Die erste Erfahrung, die Tanja Brügger mit der schulischen Integration machte, war bitter: «Im Kindergarten wurde mein Sohn teilweise vom Unterricht suspendiert, obwohl sie ihn eigentlich integrieren wollten», schrieb die 39-Jährige in einem Internetforum. Sie war eine von zahlreichen Müttern, die sich innert weniger Stunden zur Frage «Integration: Fluch oder Segen?» äusserten, viele davon skeptisch bis negativ.

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Jetzt sitzt Tanja Brügger in einem Café in Bern und erzählt, wie sich alles zugetragen hat. Ihr heute achtjähriger Sohn Remo hat ADHS. Im Kindergarten stand diese Diagnose noch nicht fest. Remo war sehr impulsiv, Freudenstürme und Wutanfälle waren an der Tagesordnung. Ihm wurde eine Heilpädagogin zur Seite gestellt. Trotzdem kam es einige Male zu unschönen Szenen, manchmal schmiss er Gegenstände durchs Zimmer. «Seine Konzentration liess im Lauf des Tages stark nach. Er liess sich leicht provozieren, schwierig wurde es vor allem am späten Vormittag», erzählt Brügger.

Unlösbar, sagen viele Lehrpersonen

Schliesslich wusste sich die Kindergärtnerin nicht mehr zu helfen. Man zog einen Erziehungsberater bei und kam überein, dass Remo vorübergehend einen Tag pro Woche gar nicht mehr in den Kindergarten kommen und an einem Vormittag früher nach Hause gehen sollte. Auch ins Turnen durfte er vorläufig nicht mehr, weil er oft davonlief und sich versteckte. So verkehrte sich die beabsichtigte Integration flugs ins Gegenteil: Remo wurde ausgeschlossen.

Die Integration von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten, spezifischen Lernschwächen oder Behinderungen in die Regelklassen ist mittlerweile fast überall Pflicht (siehe «Integrative Schule»). Doch Lehrpersonen und Heilpädagogen stossen täglich an Grenzen beim Versuch, eine «Schule für alle» zu bilden, wie sie von Politik und Wissenschaft propagiert wird. Viele klagen über mangelnde Ressourcen und unlösbare Aufgaben. Ist die schöne Idee der Chancengerechtigkeit etwa eine Illusion?

Fest steht: Remo ist kein Einzelfall. Typisch daran ist, dass Verhaltensauffälligkeiten sehr oft erst im Kindergarten zutage treten. Und das stellt die Kindergärtnerinnen vor spezielle Probleme: «Man muss erst einmal herausfinden, woran es genau liegt, dass ein Kind zum Beispiel einer Aufforderung nicht nachkommt», sagt Brigitte Fleuti, Kindergärtnerin in Langnau am Albis. Manchmal sei es einfach eine Hörbeeinträchtigung oder eine Sehschwäche. Wenn ein Kind vom Verhalten her aber stark aus dem Rahmen fällt, kann das eine Lehrperson rasch überfordern – schliesslich hat sie noch 20 andere Kinder zu betreuen. Das kann wie im oben geschilderten Fall von Remo zu einem Ausschluss führen, wo doch Integration das Ziel war.

«Es braucht viel Routine, um zu verhindern, dass sich die anderen Kinder vernachlässigt fühlen»: Brigitte Fleuti, Kindergärtnerin

Quelle: Christian Schnur
Was, wenn ein Kind die ganze Zeit schreit?

In Fleutis Kindergartenklassen sitzen seit etwa fünf Jahren regelmässig drei bis vier Kinder, die spezielle Förderung benötigen. Eine Heilpädagogin kommt für drei Lektionen pro Woche zur Unterstützung, übt bestimmte Dinge mit ihnen, etwa Stifthaltung oder Schneiden mit der Schere.

