Ein dunkles Kapitel
Jugendliche wurden in der Schweiz zwangssterilisiert, unschuldig weggesperrt, als Verding- oder Heimkinder ausgenutzt und misshandelt – bis in die achtziger Jahre. Die Zeit ist reif für eine umfassende Wiedergutmachung durch die offizielle Schweiz.
Bernadette Gächter war 18 Jahre alt, als ihr ein Arzt die Eileiter durchschnitt. Pflegemutter und Hausarzt wollten es so – weil sie schwanger war. Nur Bernadette wollte es nicht. Sie wollte das Kind. Doch ihr Wille zählte nicht. Der Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Wil SG erklärte sie für «geistesschwach» und schrieb in seinem Gutachten, dass «auch aus eugenischen Gründen ihre Fortpflanzung verhindert werden sollte».
Das geschah nicht im Mittelalter, sondern im Jahr 1972. Zu einer Zeit, als die Menschheit schon auf dem Mond gelandet war, die Jugendzeitschrift «Bravo» eben zwei ganze Hefte zum Thema Selbstbefriedigung publiziert und die Erfinderin des Minirocks bereits den Orden des britischen Empire erhalten hatte.
Doch in Schweizer Gemeinden wie St. Margrethen SG, Oberwil AG oder Rathausen LU herrschte ein anderer Geist. Da mussten Verdingkinder wie Paul Pfenninger ohne Lohn wie Erwachsene schuften, wurden wegen Kleinigkeiten verprügelt und am Sonntag in den Keller gesperrt, Heimkinder wie Eduard Steiner wurden misshandelt und missbraucht und aufmüpfige Jugendliche wie Gina Rubeli in Strafanstalten administrativ versorgt – unschuldig und ohne Urteil.
Gächter, Pfenninger, Steiner (siehe nachfolgende Porträts) sowie Rubeli sind Opfer von Sozial- und Vormundschaftsbehörden wie Zehntausende in der Schweiz. Die Ämter versuchten lange, die Probleme mit «arbeitsscheuen», «renitenten», «liederlichen» Jugendlichen mit harter Hand zu lösen: Statt zu helfen, sperrten sie weg, liessen sie sterilisieren und sahen weg, wenn es Prügel gab.
Solch krasse Methoden waren gängig bis weit in die achtziger Jahre. Die administrative Versorgung wurde erst 1981 unter dem Druck der Europäischen Menschenrechtskonvention abgeschafft. Die Zwangssterilisation von «geistesschwachen Personen», die «aller Voraussicht nach nur ungesunden Nachwuchs hervorbringen» können, war im Kanton Waadt gar bis 1985 erlaubt, und das letzte Verdingkind, das verbürgt ist, erhielt seine Freiheit erst 1989.
«Bund, Kantone und Gemeinden sollten endlich das Unrecht wiedergutmachen, das die Behörden Zwangssterilisierten, administrativ Versorgten, Verding- und Heimkindern angetan haben», fordert jetzt die 56-jährige Bernadette Gächter. Denn bisher hat die offizielle Schweiz immer geschwiegen zum Unrecht, das man den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen angetan hat.
Zwar wollte der Nationalrat die Zwangssterilisierten für das erlittene Unrecht entschädigen und arbeitete 2001 ein entsprechendes Gesetz aus, doch 2004 wurde es vom neugewählten Parlament auf Antrag des damaligen Justizministers Christoph Blocher sang- und klanglos beerdigt. Wenige Monate später lehnte es das Parlament auch ab, die Geschichte der Heim- und Verdingkinder aufzuarbeiten. Daran bestehe «aus heutiger Sicht weder ein Bedarf noch eine hohe Dringlichkeit», denn es «werden kaum Ergebnisse erwartet, die für die heutige Praxis nutzbar wären».
Doch bald merkte der Bund, dass diese Haltung falsch war: «Damit die Qualität des Pflegekinderwesens entwickelt werden und die notwendige Professionalisierung auf allen Ebenen stattfinden kann, ist es unumgänglich, dass die Geschichte des Pflegekinderwesens in der Schweiz möglichst rasch und umfassend aufgearbeitet wird», schrieben die Experten 2005 in ihrem Schlussbericht zur Revision der Pflegekinderverordnung. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann Lehren für die Zukunft ziehen – damit sich das Unrecht nicht wiederholt.
