Die sanfte Zähmung des jungen Rohlings
Ein Bullenflüsterer macht einen unbändigen Muni handzahm, um ihn auf das künftige Leben als Zuchtstier vorzubereiten: fünf Monate Auge in Auge mit Mikado, dem Halbstarken aus dem Bündnerland.
Veröffentlicht am 9. Oktober 2007 - 09:54 Uhr
Eine halbe Tonne Widerborstigkeit: Mikado passt es nicht, in dem kreisförmigen Gehege zu sein. Der gedrungene Stier mit dem rotbraunen Fell, das sich am Rücken noch kräuselt und Jugendlichkeit verrät, verharrt trotzig beim Eingangsgatter und scharrt mit einem Vorderfuss, den leeren Blick zu Boden gerichtet. Sein gelegentliches Schnauben durchbricht die Stille. Nur dann und wann hebt er den Kopf und nimmt flüchtig Sichtkontakt auf mit dem Mann, der mit ihm im Korral steht: Andrea Accola, der Bullenflüsterer. Der erste Blick - beiderseitiges Taxieren. «Man kann in den Gesichtern der Stiere lesen wie in einem Buch», wird der 49-jährige Meisterlandwirt hinterher sagen. «Cow Sense» nennt er das, was für seine Arbeit unerlässlich ist: spüren, wie sich das Tier fühlt. «Skeptisch, vorsichtig, aber auch interessiert», so Accolas Einschätzung seines bulligen Gegenübers.
In den Ring gestiegen ist der Bullenflüsterer an diesem sonnigen Maimorgen mit dem Auftrag, den im Vorsommer auf einer Alp ob Parpan GR geborenen Muni Mikado handzahm zu machen. Im Herbst, so der Plan, wird der Jungstier auf einer Zuchtbullenauktion verkauft. Bis dahin muss ihm das Wilde ausgetrieben sein.
Wie zwei Boxer im Ring
Mikado - Vater Merlot, Mutter Minolta, allesamt hundertprozentige Vertreter der Fleischrasse Limousin - ist in der Mutterkuhherde des landwirtschaftlichen Bildungs- und Beratungszentrums Plantahof in Landquart GR aufgewachsen. Im März wurde er von seiner Mutter getrennt und mit neun weiteren Halbstarken zu einer neuen Tiergruppe zusammengeführt. Mit Menschen hat es der Jungbulle bislang kaum zu tun bekommen; sie haben ihn gefüttert und enthornt, ihm einen Nasenring verpasst, aber mit ihnen zusammen zu sein, das ist er sich nicht gewohnt. Mikado ist einer, der noch geformt werden muss - ein «Rohling», wie man das in der Sprache der Züchter mit einer gewissen Ehrfurcht nennt. Er war in seinem Leben noch nie mit einem Halfter angebunden, doch das soll sich heute ändern.
Nach Minuten des reglosen Beobachtens beginnt Accola, sich behutsam im Rundgehege zu bewegen. Die Arme schwenkend, geht er auf Mikado zu, weckt dessen Fluchtinstinkt. Das Tier streift nervös durch den Ring, immer wieder prallt sein massiger Körper gegen die Abschrankungen. Laut scheppert Metall. Lässt Accola das Treiben, bleibt der Stier stehen. Sie beäugen sich wie zwei Boxer auf Distanz. «Er muss merken, dass ich es bin, der hier den Takt angibt», erklärt der Bündner Bullenflüsterer, der nie flüstert, sondern seinen Schützling mit fester Stimme zum Mitmachen auffordert: «Khumm, Bueb!
Mit der Zeit werden Mikados Schritte gleichmässiger, der erste Stress ist weg. Jetzt beginnt Andrea Accola, den Muni mit dem Halfter zu bewerfen; alle Körperteile sollen mit dem groben Seil in Berührung kommen. Bis auf einen Meter lässt der Bulle seinen Flüsterer heran. Ein Haselstock bildet Accolas verlängerten Arm, mit dem er sanft über das Fell des Tiers kreist. Dem Stecken entlang tastet sich die Menschenhand bis zum Tierkörper vor. Mikado begehrt kurz auf, bevor er die erstmalige Berührung geschehen lässt. «Brav, Bueb.»
