In den Mühlen der Justitia
Wer einmal drin ist, kommt kaum mehr raus: Das Inkassobüro Intrum Justitia agiert aggressiv und begeht haarsträubende Fehler - betroffen davon sind nicht selten unbescholtene Bürger.
Veröffentlicht am 4. Februar 2008 - 13:47 Uhr
Dass sie sich korrekt verhalten hatte, nützte Brigitte Wildi nichts. Bereits Monate bevor sie vom aargauischen Oberentfelden ins nahe gelegene Gränichen umzog, informierte die 45-Jährige ihren Internetprovider Cablecom. Dabei erfuhr sie, dass die Firma am neuen Ort den Service nicht anbietet. Ihren Anschluss musste sie deshalb kündigen. Angeblich um Missbräuche zu verhindern, verlangte der Kabelriese von ihr einen Niederlassungsschein. Wildi tat wie geheissen. Sie glaubte, damit sei die Sache erledigt. Weit gefehlt.
Monate nach dem Umzug hatte sie plötzlich ein Schreiben von Intrum Justitia im Briefkasten. Das Inkassobüro springt ein, wenn Firmen bei Kunden ihr Geld nicht eintreiben können. Es stellt Forderungen im Namen einer Firma und treibt diese selbst ein. Der Beobachter hat mehrfach über die rauen Methoden der Geldeintreiber geschrieben.
Von Brigitte Wildi verlangte Intrum 40 Franken Abogebühr, einen Franken Zinsen, Fr. 10.75 «Kundenkosten» und einen sogenannten Verzugsschaden von 54 Franken (zu gerechtfertigten und ungerechtfertigten Forderungen siehe nachfolgende Box «Abzockertrick ‹Verzugsschaden›»): insgesamt Fr. 105.75. Die Geldeintreiber drohten: «Möglicherweise sind Ihnen die Konsequenzen des Nichtbezahlens nicht bewusst, aber (...) Einträge in die Bonitätsdatenbanken können sich nachteilig auf künftige Geschäfte wie auch auf Job- oder Wohnungssuche auswirken.» Das wollte Wildi auf keinen Fall riskieren - doch die angebliche Cablecom-Rechnung hatte sie nie gesehen. «Ich war geschockt, denn meine Rechnungen hatte ich immer pünktlich bezahlt», sagt sie.
Sofort schickte sie ihrem Provider einen eingeschriebenen Brief und rief an. So erfuhr sie, dass Cablecom die Rechnung an ihre alte Adresse geschickt hatte - obwohl sie von Wildi den amtlichen Niederlassungsausweis erhalten hatte, auf dem ihre neue Adresse verbrieft war. Die Rechnung und die Mahnungen der Cablecom retournierte die Post als unzustellbar, weil Wildi auf einen Nachsendeauftrag verzichtet hatte. So erfuhr die Aargauerin erst vom Inkassobüro, dass sie dem Kabelriesen noch 40 Franken Abogebühren schuldete. Sie beglich die Schuld umgehend.
Doch schon bald lag das nächste Schreiben von Intrum Justitia in ihrem Briefkasten. Wildi reklamierte und erklärte, sie habe die Rechnung bezahlt. Intrum verlangte eine Quittung; Wildi faxte diese sofort. Kurz darauf erhielt sie wieder einen Brief der Geldeintreiber. Ihr Fax sei leider schlecht lesbar, sie solle die Quittung per Post schicken. Auch das erledigte sie umgehend. Fall abgeschlossen? Mitnichten.
Jetzt gelangte Intrum mit einer neuen Forderung an Wildi: «Wir wurden informiert, dass Sie die Rechnung direkt beim Kunden beglichen haben. Mit Ihrem Zahlungsverzug entstanden aber bei unserem Kunden wie auch bei uns zusätzliche Kosten, welche noch ausstehend sind», schrieb das Inkassobüro und setzte ihr das Messer an den Hals: Binnen fünf Tagen solle sie noch Fr. 65.75 zahlen. «Eine Frechheit. Eigentlich hätte ich eine Entschädigung verlangen sollen für all den Ärger und die verlorene Zeit», sagt Wildi. Schliesslich bat die Sachbearbeiterin einen Bekannten, der bei einer Gewerkschaft arbeitet, um Hilfe. Er schrieb einen Brief an Intrum. Seither herrscht Funkstille. Die Pressestelle von Intrum Justitia schreibt dem Beobachter, die Sache sei abgeschlossen. Wildi ist skeptisch: «Ob die Sache wirklich erledigt ist, weiss ich bis heute nicht», sagt sie.