Besonders herausfordernd sind für Fleuti verhaltensauffällige Kinder, die sehr laut sind – oder solche mit Mehrfachbelastungen, die kaum Deutsch sprechen, aus bildungsfernen Familien kommen und mit der hiesigen Kultur nicht vertraut sind. Wie soll ein Kind beim gemeinsamen Brettspiel mitmachen, wenn es nicht weiss, wie man würfelt? Wie reagiert man auf ein Kind, das Dinge herumschmeisst oder die ganze Zeit schreit und die Aufmerksamkeit auf sich zieht? Die Balance zu finden zwischen Zuwendung und Ignorieren ist eine tägliche Herausforderung. «Es braucht viel Erfahrung und Routine, um zu verhindern, dass sich die anderen Kinder vernachlässigt fühlen», sagt Fleuti. Sie habe die Strategie entwickelt, verhaltensauffällige Kinder nicht zu bestrafen, sondern sie immer dann zu loben, wenn sie sich angemessen verhalten. «Das funktioniert recht gut und wird auch von den anderen Kindern akzeptiert.»

Fleuti, seit 29 Jahren Kindergärtnerin, sieht die Integration als «eine Art Weiterbildung». Sie hat Mittel und Wege gefunden, allen Kindern gerecht zu werden. Doch letztlich gibt es für eine erfolgreiche Integration kein Patentrezept. Die Politik überlässt es den Lehrpersonen und Schulleitungen, was sie aus dem Auftrag «integrative Förderung» machen und wie. Das verspricht Bewegungsfreiheit, präsentiert sich im Moment aber eher als führungslose Baustelle, auf der alle nach bestem Wissen und Gewissen vor sich hin werkeln. Wenn es bei der Umsetzung der Integrationsidee derzeit überhaupt ein übergreifendes Prinzip gibt, lautet es «Versuch und Irrtum».

«Ich habe schon von Kindern gehört, die von der Heilpädagogin im Abstellraum unterrichtet wurden»: Marion Heidelberger, Primarlehrerin

Quelle: Christian Schnur

Nicht selten entstehen so auch Modelle, die im Grunde die Kleinklassen durch die Hintertür und unter dem Deckmantel der Integration wiedereinführen. Primarlehrerin Marion Heidelberger, die während sieben Jahren als Lehrerin für die integrative Förderung (IF) in Kloten tätig war, zog jeweils Integrationskinder aus zwei Klassen zusammen, um sie gemeinsam in Mathematik zu unterrichten. Nicht weil sie das System unterlaufen wollte. Aber es war aus ihrer Sicht schlicht das Beste für diese Kinder: «Der separative Unterricht wirkte sich auch in anderen Fächern positiv aus. Die Kinder konnten Grundsätzliches lernen, etwa eine richtige Arbeitshaltung», erklärt Heidelberger. Viele hätten sogar den Sprung in die Sek B geschafft. «Ohne IF wären sie im Verlauf der Mittelstufe wohl ins unterste Niveau gerutscht.»

Solche separativen Lösungen entspringen teils aber auch der Not. Denn die Baustelle «schulische Integration» wird oft genug nicht mit ausreichend Baumaterial und Werkzeug versorgt. IF-Lehrerin Marion Heidelberger holte aus den wenigen ihr zur Verfügung stehenden Stunden – drei Lektionen pro Klasse – das Maximum heraus.

«Alle Kinder können von der Integration profitieren. Sie merken, dass alle Stärken und Schwächen haben»: Heidi Wildi, Heilpädagogin

Quelle: Christian Schnur
Noch schwieriger wirds in der Oberstufe

Auch Heidi Wildi, Heilpädagogin im Schulhaus Letten und an der Heilpädagogischen Schule in Zürich, nimmt manchmal Integrationskinder aus der Regelklasse heraus und bearbeitet ein Thema separat mit ihnen. Es gilt, die wenigen Stunden, die ihr zur Verfügung stehen, so zu nutzen, dass die Kinder am meisten profitieren können. Mit den aktuellen Klassengrössen von bis zu 25 Schülern bleibe einem manchmal einfach nichts anderes übrig, sagt sie. Voraussetzung ist dafür aber, dass genügend Räume zur Verfügung stehen. Auch das ist längst nicht überall der Fall: «Ich habe schon von Kindern gehört, die für einzelne Stunden von der Heilpädagogin im Abstellraum unterrichtet wurden», erzählt Marion Heidelberger.

Für manche Kinder ist die totale Integration aber schlicht nicht das Richtige. «Einige brauchen einfach einen geschützteren Rahmen», sagt Heilpädagogin Heidi Wildi. In einigen Regelschulhäusern führt die Heilpädagogische Schule der Stadt Zürich eine eigene Klasse mit Sonderschülern. Je nach Fähigkeiten werden dann Einzelne in bestimmten Fächern in der Regelklasse unterrichtet. «Ich halte das für die momentan beste Lösung für diese Kinder. Sie wären in einer Regelklasse die meiste Zeit überfordert, weil sie mit dem Tempo nicht mithalten können», so Wildi.