«Sanfte Halfterzähmung» ist der Fachbegriff für das Bullenflüstern. Armon Fliri, ein Landwirt aus dem zürcherischen Unterengstringen, hat die Methode des amerikanischen Pferdeflüsterers Monty Robert auf Rinder übertragen. 2002 wurde das Bullenflüstern im Fleischrinderzuchtbetrieb des Plantahofs erstmals angewendet, heute gibt es dort auch Kurse, um die Methode unter den Viehhaltern zu verbreiten. Andrea Accola erläutert den Hintergrund: «Die neuen Haltungsformen führen zu einer schleichenden Verwilderung des Rindviehs. Das erfordert einen anderen Umgang mit ihnen.» Der Wechsel vom Anbinde- zum Laufstall, Rationalisierungsmassnahmen auf den Höfen sowie die Zunahme der Mutterkuhhaltung haben zur Folge, dass Vieh und Menschen seltener Kontakt haben. Die Tiere werden scheu, ihre natürlichen Instinkte erwachen wieder - sie werden eigensinnig oder gar angriffig. Bauern, Tierärzte, Besamungstechniker und Wanderer werden gehäuft ins Visier genommen und teils schwer verletzt.
In seiner ersten Lektion hat Mikado so weit Vertrauen zum Erzieher gefasst, dass er sich überall berühren lässt: an Kopf, Hals, Rücken, Bauch, Beinen, Geschlechtsteilen. Zeit, den Halfter anzulegen, erst nur lose, dann fester. Zu fest - Mikado reisst sich los. Andrea Accola lässt ihn laufen, bis sich das Tier wieder beruhigt hat, dann beginnt die Annäherung von vorn. «Bloss nicht versuchen, ihn zurückzuhalten», sagt Accola, 70 Kilo, mit Blick auf seinen Schützling, 500 Kilo. «Eines darf nie passieren: Der Stier darf nicht merken, dass er stärker ist.» Die Sprache, die der erst halb gezähmte Rohling versteht, sind die Körpersignale des Bullenflüsterers; hoch aufgerichtet meldet Dominanz, leicht gebückt meint Beruhigung. Nach einer Dreiviertelstunde ist der junge Limousin am Gatter angebunden, nun vollkommen ruhig. «Jetzt fangt er dänn a z brünzle», ahnt der Mensch mit dem untrüglichen «Cow Sense». Ein gutes Zeichen, das Entspannung verrät. Das Tier tut wie vermutet, dann hat es sich für heute ausgeflüstert.
Ruhe und Geduld, davon müsse ein Bullenflüsterer reichlich mitbringen, sagt Andrea Accola. Und eben: das Gespür fürs Tier. Seit 28 Jahren arbeitet der passionierte Jäger bereits auf dem Plantahof, legte dort auch die Meisterprüfung ab. Lange war er in der Bündner Landwirtschaftsschule im Bereich Pflanzenbau tätig, bevor er sich vor vier Jahren der Arbeit mit den Rindern verschrieb und die neue Flüstermethode von Grund auf erlernte. Etwa 20 junge Stiere hat Accola seither handzahm gemacht. Mikado verlangt ihm mehr Geduld ab, als anfangs vermutet.
Das geht mitten durchs Herz
Mitte Juni. Der Jungbulle hat weitere Flüsterlektionen erhalten, und dennoch «hat er Phasen, wo er meint, dass er der Chef ist». Etwas launisch sei sein Schützling mitunter, sagt der zweibeinige Chef, habe einen eigenen Grind, ganz die Mutter halt. Aber: «Wir Menschen haben schliesslich auch unsere Macken, oder?» Auf seine Muni lässt der stämmige Mann mit Bart und Brille nichts kommen.
An diesem schwülen Morgen hat Mikado seinen ersten Freigang. In gewohnter Manier nähert sich Accola dem Bullen, krault ihn am Hals, nimmt ihn an den Halfter und ans Nasenseil - die Notbremse, falls er durchbrennt. Die junge Praktikantin Jasmin Berger öffnet das Tor zum Korral, und der Spaziergang auf den Wegen rund um den Stall kann losgehen. Mal schieben sie, mal ziehen sie, mal flehen sie ihn an - doch am Ende bekommt Mikado gute Noten: «Bisch an guata Kerli», lobt Andrea Accola mit seiner sonoren Stimme, die er in der Freizeit als Bariton im Männerchor Igis trainiert. Der Stier, der seinen Test in Gesellschaftsfähigkeit bestanden hat, trottet derweil zurück in den Stall, Seite an Seite mit Merlin, einem anderen Limousin aus der Plantahof-Zucht, mit dem er durch dick und dünn geht. Ein extremes Herdentier sei er, sagt der Züchter. «Das Alleinsein passt ihm gar nicht.»
Durchbrennen unmöglich: Das Nasenseil dient als Notbremse.
Am Ende des Sommers, wir sind im September, sind Mikado und Merlin wieder zusammen - zum letzten Mal. Im Tiertransporter geht es ins Unterland, an die «Beef 07» hoch über dem Zürichsee. Dort, am grössten Weidfest der Schweiz, sollen die beiden gezähmten Bullen an den jeweils Meistbietenden verkauft werden. Auf dem Abladeplatz herrscht Aufregung: Ein Muni hat beim Aussteigen «blöd getan», wie sich die Züchter zuraunen. In den Gesichtern der Männer steht Respekt. «Ein Stier ist ein Stier, es kann immer etwas passieren», weiss auch Andrea Accola. Mikado und Merlin geben indes keinen Grund zur Klage: Folgsam lassen sie sich ins Zelt führen, wo sie gewogen und vermessen werden - «guati Bueba».
