Das Prinzip der solidarischen Landwirtschaft klingt bestechend: Städter bauen mit der Hilfe von Landwirten oder Gemüsegärtnern ihr eigenes Gemüse an. Das soll die Landwirtschaft ökologischer machen, den Produzenten ein faires Einkommen sichern und den Konsumenten wieder bewusst machen, woher ihr Essen kommt. Im vergangenen Jahrzehnt sind in der Schweiz etliche Projekte entstanden; mehr noch, aus der Idee entwickelte sich eine politische Bewegung. Doch funktioniert der Ansatz wirklich? Sind Produzenten und Konsumenten bereit dafür? Und kann man die Städter auf dem Acker brauchen?

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Im Zürcher Aussenquartier Affoltern hat die Zürcher Genossenschaft «Meh als Gmües» eine alte Gärtnerei und zwei Hektaren landwirtschaftliches Land gepachtet. Die Gärtnerei wirkt etwas heruntergekommen, aber sie ist von neuem Leben erfüllt. An allen Ecken und Enden gedeiht etwas, Cherrytomaten wachsen aus hängenden Töpfen, im Schuppen stehen Spaten in grosser Zahl bereit. Maschinen sieht man kaum, und wenn doch, dann sind es kleine.

Frank Meissner, 52, ein gross gewachsener Mann mit freundlichem Gesicht, ist einer der beiden angestellten Gemüsegärtner und zuständig für die Produktion. Als der Deutsche in den Achtzigerjahren durch die Umweltbewegung politisiert wurde, gab er seinen Job als Chemikant auf, machte Zivildienst in einem Institut für Bodenkunde, eine Ausbildung im Weinbau und lernte dann auf einem Biobetrieb, wie man Landwirtschaft betreibt, ohne der Natur zu schaden. Später studierte er noch Ökowissenschaften und Soziologie.

Die Ernte wird geteilt

«Am Samstag rede ich jeweils den ganzen Tag», sagt er, «obwohl ich ein wortkarger Typ bin.» Am Samstag kommen die Genossenschafter Jacqueline Badran im Interview «Mieter zahlen jedes Jahr 14 Milliarden zu viel» , um ihre Arbeitseinsätze zu leisten. Das Ganze funktioniert so: Die Konsumenten verpflichten sich, während einer Saison Gemüse von der Genossenschaft zu beziehen, und bezahlen für einen Ernteanteil 900 Franken im Voraus. Das finanziert die Betriebskosten, sichert die Löhne der Gärtner und ermöglicht die Planung. Zudem müssen die Genossenschafter während der Saison zusätzlich fünf halbe Tage auf dem Acker mithelfen.

Als Gegenleistung dürfen sie einmal in der Woche einen Gemüsekorb abholen, der anders als bei einem Gemüseabo nicht mit einer bestimmten Menge Gemüse gefüllt ist. In der solidarischen Landwirtschaft wird die Ernte durch die Anzahl Genossenschafter geteilt. Ist die Zucchetti-Ernte gut, gibt es viel, wächst der Salat nicht, weil es zu trocken ist, gibts keinen. Stattdessen entscheidet man gemeinsam, ob man in eine Bewässerungsanlage investieren will.

Heute sind, obwohl das Wetter gut ist, nur sieben Helferinnen und Helfer zum Arbeitseinsatz angetreten. Meissner hat, wie er unumwunden zugibt, das Community-Management vernachlässigt. Sam Schneider, 44, schaufelt mit der tatkräftigen Unterstützung seines Sohnes Tiago, 2, den Kompost Grünabfall Doktor Kompost um. Die Familie macht beim Projekt mit, weil sie sich gut ernähren und weniger Abfall machen will. Immer wenn er mit den Kindern vorbeikomme, sagt Schneider, würden sie mitarbeiten wollen. «Die Gärtnerei ist ein inspirierender Ort. Wir haben hier schon viel gelernt.»

Möglichst viel unterschiedliches Gemüse

Meissner zeigt dem Vater-und-Sohn-Duo, wie sie den Kompost auf einen neuen Haufen schaufeln können. Er braucht viel Geduld mit seinen rund 200 ungelernten Helfern, weil er immer wieder bei null anfangen muss, und viel Toleranz, weil sie oft nicht einmal wissen, wie man eine Pflanze richtig giesst. Manchmal ist rasches Eingreifen nötig, etwa wenn jemand beim Tomaten-Ausgeizen die Haupttriebe abbricht oder aus lauter Ehrfurcht vor dem selbst gezogenen Salat diesen mitsamt den gelben Blättern in die Gemüsekisten abpacken will. «Das geht gar nicht. Sonst beginnt der ganze Salat zu faulen.»

Doch die Zusammenarbeit hat für Meissner auch Vorteile. Da die Genossenschaft möglichst viel unterschiedliches Gemüse anbaut – man will ja nicht den ganzen Winter nur Kartoffeln und Kohl essen –, fällt viel Handarbeit an. Die einfachen Arbeiten können die Helfer gut übernehmen. Fabian Glaus, 27, und Elisabeth Herberger, 32, knien im Acker und jäten Pastinaken. Der Wirtschaftsinformatiker und die Ärztin sehen die körperliche Arbeit als guten Ausgleich zum Job. Mit dem Gemüse sind sie zufrieden, «es hat einfach mehr Dreck dran», der Salat sei frischer als der aus dem Laden. Manchmal müssten sie zuerst herausfinden, was man mit speziellen Sachen wie der Karde, einem Distelgewächs, kochen kann. «So werden wir zu unserem Glück gezwungen.»