Das Tempo kann vor allem später an der Oberstufe zum Problem werden. Dort muss der Schulstoff zügig durchgepaukt werden. Viele integrierte Jugendliche kommen irgendwann nicht mehr mit, auch mit noch so viel gezielter Förderung. Sie verlieren die Motivation. Das beobachtet Julia Santschi: Sie arbeitet als Heilpädagogin an einer Sek B im solothurnischen Bellach, unter anderem zusammen mit der Klassenlehrerin Anita Fankhauser.

Im Kanton Solothurn ist die Sek B das tiefste Niveau der Oberstufe. Die Integration wurde erst vor zwei Jahren eingeführt und steckt noch in der Versuchsphase. Die Schülerinnen und Schüler, die in Anita Fankhausers Klasse vergangenes Jahr integriert wurden, haben die Primarschulzeit noch in einer Kleinklasse verbracht. «Wir haben hier zum Teil Schüler, die nicht lesen können beziehungsweise das Gelesene nicht verstehen», so Fankhauser.

Weil im Kanton Solothurn gleichzeitig mit der Einführung der Integration die Oberstufe umstrukturiert wurde, sitzen in den Sek-B-Klassen jetzt auch Schüler, die früher einem höheren Niveau zugeteilt worden wären. Resultat: Die Schere hat sich geöffnet. «Es ist fast unmöglich, all diese unterschiedlichen Jugendlichen in einem Boot zu halten», sagt Klassenlehrerin Fankhauser. Im Prinzip müsste man jedes Lehrmittel überarbeiten und daraus Aufgaben für drei verschiedene Leistungsniveaus generieren, um allen gerecht zu werden. Und das nebst den ganzen Absprachen mit der Heilpädagogin, den involvierten Therapeuten, den Eltern. «Wir machen im Moment sehr vieles, nur nicht Schule geben.»

«Wir haben hier zum Teil Schüler, die nicht lesen können oder das Gelesene nicht verstehen»: Anita Fankhauser, Oberstufenlehrerin, und Julia Santschi, Heilpädagogin

Quelle: Christian Schnur
«Er ist richtig aufgeblüht»

Ist die integrative Schule demnach gescheitert? Lässt sich die Idee gar nicht umsetzen? Das würde keine der befragten Lehrpersonen sagen. Sie stehen hinter der Idee und sehen auch heute schon viele positive Auswirkungen: «Die Integration wird auch oft als Sündenbock benutzt. Bei uns wurde beispielsweise einmal ein Integrationskind aus dem Unterricht ausgeschlossen, weil sein Verhalten nicht mehr tragbar war. Meiner Meinung nach war aber die ganze Situation mit einem Lehrerwechsel und einer jahrgangsdurchmischten Klasse extrem ungünstig», erzählt Heilpädagogin Heidi Wildi. Sie glaubt, vor allem im sozialen Umgang könnten alle Kinder von der Integration profitieren: «Sie merken, dass alle Stärken und Schwächen haben.» Primarlehrerin Marion Heidelberger glaubt auch an die Zugwirkung: «Kinder mit spezifischen Schwächen in einzelnen Fächern können in einem Lernumfeld mit besseren Schülern mehr profitieren als in einer Kleinklasse.» Das zeigt sich auch an der Oberstufe in Solothurn: «Einer meiner Schüler, der vorher in der Kleinklasse war, ist jetzt richtig aufgeblüht und kann gut mithalten. Er braucht viel Unterstützung in organisatorischen Dingen, aber vom Stoff her kommt er gut mit», erzählt Klassenlehrerin Anita Fankhauser.

Gut geendet hat schliesslich auch die Geschichte von Remo, der teilweise vom Kindergartenunterricht suspendiert worden war. Er besucht heute die Regelschule an seinem Wohnort in Schwarzenburg bei Bern. Ein Facharzt hat bei ihm ADHS festgestellt und ihm Medikamente verschrieben. «Er ist viel ruhiger geworden. Aber es liegt auch an der Lehrerin, die sehr positiv eingestellt ist», sagt seine Mutter, Tanja Brügger. Das erste Halbjahr der ersten Klasse verbrachte Remo noch in einer Tagesklinik mit integrierter Schule in Bern. «Jetzt kann er mit seinen Gspäändli von zu Hause zur Schule gehen – wie ein ‹normales› Kind.»