Mikado, mittlerweile 13 Monate alt und 562 Kilo schwer, kommt mit der Nummer 88 in den Auktionskatalog. Entspannt liegt er auf dem Stroh der Box im grossen Zelt, das bis zum Stierenmarkt vom folgenden Tag als Viehstall dient. Nur noch ein paar Stunden ist er mit den vertrauten Menschen vom Plantahof zusammen, mit seinem Flüsterer vor allem. Umgekehrt auch - gibt es für einen professionellen Züchter so etwas wie Abschiedsschmerz? Andrea Accola, kein Mann des Überschwangs, klopft sich in Herzhöhe auf sein graues Plantahof-Shirt: «Moll, moll, das geht schon hier durch», brummelt er. Wenn man so lange mit einem Tier zusammenarbeite, baue sich eine Beziehung auf - das sei nicht bloss ein Job: aufziehen, verkaufen, fertig. Morgen, zum Abschied, wird er noch einmal reden mit Mikado, ihn am Hals kraulen, so wie es der gesellig gewordene Bulle gern hat. «Er soll mit einem guten Gefühl weggehen.»
Trotzdem: Ein Job ist es natürlich auch. Mindestens 5200 Franken will Accola für Mikado lösen. Zum grossen Tag der Stierenauktion hat sich der Züchter mit neuen Jeans und weissem Hemd herausgeputzt, und auch Ruth Philipp, Tierpflegerin im Plantahof, die ihn an der «Beef 07» begleitet, hat die patente Allzweckschürze im Stall gelassen. Accola hat den Preis noch etwas nach oben geschraubt, nachdem Mikado am Vorabend bei der linearen Beschreibung bessere Noten erhalten hat als erwartet. Da wurden äussere Merkmale des Rinds bewertet: seine Bemuskelung, die Harmonie seiner Körperteile, die Beine, der Gang. «Ein schönes Tier», so das knappe Urteil von Experte Hansruedi Lobsiger, was sich für Mikado im hohen Wert von 90 Punkten niederschlug. Über dessen Problemzone, den leicht durchhängenden Rücken, hat er hinweggesehen.
Gute Noten: Hansruedi Lobsiger (rechts) lobt Andrea Accolas Schützling.
«En Super-Stier mit Super-Fundament», dröhnt kurz nach Mittag die Stimme von Auktionator Urs Jaquemet aus den Lautsprechern, «lueged emal das Ländestuck!» Mikado - frisch gestriegelt und mit Glanzspray versehen - tritt an der Hand von Accola in den Ring und tut, was er geübt hat: steht still, wenn er soll, geht, wenn der Chef das will. Ein perfekter Auftritt. Und doch - keiner auf der Tribüne mag auf den Mindestpreis einsteigen. Quälend lange Minuten drehen die zwei ihre Runden, der Auktionator legt sich ins Zeug, doch es gibt keine Gebote von Kaufinteressierten.
Bleibt der Rückzug ins Stallzelt: das Tier fast leichtfüssig, wie von freudigem Stalldrang erfasst, der Mensch mit sichtlicher Ernüchterung im Gesicht. Accola bleibt nur das Spekulieren: «Keine Ahnung, weshalb er nicht gezogen hat.» War es der Einstiegspreis? Die Zusammensetzung des Publikums? Der Umstand, dass vom Grossvater Mas du Clo zurzeit gar viele Abkömmlinge im Umlauf sind? Ein unberechenbares Business sei das, da kämen solche Nullnummern schon mal vor. Und was nun? «Jetzt gehen wir halt wieder heim. Gäll, Bueb.» Wieder fährt die Hand zum Hals des Bullen, um ihn zu kraulen, so wie er es gern hat. Die Rückfahrt muss das Herdentier Mikado allein antreten: Weggefährte Merlin wurde für gutes Geld an den Sihlsee verkauft. Seine Box bleibt leer.
«Sauwohl» sei es dem Stier in der vertrauten Umgebung, meldet zwei Wochen später Andrea Accola vom Plantahof. Doch bald kommt die neue Herde von der Alp und beansprucht Platz im Stall, ewig kann Mikado nicht bleiben. Ein Inserat auf der Website des Limousin-Rassenclubs soll helfen, dem Überraschungsheimkehrer zu einer neuen Heimat als Zuchtstier zu verhelfen. Wenn es so weit ist, wird Andrea Accola seinen flügge gewordenen Muni nochmals am Hals kraulen und ihm gut zureden. «Ciao, Bueb.»