Hilfe für Working Poor
Sie arbeiten und chrampfen, und dennoch reicht der Lohn kaum fürs Nötigste: 250'000 Menschen gehören in der Schweiz zu den Working Poor. Dank Ihrer Spende kann SOS Beobachter mit der diesjährigen Sommeraktion auch hier helfen.
Veröffentlicht am 18. Juni 2001 - 00:00 Uhr
Daniela Sandmeier liebt ihren Beruf. «Ich bin Verkäuferin mit Leib und Seele», sagt sie. Und trotzdem: Die Kombination Alleinerziehende und Verkäuferin sei denkbar ungünstig. «Das würde ich freiwillig nie wählen.»
Als 1989 ihre Tochter Morena auf die Welt kam, lagen ihr solche Gedanken fern. «Damals wusste ich noch nicht, was alles auf mich zukommen wird. Ich dachte, es gehe dann schon irgendwie.» Vieles gelang. Morena, heute zwölf Jahre alt, hat soeben die Qualifikation für die Sekundarschule geschafft. Der Stolz steht der Mutter ins Gesicht geschrieben. Das Mädchen habe viel «gebüffelt» – ganz freiwillig und doch nicht von ungefähr: Nie wolle sie sich alles vom Mund absparen müssen wie die Mutter, habe Morena gesagt. «Sie will später einen Beruf erlernen können, in dem sie recht verdient.»
Ohne Unterstützung keine Chance
Daniela Sandmeier gehört zu jenen Menschen in unserem Land, die im Beruf ihre Frau stehen, aber dennoch zu wenig verdienen, um damit ein normales Leben führen zu können. Working Poor nennt die Sozialstatistik diese Gruppe von werktätigen Armen. Laut der neusten Studie des Bundesamts für Statistik leben in der Schweiz 250'000 Menschen im Alter zwischen 20 und 59 Jahren, die trotz Erwerbstätigkeit arm sind.
Vor mehr als 20 Jahren machte Daniela Sandmeier die zweijährige Verkäuferinnenlehre. Eine längere Ausbildung sei damals den Knaben vorbehalten gewesen, erzählt die 38-Jährige. «Die Frauen heiraten ja doch», habe es geheissen – und dann seien sie versorgt. Für Daniela Sandmeier galt das nicht: Der Vater von Morena wollte nicht mehr in einer festen Bindung leben. Die Mutter stand mit dem Kind vom einen Tag auf den andern allein da.
Sie habe immer voll gearbeitet, sagt Daniela Sandmeier; bis die Kleine in die Schule ging 80 Prozent, dann wieder Vollzeit. Trotzdem habe das Geld fast nicht gereicht. «Wenn mich meine Eltern und Morenas Gotte und Götti bei teureren Anschaffungen nicht immer wieder unterstützt hätten, wären wir finanziell kaum durchgekommen.»
Im familiären Umfeld der Working Poor leben zudem über 530'000 Menschen, die von dieser relativen Armut mitbetroffen sind. Darunter gut 230'000 Kinder, wie etwa die Tochter von Daniela Sandmeier.
Morena habe von klein auf mit sehr wenig auskommen müssen, sagt die Mutter. Das habe dem Mädchen indessen nicht geschadet. Doch «immer nur arbeiten und sparen zu müssen ist nicht lustig. Meine Tochter ist herangewachsen, ohne dass ich ihre Entwicklung gross habe geniessen können. Das tut weh. In all den Jahren haben wir uns kein einziges Mal gemeinsame Ferien leisten können.»
Kinobesuch wird zum Luxusartikel Für Pia L., 38, gehört die Woche Ferien, die sie mit ihren beiden Kindern Maureen und On einmal am Meer verbringen durfte, zu den schönsten Erinnerungen. «In einem spontanen Entschluss plünderte ich mein Konto, packte die Kleinen, und dann flogen wir nach Zypern.» Doch die allein erziehende Fotografin, die noch als Verkäuferin arbeitet, musste das ertrotzte Glück während Wochen büssen. «Ich stand vor dem leeren Kühlschrank und wusste kaum, wie ich in den Tagen bis zur Lohnauszahlung über die Runden komme.»
Eine Woche lang irgendwo ausspannen, ein Essen mit Freunden in einem Restaurant oder ein Kinofilm – wer von der Hand in den Mund leben muss, lässt solche Wünsche am besten gar nicht erst aufkommen. «Das Zugsbillett, die Eintrittskarten, Popcorn für die Kinder – ein Kinobesuch zu viert kostet schnell mal zwischen 60 und 80 Franken», rechnet die 52-jährige Hausfrau Susanne W. vor. «Das liegt bei unserem Budget schlicht nicht drin.»