 

Essen, was der Boden hergibt

Francesca Fumasoli, 51, ist Übersetzerin und findet es toll, dass sie nicht mehr nur Konsumentin ist, sondern auch Produzentin. «Das fühlt sich ganz anders an», sagt sie. Wie viele andere Genossenschafter wohnt sie in der «Mehr als Wohnen»-Genossenschaft in Zürich-Leutschenbach. Die Idee, solidarische Landwirtschaft zu betreiben, sei in der Gründungsphase der Baugenossenschaft entstanden, erzählt Matthias Probst, 37, der das Projekt mitgegründet hat.

Von Anfang an sei es ihnen auch um die Vision einer ökologischen und fairen Landwirtschaft gegangen, sagt der Umweltnaturwissenschaftler und Zürcher Gemeinderat der Grünen. «Was man im Supermarkt kauft, ist nicht fair produziert. Es funktioniert nur, weil viele Subventionen fliessen. Der Bauer ist so knapp dran, dass er seine Produktion stets optimieren Pestizide Gefahr in der Luft muss – und das geht zulasten der Natur.» Für ihn ist klar: Der Konsument muss seine überzogene Anspruchshaltung überdenken. Das essen, was der Boden hergibt – anstatt zu jeder Jahreszeit auf der grösstmöglichen Auswahl und Obst in Normgrösse zu bestehen.

Die ehemalige Zierpflanzengärtnerei in Affoltern konnte die Genossenschaft 2016 pachten. Doch bald mussten sie feststellen, dass sie nur rund eine halbe Hektare für den Gemüseanbau nutzen konnten: Der Boden Garten Auf gute Erde kommt es an war so schlecht, dass am Anfang jeder gesichtete Regenwurm zum Tagesgespräch avancierte. Sie überredeten umliegende Biobauern, ihnen einen Hektar Land zur Zwischennutzung zu überlassen.

Unermüdlicher Krampfer

Der Boden auf dem Pastinakenfeld ist von den schweren Traktoren des Bauern noch stark verdichtet, und weil zuvor Mais angebaut wurde, befinden sich zahlreiche Strünke darin. Nicht ideal, meint Meissner, während er mit seiner kleinen Radhacke durchs Feld marschiert und die Pastinaken anhäufelt, damit weniger Unkraut wächst. Die Genossenschaft produziert biologisch und setzt darüber hinaus auf Mischkulturen, in denen sich Rosenkohl und Beeren zu Höchstleistungen antreiben.

«Wo gibt es das sonst, dass die Konsumenten die Produzenten fragen: ‹Verdient ihr genug? Reicht es auch für Ferien?›?»

Matthias Probst, Mitinitiant «Meh als Gmües»

Meissner ist einer, der an 1000 Schrauben gleichzeitig dreht. Er tüftelt am Humusaufbau, unterstützt Arbeitsgruppen, die Bienen züchten, sucht Kleinmaschinen, die es fast nirgends mehr gibt, und bildet die Städter im Kurs «Unkrautjäten I» weiter. Die Genossenschaft funktioniert basisdemokratisch, auch sein Lohn war schon Gegenstand von Diskussionen: Die Genossenschafter fanden, er sei zu niedrig, und hoben ihn auf 5000 Franken an – was ihre Jahresbeiträge verteuerte. «Wo gibt es das sonst», fragt Probst, «dass die Konsumenten die Produzenten fragen: ‹Verdient ihr genug? Reicht es auch für Ferien?›?»

Man realisiere, wie es um die Landwirtschaft stehe, so Probst. «Man hat die Bauern sich selbst überlassen und gleichzeitig hochgradig abhängig gemacht.» Jeder Bauer müsse schauen, dass er den Laufstall, den Melkroboter amortisieren könne, schreibt Bettina Dyttrich in ihrem Buch «Gemeinsam auf dem Acker». Sinke der Preis, versuche der Bauer durch Menge den Verlust wettzumachen. Für den einzelnen Betrieb sei dies durchaus rational, obwohl es, wenn es alle so machen, «zu Überproduktion und tiefen Preisen führt und damit die Probleme verschärft».

Beim Gemüse fast Selbstversorger

Urs Niggli Biologisch vs. konventionell Kann Bio die Welt ernähren? , Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL), sagt: «Bäuerinnen und Bauern entkommen dank der solidarischen Landwirtschaft der wirtschaftlichen Tretmühle, die immer schneller dreht. Konsumentinnen und Konsumenten können sich persönlich an einer zukunftsträchtigen Landwirtschaft beteiligen und erhalten dank dem Wegfall des Zwischenhandels günstigere biologische Lebensmittel.» Seiner Meinung nach wird diese Form der Landwirtschaft in der Schweiz, wo sich Siedlungsgebiete und Landwirtschaft zunehmend stark vernetzen, weiter an Bedeutung gewinnen. «Ich schätze, dass mit der Zeit 5 bis 10 Prozent der Ernährung so abgedeckt werden können.»

Heute baut Matthias Probst sein Gemüse zu 90 Prozent selbst an, der Boden regeneriert sich, auf dem Areal der Gärtnerei siedeln sich seltene Erdbienen an. Die Gärtnerei ist ein sozialer Ort und ein Ort, wo es für alle sinnvolle Arbeit gibt. Vielleicht könnte man auch sagen: Die Gärtnerei ist eine wahr gewordene Utopie.

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Julia Hofer, Redaktorin
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