Nur wenige Kantone unterstützen aber die Erforschung dieses dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte, und der Nationalfonds bewilligte bloss wenige Einzelprojekte. «Es gibt erst Arbeiten zu einzelnen Institutionen oder Regionen», sagt Historiker Marco Leuenberger, der ein Buch zu den Verdingkindern herausgegeben hat. «Auf viele Fragen gibt es deshalb keine Antworten.» So bleiben auch die Motive, Arbeitsweisen und Handlungsspielräume der Behörden weitgehend unerforscht – vor allem in ländlichen Verhältnissen.
Dass es auch anders geht, zeigt Irland. Dort publizierte die Regierung 2009 einen fünfbändigen Report über die Heime, in denen Kinder und Jugendliche von 1930 bis 1970 geprügelt, missbraucht und gedemütigt wurden; Irlands Präsidentin entschuldigte sich bei den Opfern, und für Entschädigungszahlungen wurde ein Fonds mit über einer Milliarde Euro eingerichtet.
«Wo bleibt ein vergleichbarer Bericht zu den Geschehnissen in der Schweiz? Wo die Entschuldigung der Regierung? Wo die Entschädigung der Opfer?», fragt der Zürcher Historiker Thomas Huonker, der intensiv über Zwangssterilisierte, administrativ Versorgte, Verding- und Heimkinder geforscht hat. «In der Schweiz werden einschlägige Forschungsprojekte minimal finanziert, und eine offizielle Entschuldigung sowie schäbige Entschädigungen erhielten einzig die ‹Kinder der Landstrasse›, jene Opfer aus jenischen Familien, die aus ethnischen Gründen gezielt verfolgt worden waren.»
Seit kurzem besteht nun aber Hoffnung, dass sich auch die Schweiz endlich eines Besseren besinnt. Denn zumindest das Unrecht, das administrativ Versorgte erfahren haben, will Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf zusammen mit kantonalen Sozial- und Justizdirektoren wiedergutmachen. Deshalb wird sie am 10. September rund 30 Betroffene in der Strafanstalt Hindelbank empfangen (siehe Box «Hintergrund»). Der Beobachter hat wiederholt über administrativ Versorgte berichtet und eine Wiedergutmachung für sie gefordert. Soeben ist dazu auch ein Buch erschienen.
Dieses politische Tauwetter darf aber nicht nur den administrativ Versorgten zugutekommen. Es sollten alle Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen davon profitieren – auch Zwangssterilisierte, Verding- und Heimkinder. Deshalb fordert der Beobachter für sie einen vergleichbaren Empfang.
Bei den Zwangssterilisierten macht gar die Uno Druck: Letzten November empfahl der Uno-Menschenrechtsausschuss der Schweiz dringend, das an Zwangssterilisierten «begangene Unrecht durch Formen der Genugtuung, einschliesslich nichtfinanzieller Mittel wie einer öffentlichen Entschuldigung, wiedergutzumachen».
Auch bei den Verding- und Heimkindern ist die Zeit für eine offizielle Entschuldigung reif. In Luzern signalisiert Regierungsrat Guido Graf, dass er dazu bereit ist: «Eine Entschuldigung ist für die Betroffenen wichtig.» Er will aber den Bericht des Historikers Markus Furrer abwarten, der zurzeit die Missstände in Luzerner Kinderheimen dokumentiert. «All diesen Menschen sind wir es schuldig, die Geschichte aufzuarbeiten und die Wahrheit ans Licht zu bringen», sagt Graf. Er empfiehlt anderen Kantonen, dies auch zu tun.
So fände ein langes Hin und Her einen Abschluss: Bereits Ende der dreissiger und vierziger Jahre empörte sich die Öffentlichkeit über Zustände in Erziehungsheimen und über die Praxis der administrativen Versorgung. Doch die Debatte verstummte. Anfang der Siebziger wurde die öffentliche Diskussion darüber wieder aufgenommen – erneut ohne Resultate. Die letzte Welle von Kritik und behördlicher Untätigkeit dauerte von 1999 bis 2004, drehte sich um Zwangssterilisierte und Verdingkinder und verebbte ohne Ergebnisse.