Die zierliche Frau steht in der Küche und schneidet Rhabarberstängel. «Sie stammen aus unserem Garten», sagt sie. «Mit dem Gemüse vom Pflanzplätz können wir Geld sparen.» Auch das knusprig gebackene Brot auf der Ablage der Küchenkombination kommt aus dem eigenen Backofen. Und viele Kleider für sich und die Familie schneidert Susanne W. selber. Nicht zuletzt dank ihrem Geschick lebt die vierköpfige Familie mit dem kleinen Einkommen «recht gut».
Für Besserverdienende ist diese Genügsamkeit indessen kaum vorstellbar. Susanne und Martin W. sowie ihre beiden halbwüchsigen Söhne müssen mit monatlich knapp 4000 Franken über die Runden kommen; in diesem Betrag sind die Kinderzulagen eingeschlossen. Da schlage man sich «Ferien in Spanien automatisch aus dem Kopf», kommentiert Susanne W. ihre Situation. Und flattert dann noch eine hohe Zahnarztrechnung ins Haus, kann diese ohne fremde Hilfe nicht mehr bezahlt werden. «Manchmal», sagt Susanne W., «kommen mir schon Gedanken, dass wir zu kurz gekommen sind und eigentlich mehr verdient hätten.»
Susanne W.'s Mann ist ein erfahrener Modellschreiner. Aber mehr Lohn gebe es nicht, sage der Chef. Auch nicht mehr Ferien, obwohl er mit seinen 59 Jahren nur vier Wochen hat. Die Stimme von Susanne W. wird leiser, als ob «der Chef» sie hören könnte: «Er entliess schon Mitarbeiter, weil sie mehr Lohn wollten.»
Die Angst vor Entlassung lässt viele Working Poor ihre misslichen Arbeitsbedingungen schweigend ertragen. Die junge Schwangere etwa, die in einer Ostschweizer Fabrik für gerade mal zwölf Franken brutto in der Stunde schuftet, will unter keinen Umständen über ihre Situation sprechen. «Sie hat riesige Angst, ihr Arbeitgeber könnte davon erfahren und sie ihre Stelle verlieren», sagt die zuständige Sozialarbeiterin der Mütterberatungsstelle.
Eine Frau und drei Jobs Auch die ledige Mutter Jolanda B., die durch den Winterthurer Sekretär der Gewerkschaft VHTL betreut wird, will nicht reden. «Diese Frau», sagt Alois Düring, «erwirtschaftet mit einer 70-Prozent-Stelle im Verkauf und zwei Zusatzjobs gerade mal knapp 2800 Franken netto. Damit muss sie zusammen mit ihrer zweijährigen Tochter auskommen.»
Nicht genug damit. Der niedrige Lohn wird später auch bei der Altersrente negative Folgen haben. Da der Verdienst von Jolanda B. den so genannten Koordinationsabzug nicht erreicht, werden ihr heute keine Pensionskassenbeiträge gutgeschrieben. Ihre Chefs profitieren also gleich zweifach: Sie haben eine billige Arbeitskraft, die sich nicht wehren kann, und sie sparen Geld für die Pensionskasse. Wer nichts hat, dem wird genommen.
Dazu kommt die Angst der Working Poor, ihre Stelle zu verlieren. Und die ist nicht unbegründet. «Wenn wir als Gewerkschaft bei einer Firma wegen der schlechten Arbeitsbedingungen intervenieren», sagt Alois Düring, «muss ich dem betroffenen Angestellten raten, sich gleich eine neue Stelle zu suchen. Denn meistens folgt die Kündigung postwendend.»
Diese Erfahrung musste auch Reto N. machen. Seinen Job als Aussendienstmitarbeiter in der Textilbranche war er innerhalb eines Monats los, weil die Firma Konkurs machte. Da es schwierig war, in diesem Umfeld eine neue Stelle zu finden, und er nicht lange stempeln wollte, nahm der 32-Jährige eine Stelle als Fischverkäufer an – eine Arbeit, für die er deutlich überqualifiziert war. Reto N. verdiente einiges weniger als vorher. Die Folge: Das Geld reichte hinten und vorne nicht, um den Lebensunterhalt für sich, seine Frau und seinen kleinen Sohn zu bestreiten. Kam hinzu, dass der Mann noch Alimente für seinen Sohn aus erster Ehe bezahlen musste.
Reto N. ging seinen Chef um mehr Lohn an – ohne Erfolg. Durch Zufall erfuhr er, dass ein Kollege für dieselbe Arbeit einige hundert Franken mehr nach Hause trug. Doch sein Vorgesetzter stellte sich taub – Reto N. musste gehen.
Schlange stehen für Tiefstlöhne
Am Einsatz von Reto N. konnte es nicht gelegen haben, denn im Zwischenzeugnis hatte er von seinem Vorgesetzten eine sehr gute Qualifikation erhalten. Der frustrierte Working Poor: «In dieser Branche ist kein einziger Arbeitgeber auf dich angewiesen, weil zehn andere Leute nur darauf warten, deinen Job zu übernehmen – auch zu einem absoluten Tiefstlohn.»
