«Das sind alles verwundete Menschen»
Familienrichter haben es oft mit verzweifelten Vätern, hassenden Müttern, verstörten Kindern zu tun. Da ist es für die Richter nicht einfach, über die Zukunft der Familie entscheiden.
Veröffentlicht am 12. Oktober 2009 - 17:47 Uhr
«Obwohl es eindeutig ist, dass meine Kinder durch deren eigene Mutter an perverse Kinderschänder ausgeliefert wurden, wollen die Vormundschaft, der Bezirksrichter, die Oberrichterin und sogar die Bundesrichterin, dass die Kinder in die Obhut der Mutter zurückmüssen. Wenn Sie den Film gesehen haben, werden Sie verstehen, dass das ein ungeheuerliches, grob fahrlässiges Handeln seitens der Richter ist.»
Der Brief von Reto K. (Name der Redaktion bekannt) war an die Redaktion des Beobachters adressiert. Mit beigelegter Film-DVD. Darauf zu sehen: ein kleines Mädchen, das vergnügt in der Badewanne spielt. Es hält sich eine gelbe Plastikente an die Scham, manchmal zuckt es damit auf und ab. Aus dem Off die Stimme des Vaters, der Fragen stellt: «Wo hast du solche Sachen gemacht? Warst du allein, oder hat das jemand mit dir gemacht? War es immer eine kleine Ente? War es auch ein Stöckchen?» Das Mädchen sagt nicht viel, mal sagt es Ja, mal Nein, auch wenn es sich um dieselbe Frage handelt. Aber meistens lacht es und planscht im Wasser. Die Szene wirkt banal. Nur diese fordernde Hartnäckigkeit in der Stimme des Vaters löst beim Zuschauer ein ungutes Gefühl aus.
23. Juni 2008: Das war der Tag, an dem Reto K. die Angst um die Kinder zum ersten Mal so richtig spürte. Der Verdacht, Freunde seiner Frau könnten in ihrem Beisein die Kinder sexuell missbraucht haben, gärte schon länger in ihm. Aber an diesem Tag hielt er es nicht mehr aus, aus dem dumpfen Gefühl wurde Panik. Er verliess seine Frau und zog zu den Eltern. Die Kinder nahm er mit. Eine zweijährige Tochter, ein vierjähriger Sohn. Nun ist das Elternhaus seine Trutzburg. Die Vormundschaftsbehörde, die Richter – sie alle wollen die Gefahr nicht sehen, sind Ignoranten in seinen Augen. Seine Feinde. Die Kinder gehören unter die Obhut der Mutter, entschied das Bezirksgericht einige Wochen nach seiner Flucht. Weil sie, als Mutter und Hausfrau, die Hauptbezugsperson für die Kinder sei. Reto K. zog das Urteil weiter ans Obergericht, ans Bundesgericht, und jedes Mal verlor er. Immer hiess es: Die Kinder müssen zurück zur Mutter. Aber er widersetzt sich. Sie sind immer noch bei ihm, und nie gebe er sie freiwillig her, da müssten sie schon mit der Polizei vorfahren.
Reto K. sitzt in der Küche seiner Eltern. Von Beruf Elektriker. Ein dünner, langer Mittdreissiger mit Wuschelfrisur und müdem Lächeln. Die ständige Sorge um die Zukunft der Kinder zehrt auch noch die letzte Kraft aus den Knochen. Und die Angst wird immer grösser und monströser, je länger sich die Geschichte hinzieht. Sie hat sich in einen beinahe schon paranoiden Eifer verwandelt. «Meine Kinder wurden Opfer eines internationalen Pädophilenrings.» Er vermute sogar, Mitarbeiter der Vormundschaftsbehörde seien involviert. «Mein Sturmgewehr habe ich abgegeben», sagt er. Damit er keine Dummheiten mache, sollten die Gefühle ihn übermannen.
Die Geschichte von Reto K. ist nur ein Beispiel. Sie steht für all jene Geschichten, in denen Väter gegen Mütter oder Mütter gegen Väter kämpfen – um die Kinder. Mit einer Verbissenheit, die an Verzweiflung grenzt. Zerfressen vom Gefühl der Ohnmacht. Mit Hasstiraden. Mit schwersten gegenseitigen Vorwürfen: sexueller Missbrauch der Kinder, Verwahrlosung, Schläge. Mit Schandbriefen an die Behörden. Mit Selbstmord- oder Morddrohungen. Und mitten in diesem Grenzgebiet zwischen Vernunft und Irrationalität, mitten in diesen zerschlagenen Lebensträumen stehen die Richter. Oder die Mitarbeiterinnen der Vormundschaftsbehörde. Und müssen die Wahrheit finden. Und wenn sie sie nicht finden, müssen sie trotzdem entscheiden – wie das Besuchsrecht geregelt werden soll, wer die Obhut oder das Sorgerecht erhält. Wer das Kind verliert. Vielleicht müssen sie sogar gegen den Willen des Kindes entscheiden.