Wenn die Empörung über die Praktiken der damaligen Sozial- und Vormundschaftsbehörden jetzt die Öffentlichkeit wieder bewegt, müssen für Betroffene endlich auch konkrete Resultate folgen. Denn jede verpasste Gelegenheit zur Wiedergutmachung ist eine erneute Ohrfeige für die Opfer.
Dabei dürfen es die Behörden nicht bei einer Entschuldigung bewenden lassen (siehe Nebenartikel «Forderungen: Wiedergutmachung, aber richtig!»). «Was nützt uns ein warmer Händedruck und eine Entschuldigung?», fragt Willy Mischler, der als Heimkind im Waisenhaus «Mariahilf» in Laufen (damals BE) in der Badewanne zur Strafe wiederholt fast ersäuft wurde (siehe Artikel «Kinderheime: Düstere Jahre»). «Es braucht auch eine Entschädigung in Form eines Fonds für Härtefälle. Denn viele Opfer hatten durch die Misshandlungen einen äusserst schlechten Start ins Leben und leben deshalb heute in Armut.»
Einen solchen Fonds für hilfsbedürftige Heimkinder, Verdingkinder, Zwangssterilisierte und administrativ Versorgte fordert die grüne Berner Grossrätin Christine Häsler mit einem soeben eingereichten parlamentarischen Vorstoss: «Manche der Betroffenen erlebten in ihrer Kindheit und Jugend so viel Leid, Gewalt und Not, dass sie sich nie richtig erholen und entwickeln konnten», begründet sie die Forderung nach finanzieller Entschädigung. Da kann man nur hoffen, dass auch in anderen Kantonen und auf Bundesebene ähnliche Vorstösse eingereicht werden und so – vergleichbar mit Irland – ein nationaler Fonds möglich wird.
Ein Leben ohne Kinder: Bernadette Gächter heiratete zwei Jahre nach der Sterilisierung.
«Als ich sechs Jahre alt war, brachte mich meine Mutter zur psychologischen Abklärung ins Zürcher Kinderspital. Der Grund: Ich hätte masturbiert, behauptete sie. Dort diagnostizierte ein Assistenzarzt bei mir ein ‹hirnorganisches Psychosyndrom›. Das nannte sich später POS und wäre nach heutigem Verständnis absolut harmlos gewesen. Doch diese Diagnose, die auch noch falsch war, verfolgte mich ein Leben lang. Nach diesem Untersuch band mir meine erzkatholische Mutter nachts immer die Beine zusammen – bis ich neun Jahre alt war.
In der Schule in St. Margrethen kam ich bestens mit, fiel auch im Betragen nicht sonderlich auf. Trotzdem wurde ich auf Wunsch meiner Mutter immer wieder psychologisch abgeklärt. Einmal steckte man mir sogar Elektroden in die Nasenlöcher. Nach diesen Abklärungen bekam ich immer kleine Geschenke. Dass damit mein Leben zerstört wurde, ahnte ich nicht.
Meine Mutter schlug mich oft wegen Kleinigkeiten – nicht selten zerbrach die Kochkelle an meinem Kopf. Sie sperrte mich auch immer wieder in den Keller oder in die Toilette. Ich reagierte mit Wut, aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Gegen aussen merkte man nichts von alldem – unsere Familie galt als vorbildlich. Mit 13 missbrauchte mich mein Vater.
1972, als ich 18 war, erfuhr ich per Zufall, dass meine Mutter gar nicht meine leibliche Mutter ist. Ich war wie vor den Kopf geschlagen und wollte von meiner Pflegemutter mehr wissen. Aber sie hat mir nichts erzählt. Deckel drauf. Ich sah nicht ein, weshalb ich in dieser Familie noch bleiben sollte. Als eine erste Beziehung zu einem Mann auch noch zerbrach, liess ich mich gehen und blieb oft bis morgens um zwei im Ausgang. Meine Pflegemutter erwartete mich jeweils hinter der Tür und schimpfte, ich sei die genau gleiche Hure wie meine Mutter.