Integrative Schule


Die Integration möglichst aller Kinder in die Regelschule ist mittlerweile in den meisten kantonalen Volksschulgesetzen verankert. Das Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet die Kantone, Schulpflichtige mit besonderen Bildungsbedürfnissen wenn immer möglich integrativ zu schulen. Der Neue Finanzausgleich von 2008 erleichtert das ausserdem, weil die Kantone seither selber für den Regel- und den Sonderschulbereich verantwortlich sind.

Die schulische Integration wird kantonal und teilweise sogar innerkantonal sehr unterschiedlich umgesetzt. Die meisten Schulgemeinden unterscheiden zwischen integrativer Förderung (IF) und integrativer Sonderschulung (IS). IF gilt für Kinder mit spezifischen Lernschwächen oder leichten Verhaltensauffälligkeiten. IS betrifft Kinder mit einer Behinderung (etwa geistige Behinderung, Körperbehinderung oder starke Verhaltensauffälligkeiten).

Ob ein Kind IF erhält, können Lehrpersonen und Schulleitungen in Absprache mit den Eltern meist selber bestimmen. Bei IS sind die Hürden höher: Nach einer schulpsychologischen Abklärung entscheidet eine kantonale Stelle oder die Schulbehörde.

Je nach Status erhalten die Schulen unterschiedlich viel Unterstützung durch eine heilpädagogische Fachperson. Für die IF existieren meist Kontingente von Lektionen, die dann auf Schulebene verteilt werden. Die Unterstützung für IS wird dagegen pro Kind zugesprochen und umfasst je nach Art der Beeinträchtigung und nach schulischem Kontext etwa doppelt so viele Lektionen. Das hat in vielen Kantonen zur Folge, dass die Zahl der registrierten IS-Kinder markant ansteigt, während die Zahl der weiterhin in Sonderschulen unterrichteten Kinder konstant ist. So besuchten im Kanton Zürich im Jahr 2008 rund 2840 Kinder eine Sonderschule. Etwa 360 weitere Sonderschüler wurden integriert unterrichtet. Im Jahr 2011 waren es 2860 Sonderschüler und 1210 integrierte Sonderschüler. Mit anderen Worten: Immer mehr IF-Kinder werden zu IS-Sonderschülern, damit die Schulen mehr heilpädagogische Unterstützung erhalten.

Interview

Die Diskussion um die «Schule für alle» läuft völlig falsch, sagt Bildungsexperte Urs Moser.

Urs Moser ist Geschäftsführer des Instituts für Bildungsevaluation der Universität Zürich. Bekannt wurde er durch seine Mitarbeit beim Projekt Pisa. Dieser internationale Leistungsvergleich wird 2012 zum fünften Mal durchgeführt. (Foto: Christine Bärlocher/Ex-Press)

Quelle: Christian Schnur

Beobachter: Die Kritik von Lehrpersonen und Eltern ist gross: Ist die integrative Schule nicht einfach eine Zwängerei, die man letztlich gar nicht umsetzen kann?
Urs Moser: Mit Zwängerei hat das gar nichts zu tun. Es ist ein politischer Auftrag, dem man sich nicht entziehen kann. Zu einem professionellen Berufsverständnis als Lehrer gehört, dass man diesen Auftrag auch umsetzt. Es gibt sicher Fälle, in denen es nicht funktioniert. Aber deshalb die ganze Idee in Frage zu stellen, finde ich falsch.

Beobachter: Lehrpersonen müssen den politischen Auftrag erfüllen, auch wenns schlicht nicht möglich ist?
Moser: Schauen Sie, manche Lehrpersonen haben vielleicht auch Mühe, den Satz des Pythagoras so zu erklären, dass ihn jedes Kind versteht. Nur stört das dann niemanden. Es gibt genügend Beispiele von gelungener Integration. Sie ist nicht unmöglich.