«Man ist kein Automat. Man hat Gefühle. Wie geht man mit den eigenen Gefühlen um? Wir Richter sind auch da. Wir sind nicht nur Kopf und Füsse. Wir sind auch Kopf und Bauch. Und wenn man als Richter kleine Kinder hat, und es kommt ein Fall, wo kleine Kinder geplagt werden. Da spielt der Bauch mit.» – «Das sind alles verwundete Menschen. Es ist schwierig. Der Richter kommt mit dem Verstand und sagt: ‹Schaut doch, Leute, ihr sollt vernünftig sein.›» – «Bei bestimmten Urteilen können mir alle Bücher nicht helfen.» Das sind Aussagen von Richtern. Sie stammen aus Interviews, die das Kompetenzzentrum für Rechtspsychologie an der Uni St. Gallen im Rahmen eines Forschungsprojekts über die psychische Belastung von Berufsrichtern durchführte. Richter aus dem Bereich des Familienrechts stehen unter besonders grossem Druck. Das ergab eine weitere Studie des Kompetenzzentrums. 85 Prozent der befragten Familienrichter gaben an, bereits im Dilemma gesteckt zu haben. «Die Familienrichter haben es mit existentiellen Ausnahmesituationen zu tun, mit menschlichen Dramen», sagt Revital Ludewig, Leiterin des Zentrums. Ein Teil wechsle den Tätigkeitsbereich, weil die emotionale Belastung zu hoch sei.
In menschlichen Dramen gibt es kein Schwarz-Weiss, keine Eindeutigkeit. Wie entscheiden, wo das Kind leben soll, wenn beide, Vater und Mutter, ihre Rolle gleich gut erfüllen würden? Oder gleich schlecht? Und wie entscheiden, wenn das Kind beim Vater eigentlich besser aufgehoben ist, jedoch die Gefahr besteht, dass sich die Mutter im Fall eines Obhutsentzugs umbringt? Wie entscheiden, wenn sich die eigenen Werte und Moralvorstellungen einerseits und die Pflicht zur Gesetzestreue andererseits in die Quere kommen? «Die ideale Lösung, die einzige rechtliche und richtige Entscheidung existiert nicht», sagt Ruth Belz, Gerichtsschreiberin in der Familienrechtskammer am Kantonsgericht St. Gallen. «Das müssen wir aushalten, dass es Verlierer gibt.» Auf die bösen Briefe, die dann manchmal einträfen, dürfe man sich gar nicht einlassen. Auch Reto K. verfasste Briefe, an die Anwältin seiner Frau, an die Staatsanwaltschaft, an den Präsidenten des Bezirksgerichts. Überall derselbe Ton: «Überlegen Sie, ob Sie in Zukunft noch mit einem guten Gewissen schlafen können. Sollte meine Tochter wieder missbraucht werden, tragen Sie Mitschuld, weil Sie dazu beitrugen, dass die Kinder zu ihren Peinigern zurückmüssen.» Über viele Seiten versucht hier einer, seiner eigenen Verzweiflung Herr zu werden.
Reto K. sitzt in der Küche seiner Eltern, am riesigen Esstisch unter der flackernden Neonröhre, und schweigt. Während seine Mutter spricht. Sie nimmt sich kaum Zeit zum Atmen. Sie muss so viel loswerden. Nach jedem zweiten Satz ruft sie, mit empörter Stimme, «Wissen Sie!», und ein schneller Blick kontrolliert, ob auch beim Zuhörer die Empörung lodert. Über Monate haben sich Reto K. und seine Mutter Notizen gemacht, haben die spielenden Kinder beobachtet, haben nach Anzeichen gesucht. Sie sind sich sicher, dass die Kinder von Freunden der Mutter missbraucht wurden. Im Beisein der Mutter. Aber sie brauchen Beweise. «Uns glaubt ja sonst niemand.» Und deshalb sammeln sie alles, was ihnen auffällt. Aus den Notizen: «Die Kinder spielen, sie liegt am Boden, er kriecht auf sie.» – «Sie spielt mit der Puppe, mit einem länglichen Holzklotz wippt sie beim Geschlechtsteil hin und her.» – «Sie beginnt, mich abzutasten, zu massieren. Sie leckt mich am Arm, mit der Zunge, ich bin schockiert.»
Es gab eine Strafuntersuchung gegen Freunde der Mutter, die mangels Beweisen eingestellt wurde. Es gibt einen Abschlussbericht des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes, der im Fall der Tochter von «Hinweisen auf eine mögliche Traumatisierung im sexuellen Bereich» spricht. Es gibt einen forensischen Bericht über die auf Video aufgezeichnete Befragung des Sohnes, der mit der Feststellung endet, dass die Aussagen mit ausreichender Sicherheit weder als wahr noch als falsch eingestuft werden können. Es gibt einen Bericht der Jugend-, Ehe- und Familienberatung, der festhält, dass beide Eltern nur das Beste für ihre Kinder wollen. Aber was es nicht gibt: die eine Wahrheit.
