn immer können? Leiden die 80 Prozent, die wegen Impotenz keinen Arzt aufsuchen?
Manche sehen das differenziert. Zum Beispiel der emeritierte St. Galler Soziologieprofessor Peter Gross, der der «NZZ am Sonntag» einmal sagte, Potenzpillen würden auch Zwänge auslösen, gerade bei Älteren: Das Medikament verstärke den Druck, Leistung erbringen zu müssen und gegen das Abnehmen der Körperkräfte zu kämpfen.
Man darf annehmen, dass die selbstbewussten Babyboomer, die jetzt ins Alter kommen, die Sexualität gelassener sehen. Viele Paare finden neue Formen der Zärtlichkeit, begegnen sich mehr freundschaftlich denn erotisch. So wie Geoff und Kate in «45 Years», wie es zunächst den Anschein hat. «Ich habs verpasst», sagt er in der Bettszene bekümmert und dreht sich auf den Rücken, derweil ihm Kate die Schulter streichelt und beteuert: «Macht nichts.»
Im Lauf des Films jedoch wird klar, dass sich die Liebe des Paars im freien Fall befindet. Geoff erfährt, dass die Leiche seiner Exfreundin aufgetaucht ist, die fünf Jahrzehnte zuvor auf einer Wanderung abgestürzt war. Die Nachricht zieht Kate den Boden unter den Füssen weg. Die Ehe ist kaum zu retten – selbst wenn Geoff noch «könnte».
*Name geändert