«Ich bezahle Sie dafür, dass Sie meine Tochter ans Gymi bringen!», bellt mich der Banker mit hochrotem Kopf an. Seit ein paar Monaten fahre ich zweimal die Woche in die Zürcher Goldküstengemeinde und lerne mit seiner Tochter für die Gymiprüfung. Heute hat es Tränen gegeben. Zum wiederholten Mal. Die Tochter ist völlig überfordert von den Matheaufgaben. Ich habe meine Standardfrage in solchen Situationen gestellt: «Warum willst du ins Gymi?» – «Ich will gar nicht ins Gymi», schluchzt sie, «ich will Kosmetikerin werden!»

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Später spreche ich mit den Eltern. Der Vater, älteres Semester, zwei Kinder aus früherer Ehe, beide ohne Probleme am Gymi, hört kaum zu. Die deutlich jüngere Mutter schon. Aber sie hat nichts zu sagen. Die Diskussion eskaliert nach meinem verhängnisvollen Satz: «Ich bin nicht bereit, Ihrem Kind Schaden zuzufügen, für kein Geld der Welt!»

Ein Einzelfall, aber ein typischer. Der Druck auf Kinder an der Zürcher Goldküste ist immens. Die Eltern geben zwar nur ungern zu, dass sie sich unterstützen lassen bei der Mission Gymi. «Wissen Sie, wir probieren es einfach, und wenn es nicht klappt, ist es auch nicht so schlimm», sagen sie. Aber auch: «Würde es Ihnen etwas ausmachen, durch die Kellertür ins Haus zu kommen? Die Nachbarn brauchen Sie ja nicht unbedingt zu sehen.»

Alle gegen alle

Einmal ruft mich eine Mutter an, deren Tochter ich auf die Gymiprüfung vorbereitet habe. Jetzt ist der Sohn dran. Ob ich Noah helfen könne? Er habe einen guten Freund, Jannick. Der sei etwa gleich gut. Ob ich mit beiden gemeinsam arbeiten könne? Das tue ich gern – gerade zwischen Buben entwickelt sich in diesem Alter oft ein sportlicher Ehrgeiz. Nach zwei Lektionen meldet sich Jannicks Mutter. Der Sohn solle zusätzlich Einzelstunden bekommen. Noah dürfe davon bloss nichts erfahren.

Alle gegen alle. Nur jeder zweite Schüler besteht die Aufnahmeprüfung. Wenn einer durchfällt, schafft es der nächste eher. In der folgenden Gruppenstunde verplappert sich Jannick. Am Abend ruft mich Noahs Mutter an. Sie ist schwer enttäuscht und will nicht mehr mit mir arbeiten.

Das Kind hat kein Leben mehr

Als ich vor gut 20 Jahren neben meinem Hauptjob als Lektor anfing, Privatstunden zu geben, unterstützte man die Kinder drei, vier Monate vor der Gymiprüfung, wenn sie individuelle Probleme hatten. Heute fragen mich Eltern an, die für ihren Viertklässler «die Weichen stellen» wollen. Und wenn die Vornoten, die zum Prüfungsergebnis gezählt werden, nicht top sind, soll der Sprössling kurzerhand und ohne jede Not die fünfte Primarklasse wiederholen. So wird das Zeugnis fast von selbst besser.

Drei, vier Nachhilfestunden pro Woche, das stellen sich viele Eltern vor. Ich erkläre dann jeweils, es gehe auch ums Abschätzen, ob das Kind wirklich ins Gymi gehört. Die Erfahrung sagt: Wenn ein Kind vier, fünf Stunden pro Woche Vorbereitung braucht, muss man es während der gesamten Gymnasialzeit in vergleichbarem Umfang unterstützen. Eltern glauben mir das nicht. «Wir haben Fussball und Geigenstunden auf Eis gelegt, aber nur bis zur Prüfung!», sagen sie dann.

Niemand will meinen Einwand hören, so habe das Kind gar kein Leben mehr neben der Schule. Es ist den Eltern auch egal, wenn die Oberstufe den Kindern schon stinkt, bevor sie dort sind. Ist das Kind erst am Gymi, geht es in gleicher Manier weiter. Bald genügt es nicht mehr, dem Kind bei einem Vortrag zu helfen. Viele Eltern setzen sich hin und schreiben ihn gleich selber, und das Kind muss ihn auswendig lernen. Das sorgt nicht nur dafür, dass Schüler nicht mehr lernen, selbständig zu arbeiten, sondern schafft eine Zweiklassengesellschaft. Schüler mit Eltern, die nicht gut Deutsch können oder nicht genug Geld für externe Hilfe haben, haben eklatant schlechtere Chancen.

«Bei den einen helfen die Eltern, die meisten anderen haben auch Nachhilfelehrer – voll easy.»

Privatschüler

Das ist nicht alles. Ein Bub, der die Probezeit am öffentlichen Gymnasium nicht bestanden hatte, erzählte mir einmal von der tollen Privatschule, die er jetzt besuche. «Da gibt es keine Note unter Zwei, in jedem Fach eine Streichnote und viele Sachen, die ich zu Hause mit dir zusammen vorbereiten kann!» Ob er das fair finde, wollte ich von ihm wissen: «Klar, bei den einen helfen die Eltern, die meisten anderen haben auch Nachhilfelehrer», antwortete er. Und später, an der Hochschule? Das sei dann sowieso «voll easy». Er wolle in Italien studieren, dort sei es einfacher, und sein Vater kenne dort viele Leute.

Regelmässig spreche ich mit Eltern, die das unlautere Spiel nicht mitspielen wollen. Den meisten ist aber klar, dass ihr Kind dadurch benachteiligt ist. So kommt es bei Vorträgen unmöglich über Mittelmass hinaus, weil bei den Kolleginnen und Kollegen ein Profi nachgeholfen hat. Das kann extrem frustrierend sein. Niemand tut etwas dagegen, weil niemand seinem Kind schaden will. Ich weiss auch keine Patentlösung.

Mit Tricks zum Uniabschluss

Am Ende der Gymizeit sind die Hemmungen dann sehr klein. Zum Abschluss fehlt ja nur noch wenig. Früher wurde ich ab und zu gebeten, eine Maturaarbeit gegenzulesen. Heute bekomme ich unverfrorene Anfragen per E-Mail: «Was würde es kosten, wenn Sie die Arbeit schreiben? Als Lektor können Sie das sicher gut.» Getan habe ich das noch nie. Aber aus der Offenheit der Anfragen schliesse ich, dass andere anstandslos übernehmen.

Inzwischen gibt es Firmen, die ganze Bachelor- und Masterarbeiten verfassen. Ich möchte mir gar nicht überlegen, dass Studenten, die mit solchen Tricks den Hochschulabschluss schaffen, eines Tages meine Scheidungsanwältin oder mein Kieferchirurg sein könnten.

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Quelle: Holger Salach