Dann wurde ich schwanger und ging – naiv, wie ich war – zum Hausarzt. Der erzählte es meiner Pflegemutter. Und beide zusammen drängten mich zur Abtreibung. Sie sagten: ‹Hör, Bernadette, du hast bei der Geburt einen Hirnschaden erlitten. Der ist vererbbar. Dein Kind hätte diesen Hirnschaden auch. Willst du das?›
Dann schickten sie mich in die Psychiatrische Klinik Wil. Um einen ovalen Tisch sassen Ärzte in weissen Kitteln. Zuoberst der Chefarzt Dr. Singeisen. Der fragte mich, ob ich denn das Kind wolle. Ich sagte: sicher. Ich wolle das Kind. Es war wie bei einem Verhör vor Gericht. Erst bei der Akteneinsicht 30 Jahre später habe ich gemerkt, dass es bei diesem ‹Gespräch› bereits um die Sterilisation gegangen war. Und dass Dr. Singeisen mich als ‹schwer psychopathisch› und ‹geistesschwach› und die ‹Sterilisation aus eugenischen Gründen› als ‹sehr erwünscht› bezeichnete – also um das Erbgut der Bevölkerung zu ‹verbessern›. Der Wiler Chefarzt hatte bereits meine leibliche Mutter in einem Gutachten als haltlose, kriminelle Psychopathin abgestempelt.
Die Pflegemutter und der Hausarzt bearbeiteten mich so lange, bis ich den vorgelegten Zettel unterschrieb. Was genau ich unterschrieben hatte, wusste ich nicht. Ich habe es zwar gelesen, aber ich wollte einfach meine Ruhe haben.
Im September 1972 hat man mir im Kantonsspital St. Gallen das Kind weggemacht und die Eileiter durchtrennt. Mit 18 Jahren war ich für immer sterilisiert.»
Bald danach zog Bernadette Gächter aus, heiratete und fand eine Stelle als kaufmännische Sachbearbeiterin bei einem Handelsunternehmen. Sie ist heute 56-jährig, geschieden und arbeitet noch immer im gleichen Betrieb. 2006 erschien über sie im Chronos-Verlag das Buch «Widerspenstig» von Jolanda Spirig.
«Am Sonntag nach der Morgenschicht öffnete der Bauer die Falltür im Küchenboden und sperrte mich in den Keller.» Paul Pfenninger (im kleinen Bild als 18-Jähriger)
«‹Komm, wir gehen Eisenbahn fahren›, sagte eines Morgens die Ordensschwester zu mir. Ich lebte damals in einem Heim, war acht Jahre alt und freute mich. Wir fuhren nach Oberwil im Aargau, gingen aufs Feld eines Bauern. Die Schwester setzte mich zu ihm auf den Traktor. Als ich mich umdrehte, war sie verschwunden. Hier musste ich bleiben. Kein Abschied, nichts.
Bei diesem Bauern musste ich von morgens um fünf bis abends spät chrampfen wie ein Knecht. Stall ausmisten, Holz spalten. Ich, ein achtjähriger Bub. Die Schule am Vormittag und am Nachmittag war wie Erholung. Spielen war ein Fremdwort für mich.
Am Sonntag nach der Morgenschicht im Stall öffnete der Bauer jeweils die Falltür im Küchenboden und sperrte mich in den Keller. Bis vier Uhr, wenn der Abendstalldienst begann.
Geschlagen und geprügelt hat er mich wegen nichts und wieder nichts. Wenn ich am Boden lag, trat er mir immer in den Magen. Richtig wie ein Tier ging er auf mich los. Nie sagte er mir den Namen – nur ‹Fuule Siech, mach endlich›, ‹Schofseckel chum mol do häre›. Zu essen gab es nur Reste. Selbst ein Stück Brot zu nehmen, getraute ich mich nicht.
Es interessierte offenbar niemanden, wie ich behandelt wurde. Kein Nachbar reklamierte, nie kam der Vormund vorbei. Dann, eines Tages im Jahr 1957, als ich schon vier Jahre bei diesem Bauern war, kam plötzlich der Dorfpfarrer mit vier Leuten. Ich war noch im Übergwändli. Der Pfarrer sagte: ‹Komm mit.› Da haben sie mich in Bremgarten ins ‹Josefsheim› getan. Nach vier Monaten kam ich aber wieder zu einem Bauern. Da war es genau das Gleiche. Wieder war ich nur der Sauhund und der faule Kerl. Der einzige Unterschied: Am Sonntag sperrte er mich nicht in den Keller. Ich musste aber den ganzen Tag das Vieh putzen.