Es gebe Situationen, in denen es für die Richter sehr schwer ist, an die Wahrheit heranzukommen, sagt Psychologin Revital Ludewig. Wenn etwa der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs im Raum stehe und Kinder im Alter von zwei bis vier Jahren involviert seien. «Kinder in diesem Alter als Zeugen zu befragen ist sehr heikel. Sie besitzen noch nicht die Sprache oder die kognitiven Schemata, um ein sexuelles Geschehen zu verstehen und wiederzugeben.»
Geschichten wie die von Reto K., ohne eindeutig erkennbare Wahrheit, sind für Richter und Mitarbeiter von Vormundschaftsbehörden Extremsituationen. Es besteht Absturzgefahr. Das Risiko, falsch zu entscheiden. Mit der Konsequenz eines erneuten Missbrauchs. «Als Behörde stehen wir in solchen Fällen enorm unter Druck», sagt Stefan Blülle, Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendschutz bei der Vormundschaftsbehörde Basel-Stadt. Er spricht von der Angst seiner Mitarbeiter vor den Medien, vor dem Verriss, obwohl man nach bestem Gewissen entschieden hat. Und von der Last der Erwartung. Der Staat soll individuelle Konflikte lösen? «Das ist eine Illusion. Wir können nur entschärfen.»
Die Wahrheit ist nicht einmal immer das Wichtigste. Viel wichtiger, vor allem für das Kind, ist, dass es irgendwie wieder weitergeht. Dass der Vorwurf, der nicht bewiesen werden kann, nicht alles auseinandersprengt. Dass die Eltern immer noch Eltern bleiben, auch wenn sie längst kein Paar mehr sind. «Unsere Aufgabe ist es, das Vertrauen, die Sicherheit wieder aufzubauen, zwischen Mutter, Vater, Kind», sagt Blülle. Beispiel: Die Mutter verdächtigt den Vater. Angst und Misstrauen stecken tief. Sie will auf keinen Fall, dass das Kind den Vater manchmal besucht. Der Vater wünscht sich nichts sehnlicher. Die Vormundschaftsbehörde verordnet ein begleitetes Besuchsrecht. Während der Besuche beim Vater ist immer eine Drittperson dabei. Gleichzeitig muss das Paar in die Mediation. Und irgendwann – «manchmal kann das Jahre dauern», so Blülle – kehrt vielleicht wieder etwas Ruhe ein.
Einen Entscheid fällen – das klingt nach Machtwort, Axthieb. Konsequent, schnell, radikal. Nicht nach langwierigem Puzzlespiel. Aber genau dieses Bild verwendet Ruth Belz, Gerichtsschreiberin am Kantonsgericht St. Gallen, um zu beschreiben, wie die Richter der Familienrechtskammer in heiklen Fällen entscheiden. Fachgutachten sind wichtige Puzzleteile, auf die der Richter sich abstützt. Aber auch Kindesanhörungen oder Sozialberichte über die Wohn- und Lebenssituation der Eltern. Und das intensive Gespräch unter Kollegen. Viele Familienrichter sind inzwischen ausgebildete Mediatoren und haben eine Weiterbildung in Familien- oder Kinderpsychologie besucht. «Erst wenn er das Bild auf dem Puzzle erkennt, fühlt sich der Richter sicher genug, einen Entscheid zu fällen.» Manche aber fühlen sich nie sicher genug. Oder sie können nicht damit umgehen, dass ihr Entscheid negative Auswirkungen hat. «Es gab einen Richter, der bei der Suche nach der richtigen Entscheidung das Verfahren sieben Jahre in die Länge zog. Weil er Angst hatte vor dem falschen Entscheid.»
Seit 2002 haben die Familienrichter in St. Gallen Anspruch auf Supervision. Hier können sie in der Gruppe die schwierigen Fälle und ihr eigenes Unbehagen zur Sprache bringen. Sepp Habermacher, der die Supervisionsrunden leitet, nennt Fragen, mit denen die Richter zu ihm kommen: «Wie gehe ich um mit meiner Einsamkeit als Richter? Mit Blockaden, Drohungen und Provokationen? Mit dem persönlichen Berührtsein, den eigenen Emotionen? Mit dem Gefühl des Ungenügens und schlaflosen Nächten? Mit Zweifeln?»
Reto K. und seiner Mutter kommen keine Zweifel. Sie wollen einen fast nicht mehr gehen lassen. Entschlossenheit, Empörung, Wut türmen sich auf, bis die Hände zu Fäusten geballt sind und auf den riesigen Esstisch niedergehen. Dann fällt alles wieder in sich zusammen. So geht das in ständiger Wiederholung.