Immer mehr Firmen treiben wie Cablecom ihr Geld nicht mehr selbst ein, sondern delegieren diese Arbeit an eine spezialisierte Firma. Das Geschäft mit den säumigen Zahlern boomt, die Zahl der Inkassoaufträge hat 2006 um vier Prozent auf 883'000 zugenommen. Die Gesamtsumme der Forderungen stieg auf 728 Millionen Franken. Intrum Justitia ist Marktführerin, hat 180 Mitarbeiter - und nach eigenen Angaben jährlich eine Million Fälle. Der Schweizer Markt ist attraktiv: Mit über 30 Prozent Umsatzrendite gehört er laut «Finanz und Wirtschaft» zu den rentabelsten Europas. Um das negative Image des skrupellosen Geldeintreibers loszuwerden, scheut Intrum keinen Aufwand: Abwechselnd tritt sie im Eishockey oder im Fussball als Sponsor auf. Die Medien werden mit Studien gefüttert, die meist unkritisch publiziert werden. Für diese Public-Relations-Arbeit heimste Intrum 2006 gar den «Award Corporate Communications», den Schweizer PR-Preis, ein.
Was sich hinter der glänzenden Fassade abspielt, wissen die Schuldenberatungsstellen, die sich tagtäglich mit Inkassobüros herumschlagen, wie die Basler Stelle Plusminus. Leiter Michael Claussen: «Schuldner werden von Intrum Justitia systematisch mürbegemacht. Gegen ihre automatisierte Maschinerie kann man sich kaum wehren.» Einmal habe Plusminus 30 Mal intervenieren müssen, bis eine Kommunikation stattgefunden habe. «In vielen Fällen erhielten wir nur Standardantworten, die unsere Anliegen ignorierten», sagt er. Susanne Johannsen, Geschäftsleiterin der Zürcher Fachstelle für Schuldenfragen, bestätigt: «Das Bedrohungssystem von Intrum Justitia ist hochautomatisiert. Wer da reingerät, kommt so schnell nicht davon.»
Marlies Frei aus Zürich musste dies am eigenen Leib erfahren. Eine Namensvetterin hatte bei einem Versandhaus eine Digitalkamera bestellt, aber nie dafür bezahlt. Das Inkassobüro belästigte die falsche Marlies Frei per Telefon. Ihr Beantworter zeichnete mehrere Anrufe auf, bei denen ihr eine vollautomatisierte Stimme ins Gewissen redete: Sie solle doch endlich ihre Schuld begleichen. Ein entlarvendes Gebaren, findet Schuldenberater Mario Roncoroni vom Verein Schuldensanierung: «Mit dem Inkassobüro kann man selbst dann nicht reden, wenn es anruft.» Dass das Telefon auch mal von der Schwiegermutter beim Kinderhüten oder der Putzfrau abgenommen wird, ist für Robert Simmen, Geschäftsführer des Verbands Schweizerischer Inkassotreuhandinstitute, kein Problem: «Jeder ist selbst dafür verantwortlich, dass kein Unbefugter einen Anruf entgegennehmen kann.» Marlies Frei, die seit mehr als 40 Jahren an derselben Adresse wohnt, wehrte sich hartnäckig und erfolgreich. Intrum entschuldigte sich schliesslich bei ihr, sie sei verwechselt worden.
