«Es gibt eine grosse Unsicherheit»
Jeden Tag nehmen sich in der Schweiz durchschnittlich drei Menschen das Leben. Dennoch wird über Suizid und Suizidversuche noch immer wenig gesprochen. Wie kann man gefährdeten Personen helfen? Und was bedeutet ein Suizid für Angehörige?
Veröffentlicht am 9. September 2015 - 13:52 Uhr
1037 Menschen waren es im Jahr 2012. 752 Männer und 285 Frauen, die sich gemäss Angaben des Bundesamts für Gesundheit in der Schweiz selbst töteten. Das entspricht mehr (suizid-bedingten) Todesfällen als Personen, die im selben Jahr durch Verkehrsunfälle und Drogen ums Leben gekommen sind. Bei den 15- bis 44-jährigen Männern ist Suizid heutzutage gar die häufigste Todesursache, bei Menschen über 65 ist die Suizidrate in den vergangenen Jahren markant angestiegen.
Klar ist: Wenn sich jemand wirklich töten will, dann wird das niemand verhindern können. Was aber ist mit denjenigen Menschen, die sich in einer Lebenskrise befinden und denen auf den richtigen Weg zurückgeholfen werden könnte?
Der Druck auf die Politik, sich diesbezüglich aufklärend und präventiv aktiver einzusetzen, hat in letzter Zeit zugenommen. Nach dem Nationalrat hat auch der Ständerat im vergangenen Jahr eine Motion von EVP-Nationalrätin Maja Ingold angenommen, die den Bundesrat beauftragt, einen Aktionsplan zur Suizidprävention vorzulegen und umzusetzen.
Eine wichtige Position nehmen in der Schweiz die etlichen professionellen Hilfsangebote ein, die sich um suizidale Personen und Angehörige von Suizidopfern kümmern. Denn Selbsttötungen haben immer auch beträchtliche Folgen für das Umfeld: Vier bis sechs Angehörige sind im Durchschnitt davon betroffen.
Wie es im Innenleben dieser Menschen aussieht, lässt sich für Aussenstehende oft nur erahnen. Wie soll man mit jemandem umgehen, von dem man weiss, dass sich eine ihm oder ihr nahestehende Person getötet hat?
Eine Hilfestellung hierfür liefert der Austausch mit Menschen, die eine solche Situation bereits durchlebt haben – wie im Fall der österreichischen Journalistin Saskia Jungnikl. Im Juli 2008 tötete sich ihr Vater selbst, was bei den hinterbliebenen Familienangehörigen viele Fragen aufwarf und deren Leben komplett auf den Kopf stellte. Vergangenen Herbst ist Jungnikls Buch «Papa hat sich erschossen» erschienen, das die Österreicherin fünf Jahre nach dem Tod ihres Vaters schrieb, um ihre Gedanken und Erfahrungen zusammenzutragen und zu verarbeiten.
Saskia Jungnikl, 1981 in Österreich geboren, ist als Autorin und Journalistin tätig und lebt in Wien und Hamburg. Nachdem ihr Artikel über den Suizid ihres Vaters in der österreichischen Zeitung «Der Standard» eine grosse Resonanz auslöste, veröffentlichte Jungnikl im November 2014 das Buch «Papa hat sich erschossen». (Photo: Rafaela Pröll)
Beobachter: Viele Menschen sind sich unsicher, wie sie mit Betroffenen sprechen sollen, in deren Umfeld sich jemand das Leben genommen hat. Wie hat man Ihnen am besten helfen können?
Saskia Jungnikl: Das Wichtigste war, dass mir meine Freunde gezeigt haben, dass sie für mich da sind. Dass sie mit mir geredet haben, und nicht über mich. Dass sie mir zugehört haben, auch noch Jahre später. Ich bin mir sicher, dass es das Wichtigste ist, hinzugehen und zu zeigen: «Es tut mir leid, was dir passiert ist. Ich bin für dich da. Du bist mir wichtig. Wie geht es dir?» Welche Frage es ist, ist nicht das Entscheidende. Und dennoch kann es passieren, dass der Betroffene nicht reden mag. Diesen Wunsch sollte man respektieren und sich nicht gekränkt oder verärgert fühlen, sondern einfach erneut nachfragen, sobald man das Gefühl hat, dass es passt.
Beobachter: Sie sagen von sich, dass Sie drei Jahre nach dem Tod Ihres Vaters spürten, dass es mit Ihnen bergauf gehe. Können Sie aufzählen, was für Sie im Nachhinein die wertvollsten Stützen in Ihrer Trauerverarbeitung waren?