Daniela Sandmeier sieht die Situation ähnlich. «Warum verdient der Magaziner bei uns 700 Franken mehr als eine Verkäuferin? Wir stehen auch um sechs Uhr früh im Laden und karren die Waren zu den Gestellen.» Sie liefert die Antwort gleich selber: «Erstens ist er ein Mann, und zweitens finden sich Magaziner nicht so leicht; Verkäuferinnen dagegen gibt es in der Schweiz wie Sand am Meer.»
Dabei hat es die Alleinerziehende mit ihrem Arbeitgeber noch gut getroffen. Der Grossverteiler untersteht einem Gesamtarbeitsvertrag, was die Arbeitsbedingungen in der Regel deutlich verbessert. In einem viel beachteten Positionspapier der Caritas Schweiz zu den Working Poor halten die Autorinnen denn auch fest: «Wo sich auf dem Arbeitsmarkt keine sozialpartnerschaftlichen Regeln durchsetzen konnten und wo der Staat diese Lücke nicht ausfüllt, dort ist auch die Zahl der Working Poor deutlich höher.»
20 Jahre auf mehr Lohn gewartet
Was ist zu tun? Rasch umzusetzen sind etwa gesetzliche Mindestlöhne, Steuererleichterungen, verbesserte externe Kinderbetreuung und staatliche Ergänzungsleistungen für Ein- und Zweielternfamilien; zudem empfiehlt die Caritas «flankierende Massnahmen der Sozialhilfe, die über die finanzielle Unterstützung hinausgehen. Dazu zählen beispielsweise Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote, die die berufliche Qualifikation der Working Poor verbessern würden.» Das Armutsrisiko, so belegen diverse Studien, nimmt mit steigendem Ausbildungsgrad deutlich ab.
Daniela Sandmeier etwa hätte ihren Monatslohn bereits vor Jahren um rund 300 Franken aufbessern können, wenn sie in ihrer Firma zur Rayonchefin aufgestiegen wäre. Da sie aber nur die zweijährige Lehre absolviert hatte, blieb ihr eine Beförderung verwehrt. Als allein erziehende Mutter mit einem vollen Arbeitspensum konnte sie die fehlende Qualifikation jedoch mangels Zeit, Energie und Geld nicht nachholen. Erst nachdem sie ihre Tüchtigkeit und Kompetenz während nunmehr 20 Jahren unter Beweis gestellt hatte, konnte sie diese Leitungsfunktion vor einem Jahr übernehmen.
Corinne M. gelang es ebenfalls, durch Weiterbildung ihr Einkommen zu steigern. Die 28-jährige Alleinerziehende arbeitet teilzeitig als angelernte Landschaftsgärtnerin. Daneben jobbt sie am Abend, wenn ihre achtjährige Tochter durch die Wohnpartnerin beaufsichtigt wird, in einem Restaurant.
Seit sie Auto fahren und damit auch Transporte mit dem Lieferwagen ausführen kann, verdient sie rund 200 Franken mehr pro Monat. «Ich musste mir die teuren Fahrstunden vom Mund absparen», sagt Corinne M. «Das Sozialamt lehnte es ab, mich zu unterstützen.»
Ausbildung als grösster Traum Diese barsche Absage hat der jungen Mutter arg zugesetzt. Sie wagt im Moment gar nicht, daran zu denken, dass sie eigentlich gern die Ausbildung zur Sozialarbeiterin in Angriff nehmen möchte. Dies würde ihr künftig wirtschaftliche Unabhängigkeit geben. «Doch wie soll ich das bewerkstelligen, wenn mir die Behörden so wenig Unterstützung geben?», fragt Corinne M. resigniert. «Ich brauche meine Energie, um das Überleben meiner Tochter zu sichern.» Ihre Ausbildung wird deshalb wohl noch lange ein Traum bleiben.
Da hatte Pia L. mehr Glück. Der Sozialvorsteher ihrer Wohngemeinde unterstützt die allein erziehende Mutter zweier halbwüchsiger Kinder in ihrem beruflichen Weiterkommen auf vorbildliche Art. Pia L. darf mit dem Segen des Sozialamts ihre Halbtagsstelle im Verkauf niederlegen, um die einjährige Ausbildung zur Multimedia-produzentin in Angriff zu nehmen.
Auch die Stiftung SOS Beobachter unterstützt Menschen, die trotz Job arm sind – etwa mit Ausbildungshilfen, Zuschüssen an teure Zahnsanierungen oder Beiträgen an sonst unbezahlbare Ferien.
Von dieser Hilfe profitiert etwa Anna C., die bei der Post und im Verkauf arbeitet. Ihre Tochter Cornelia braucht dringend eine Korrektur der Zahnstellung – doch es fehlt an Geld; die allein erziehende Mutter kann mit ihren zwei Teilzeitjobs keine Reserven bilden. Hier springt der Beobachter ein. Anna C.: «Ich bin unendlich froh um diese Unterstützung.»