Solche Fehler passieren immer wieder. Das bestätigt Oriana Gubinelli von der Hotline der Stiftung für Konsumentenschutz. Einer, der davon auch schon betroffen war, ist der Manager Alfred Doppler. Er schulde Cablecom über 3000 Franken Internet- und Telefonkosten, schrieb ihm Intrum Justitia. Komisch nur, dass Doppler noch nie mit der Firma zu tun gehabt hatte. Doch das kümmerte das Inkassobüro wenig. Es drohte im Februar 2006 mit der Betreibung. Doppler versuchte vergeblich, den Irrtum aufzuklären: Er rief mehrfach an, schrieb Briefe; bis er eine detaillierte Aufstellung der angeblichen Forderung in Händen hielt, musste er sich ein Vierteljahr gedulden. Der Schuldner hiess tatsächlich wie er, hatte aber eine ganz andere Adresse, was er Intrum im Mai mitteilte. Danach hörte er nichts mehr.
Auch seine schriftliche Nachfrage im Juli blieb unbeantwortet. Er musste seinen Anwalt einschalten, der im September den nächsten Brief schrieb. Jetzt erst reagierte das Inkassobüro und gestand die Verwechslung ein. «Am meisten ärgert mich die Machtlosigkeit. Als Betroffener hat man bei dieser Firma schlicht keine Ansprechpartner. Fehler passieren auch bei uns in der Industrie, aber man könnte es sich nie und nimmer leisten, die Leute einfach sitzenzulassen», ärgert sich Doppler.
Er war so aufgebracht über die Ignoranz, dass er den Spiess umdrehte und drohte, seinen Aufwand in Rechnung zu stellen. Intrum schreibt dem Beobachter dazu: Das Ganze sei ein komplizierter Fall eines Betrügers. Mit dem Opfer des Betrugs, Alfred Doppler, aber sei «die Sachlage abschliessend geklärt worden». «Es ist richtig, dass wir lange Zeit den falschen Herrn Doppler angeschrieben haben. Gäbe es auf eidgenössischer Ebene einen Personenidentifikator, wäre dies nicht passiert.»Vielleicht wäre es besser, das Unternehmen würde auf die eigenen Mängel fokussieren. Der Beobachter hat dem Inkassobüro ein Dutzend Fälle vorgelegt und um Stellungnahme gebeten. Die meisten entpuppten sich plötzlich als erledigt. Wer von Intrum Justitia zu Unrecht belangt werde, erhalte eine schriftliche Entschuldigung, verspricht die Pressestelle. Brigitte Wildi wartet bis heute auf ein solches Schreiben.
Inkassobüros schlagen auf die Rechnungen nicht nur Verzugszinsen, sondern immer auch einen sogenannten Verzugsschaden. Dieser ist meist völlig überrissen und kann leicht den eigentlichen Rechnungsbetrag übersteigen. Ob diese Praxis gerechtfertigt ist, ist denn auch heftig umstritten.
Jetzt legt der Verband Schweizerischer Inkassotreuhandinstitute ein Parteigutachten des Zürcher Rechtsprofessors Isaak Meier vor. Dieses kommt zum Schluss, der Verzugsschaden werde von den Inkassobüros zu Recht verlangt. Meiers Kernaussage: Der Gläubiger dürfe nach drei Mahnungen ein Inkassobüro einschalten. Denn dem Gläubiger könne nicht zugemutet werden, das Geld selbst einzufordern. Die Kosten für diesen Schritt könnten daher auf den Schuldner überwälzt werden.
Der Jurist und Beobachter-Experte Michael Krampf widerspricht: «Es gibt kein einziges Gerichtsurteil, das diese Behauptung bestätigt.» Im Gegenteil: Wer Geld eintreiben muss, ist von Gesetzes wegen verpflichtet, seinen Aufwand möglichst tief zu halten (Schadensminderungspflicht). «Es ist gar nicht nötig, ein Inkassobüro einzuschalten. Wer gemahnt hat, kann danach direkt betreiben, ohne Umweg über ein Inkassobüro», so Krampf. Der Beobachter rät deshalb:
- Den Verzugsschaden nie zahlen. Lassen Sie sich von angeblichen Sonderangeboten (Schuldrabatte) nicht blenden. Die Forderungen sind grundsätzlich überrissen.
- Der Verzugszins dagegen ist geschuldet.
- Kein Ratenzahlungsabkommen mit dem Inkassobüro unterschreiben, denn mit der Unterschrift werden auch die überhöhten Zuschläge akzeptiert.
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