«Waldbrände sind für die Biodiversität ein Segen»
Ein abgebrannter Wald ist ein trostloses Bild. Zu Unrecht, sagt Waldexperte Thomas Wohlgemuth: Die Natur rapple sich wieder auf – vielfältiger als zuvor.
Veröffentlicht am 3. August 2023 - 13:20 Uhr
Herr Wohlgemuth, viele haben die Bilder des Waldbrands in Bitsch VS gesehen. Eine totale Zerstörung der Natur, hat man den Eindruck. Aber stimmt das?
Auf den ersten Blick, ja! Doch längerfristig tritt das Gegenteil ein. Für die Natur und vor allem für die Biodiversität ist ein solcher Brand eher eine Gelegenheit, für einige Arten gar ein Segen.
Das müssen Sie erklären.
Ein Grossbrand wie in Bitsch oder auch wie vor Jahren in Leuk macht im betroffenen Gebiet zunächst einmal Tabula rasa. Es ist eine radikale Veränderung von lebender zu toter Biomasse. Bis in die Humusschichten wird das meiste Leben ausgelöscht. Für die Menschen in der Nähe ist ein solches Ereignis zunächst ein Schock. Ein Teil ihrer gewohnten Umgebung ist verbrannt, schlimmstenfalls sogar Hab und Gut. Der Waldbrand verwandelt das Waldökosystem in wenigen Stunden in eine öde Mondlandschaft. Der Natur bietet diese Situation aber die Chance für eine Besiedlung mit Pflanzenarten, die vorher nicht vorhanden waren.
Zur Person
Können Sie ein Beispiel machen?
Himbeersamen und andere, weniger bekannte Pflanzenarten können beispielsweise über Jahrhunderte in der Erde schlummern und auskeimen, wenn sich die Bedingungen zu ihren Gunsten verändern. Sehr interessant sind auch die Folgen des Brands im Wallis oberhalb von Leuk. Im Hitzesommer 2003 brannten 300 Hektaren Wald mit rund 200’000 Bäumen ab. Man muss sich vorstellen: Eine Hektare ist eine quadratische Fläche mit einer Seitenlänge von hundert Metern, es wurde also ein sehr grosses Stück Nadelwald vernichtet. Innert drei Jahren hat die Pflanzenartenvielfalt in diesem Gebiet jene des Waldes überstiegen. Von den Gehölzarten sind statt Föhren, Fichten und Lärchen nun vor allem Pappeln, Birken und Weiden nachgewachsen, sogenannte Pionierbäume. Statt des ursprünglichen Nadelwaldes entsteht ein Laubwald.
Wie kommt das?
Die Samen dieser erstankommenden Bäume sind viel leichter als jene von Fichten und Föhren oder gar Eichen. Sie werden vom Wind über mehrere Kilometer transportiert. Jeder kennt die Samen der Pappel: die Pappelwolle, die im Frühling an manchen Tagen ähnlich wie Schneeflocken in Massen in der Luft herumgewirbelt wird.
Ist diese Veränderung vom Nadel- zum Laubwald von Dauer?
Nein. Mit der Zeit setzen sich die früher dominanten Waldbäume wie Fichten und Lärchen in der Regel wieder durch. Sie sind schattentoleranter als Pionierbäume, wachsen aber langsamer. Statt wie die Laubbäume 15 Meter erreichen die Nadelbäume langfristig aber Höhen von über 20 Metern. Sie beschatten und verdrängen dann die Pionierbäume. Im untersten Teil der Leuker Brandfläche hat die im Wallis häufige Flaumeiche den Brand überlebt, indem sie aus dem Stock wieder ausgetrieben hat. Zudem werden ihre Samen von weit her effizient verteilt durch den Eichelhäher, einen in der Schweiz weit verbreiteten Singvogel. Der Pionierwald dürfte dort längerfristig einem Eichenwald weichen.
Wie bekommt der Brand der Tierwelt?
Kleine Tiere fallen dem Brand zum Opfer, da sie nicht flüchten können. Doch ihre Populationen bauen sich rasch wieder auf. Wir haben beobachtet, dass sich wegen der grossen Blütenvielfalt nach einem Brand die Zahl der Insekten verzehnfachte im Vergleich zum angrenzenden Wald und ihre Artenzahl sich verfünffachte. Weil die Fläche nunmehr offen und das Nahrungsangebot grösser ist, besiedeln vorübergehend seltene Vogelarten das Gebiet. So baut sich nach und nach die Nahrungspyramide auf.
Das klingt ja geradezu paradiesisch. Sollten Brände sogar künstlich gelegt werden, um der Natur Gutes zu tun?
Aus dem Grund der Vermeidung grosser Brände wird zum Beispiel in den USA und in Kanada die Praxis des kontrollierten Abbrennens von Kräutern, Gräsern und kleinen Büschen mit gutem Erfolg praktiziert: Wo weniger brennbares Material in Waldbeständen steht, sind grosse Wildfeuer seltener. Das kontrollierte Abbrennen zur Förderung der Biodiversität ist in der dicht besiedelten Schweiz allerdings eine delikate Sache. Das wurde wenige Male versucht, doch fehlt es an der Akzeptanz. Im Wallis etwa weht fast immer ein Wind, so dass die Brandkontrolle eine Herausforderung wäre.