Beobachter: Angenommen, es gibt ein ADHS-Kind in der Klasse, das ständig den Unterricht stört und herumläuft, dafür aber nicht gemassregelt wird, weil es ja ADHS hat. Wer profitiert da?
Moser: Das hat doch mit der Integration nichts zu tun. Das ist ein Problem aus dem Schulalltag, das auch in jeder anderen Klasse vorkommen kann.

Beobachter: Mit der Integration steigt aber die Chance, dass ein solches Kind in der Klasse sitzt.
Moser: Das stimmt. Aber Ihr Beispiel ist typisch für die derzeitige Diskussion. Man nimmt irgendein schulisches Alltagsproblem und schiebt es der Integration zu, als würde dieses ohne Integration nicht existieren. Das ist nicht redlich. Es gibt Kinder ohne ADHS, die gleichwohl stören – und es gibt ADHS-Kinder, die nicht stören.

Beobachter: Wie beurteilen Sie denn insgesamt die Umsetzung der Integration?
Moser: Es gibt grosse Unterschiede zwischen den Kantonen, aber sie ist auf jeden Fall auf gutem Weg. Die Zahl der integrierten Kinder steigt überall. Allein das deutet darauf hin, dass die Integration umsetzbar ist. In manchen Kantonen fing man aufgrund demographischer Entwicklungen schon in den achtziger Jahren an, Kinder in Regelklassen zu integrieren, weil es für Kleinklassen zu wenige Kinder gab. Dort funktioniert die Integration heute bestens. Neu ist im Prinzip nur die gesetzliche Verankerung, die demokratische Legitimation. Das löst natürlich politische Diskussionen aus, auch wenn die Idee alt ist.

Beobachter: Wo hapert es denn noch?
Moser: Schwierig ist es insbesondere dann, wenn eine Schule nicht bereit ist und glaubt, das gar nicht leisten zu können.

Beobachter: Die meisten Lehrer sind durchaus bereit, aber sie erhalten zu wenig Unterstützung.
Moser: Wenn Integration gelingen soll, braucht es genügend Ressourcen und gute Zusammenarbeit mit den heilpädagogischen Fachleuten. Manchmal sind auch die Räumlichkeiten nicht ideal. Da und dort hört man gar von stiller Integration, dass also Kinder mit besonderen Bedürfnissen ohne jegliche Spezialbetreuung in Regelklassen gesteckt werden. Niemand will das, das ist ein Rückschritt.

Beobachter: Wäre für Kinder, die spezielle Förderung brauchen, eine Kleinklasse nicht besser, wo sie auch mal obenaus schwingen können?
Moser: Kinder mit leichten Verhaltensauffälligkeiten, Lernbeeinträchtigungen oder körperlichen Behinderungen profitieren langfristig von der Integration. Eine Regelklasse bildet das bessere, anregendere Lernmilieu. Man darf aber auch nicht verschweigen, dass das für Kinder mit schweren Verhaltensauffälligkeiten oder starken kognitiven Beeinträchtigungen nicht gilt. In der politischen Diskussion wird leider oft verschleiert, dass totale Integration gar nicht das Ziel ist. Es gibt und braucht auch weiterhin die Möglichkeit der Separation. Integration und Separation schliessen einander nicht aus, sie gehen Hand in Hand.

Beobachter: Integrationskinder könnten in Regelklassen stigmatisiert und von Kameraden gehänselt werden, befürchten sogar Befürworter.
Moser: Die Gefahr der Stigmatisierung besteht auch für Kinder in Sonderklassen. Es mag sein, dass sich Integrationskinder zeitweise wohler fühlen würden in einer separaten Kleinklasse. Aber wenn Sie die ganze Lebensspanne betrachten, ist das ein schwaches Argument. Der Übertritt in die Berufswelt fällt integrativ geschulten Kindern nachweislich leichter als solchen, die in einer Kleinklasse waren.

Beobachter: Ist es nicht einfach so, dass dann all die Integrationskinder in der Oberstufe in den Klassen des untersten Niveaus landen – mit wenig rosigen Berufsaussichten?
Moser: Es stimmt, dass diese Kinder oft dort landen, aber dieses Niveau ist nicht mit einer Kleinklasse vergleichbar. Die Berufschancen dieser Kinder sind gegenüber denjenigen von Kindern, die in Kleinklassen unterrichtet wurden, besser.