Jungnikl: Es braucht Austausch und Unterstützung von aussen. Die Gespräche mit meiner Familie und meinen Freundinnen waren unverzichtbar. Insbesondere, weil man sich selbst am meisten unter Druck setzt. Ich habe sehr lang damit gekämpft, dass ich dachte, ich müsse möglichst schnell wieder die Alte werden. Irgendwann bin ich draufgekommen, dass das nie passieren wird. Dass ich nie wieder so sein werde, wie ich vor dem Tod meines Vaters war. Dass dies aber nicht wichtig ist, sondern, dass ich es wieder schaffe, ein glückliches Leben zu führen. Und dann gibt es einen Punkt, an dem man erkennen muss, dass man es nicht mehr alleine schafft und sich besser professionelle Hilfe sucht. Ich habe selber jahrelang eine Gesprächstherapie gemacht und besuche sie auch heute manchmal immer noch. Weil ich weiss, dass es mir gut tut.
Beobachter: Mittlerweile halten Sie Lesungen und Vorträge ab oder nehmen an Diskussionsrunden zum Thema «Suizid» teil. Wirft Sie die häufige öffentliche Auseinandersetzung um die Selbsttötung Ihres Vaters nicht in Ihrem eigenen Verarbeitungsprozess immer wieder zurück?
Jungnikl: Ich habe vor kurzem geheiratet und am Tag danach musste ich weinen, weil mein Vater diesen Moment in meinem Leben nicht mit mir teilen konnte. Solche Momente der Trauer gibt es immer noch, es wird sie weiterhin geben und ich werde sie mir weiterhin nehmen. Das Buch zu schreiben war für mich das Ergebnis meiner Verarbeitung, das Ergebnis jahrelanger Suche, Recherche und Reflexion. Vielleicht bleibt die Trauer, aber nicht das Hadern mit dem Schicksal. Und eigentlich alle Rückmeldungen auf das Buch sind so positiv, dass es mich wirklich glücklich macht, es geschrieben und Menschen damit geholfen zu haben.
Beobachter: Was beschäftigt diese Menschen, die sich bei Ihnen gemeldet haben?
Jungnikl: Grösstenteils sind es Menschen, die etwas Ähnliches erlebt haben und nicht darüber reden oder es nicht wirklich begreifbar machen konnten, was in ihnen vorging. Die haben sich in meinem Buch wiedergefunden und sind dankbar. Dann gibt es Menschen, die jemanden kennen, dem so etwas passiert ist und die nun besser verstehen, wie es dieser Person geht. Und dann gibt es solche, die sich selbst töten wollten. Ein 17-jähriges Mädchen etwa schrieb, dass sie sich zum ersten Mal vorstellen konnte, wie es ihren Eltern gehen würde. Sie hat sich nun gemeinsam mit den Eltern Hilfe gesucht. Was generell ganz deutlich zu erkennen ist: Es gibt beim Thema Suizid eine grosse Unsicherheit. Auf allen Seiten.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
Wie kann man suizidale Menschen erkennen? Wie helfen?
Es ist oft schwierig zu erkennen, ob jemand suizidal ist. Menschen in Krisensituationen reagieren oft ganz verschieden.
Einige Warnsignale können jedoch das Suizidrisiko aufzeigen:
- Veränderungen in der Person (Rückzugsverhalten, Apathie, emotionale Labilität)
- Direkte oder indirekte Suizidandeutungen
- Frühere Suizidversuche
- Depression (Schlaflosigkeit, Appetitverlust, Hoffnungslosigkeit, Grübeln, Verlust der Initiative und der Interessen, Konzentrationsstörungen)
- Mögliche letzte Vorkehrungen (Weggeben von persönlichem Besitz etc.)
Was tun?
Wenn Sie um einen Menschen besorgt sind, trauen Sie Ihrem Instinkt – vielleicht haben Sie Recht.
- Fragen Sie, wie die Person sich fühlt
- Zeigen Sie Interesse und Mitgefühl
- Lassen Sie den Betroffenen reden – hören Sie zu
- Ermutigen Sie ihn, Hilfe zu suchen und mit einer Person seines Vertrauens zu sprechen (ein Freund, ein Nachbar, ein Familienmitglied, Lehrer, Arzt oder auch mit jemandem von professionellen Hilfsstellen wie z.B. der Dargebotenen Hand, der SMS-Seelsorge etc.)
Quelle: IPSILON - Initiative zur Prävention von Suizid in der Schweiz
Hier gibt es Hilfe
- www.143.ch: Sorgentelefon 143, Dargebotene Hand
- www.seelsorge.net: per eMail an seelsorge@seelsorge.net oder per SMS an die Nummer 767: Internetseelsorge
- www.ipsilon.ch: Zahlen, Fakten, Literatur, Prävention, Studien und eine umfangreiche Liste kantonaler und regionaler Institutionen
- www.147.ch: Beratungstelefon für Jugendliche
- www.feel-ok.ch: Internetberatung
- www.verein-refugium.ch: Verein Refugium für Hinterbliebene
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