1961, als ich 16 Jahre alt war, hatte ich definitiv die Nase voll. Mit einem alten Velo radelte ich nach Zufikon zu meinem Vormund, trat ins Büro und sagte: ‹Entweder lässt du mich frei, oder ich beschaffe mir eine Pistole und lege alle um.› Der Vormund sagte, ich könne machen, was ich wolle. Ich haute ab. Von da an gings aufwärts.»
Nach seiner Flucht vom Verdingbauern konnte sich der 16-jährige Paul Pfenninger zum Automechaniker ausbilden lassen, fand eine Stelle im Zürcher Triemli-Spital, wo er eine Lehre als Sanitär absolvierte und bis zur Pensionierung arbeitete. Pfenninger ist heute 65 Jahre alt, pensioniert, geschieden und Vater zweier erwachsener Töchter.
Abgemagert in die Freiheit: Eduard Steiner kurz nach seinem Weggang von Rathausen
«Ich kam 1939 als Fünfjähriger in die Erziehungsanstalt Rathausen LU, eingewiesen von der Gemeindebehörde Willisau. Meine Mutter sei an einer Lungenblutung gestorben, hiess es offiziell. Tatsächlich aber wurde sie erschossen. Auf einem Ausflug sassen wir auf einer Bank, ich auf ihren Knien. Plötzlich spürte ich an meinem Kopf einen Schmerz, eine Schrotkugel hatte mich getroffen. Meine Mutter verblutete an den Schusswunden. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Wer mein Vater ist, weiss ich bis heute nicht.
Wir mussten schon mit fünf, sechs Jahren hart arbeiten. Kartoffeln graben, im Winter gefällte Bäume auf die Wege ziehen. Beim kleinsten Ungeschick wurde einem ein Bambusrohr über den Grind geschlagen. Es reichte, wenn ein bisschen Suppe über den Tellerrand schwappte.
Zu essen gab es praktisch jeden Tag gekochte Kartoffeln. Mit 17 Jahren wog ich nur 34 Kilo. Prügel gab es tagtäglich, ja stündlich. Von den Ingenbohler Schwestern genauso wie von den Priestern und vom übrigen Personal. Wenn wir geschlagen wurden, hiess es, wir seien selber schuld. Einmal wurde ich für zwei Tage und zwei Nächte im ‹Chrutzi›, einer Gefängniszelle, eingesperrt. Ohne Matratze, mit etwas Suppe und vielen Schlägen auf den Kopf.
Direktor L. verging sich an minderjährigen Knaben, das wusste man. Er versuchte auch mich zu missbrauchen. Als ich etwa elfjährig war, ging ich mit einem anderen Knaben auf das Statthalteramt Luzern. Dort wollten wir uns über die Zustände im Kinderheim beschweren. Doch sie ohrfeigten uns und jagten uns davon. Später musste Direktor L. trotzdem gehen.
Der neue Direktor rühmte sich, die Zustände zu verbessern. Aber er schlug die Kinder genauso wie sein Vorgänger. In der Näherei liess er sich aus Zeltstoff ein Etui nähen, in dem er seinen Stock aufbewahren konnte.
Viele Kinder waren verzweifelt. Es gab auch Todesfälle, Suizide. Mehrere Kinder stürzten sich aus Verzweiflung in die Reuss, zum Beispiel Ottilia. Die Nonnen sagten nach ihrem Tod, Ottilia sei unerlaubt baden gegangen. Aber das war kein Unfall.
Nach einer Bemerkung beim Abendmahl zitierte mich einmal der Vikar zur Strafe spätabends in die Kirche. Nur mit einem Hemd bekleidet, das Gesäss und meine Genitalien waren nackt, musste ich hinknien und die Arme ausstrecken. Er legte schwere Bücher auf meine Hände, und ich durfte mich nicht bewegen. Dann schlug er mit einem Messingstab auf meinen Kopf. Die Narbe auf dem Kopf schmerzt mich heute noch.»
Als Eduard Steiner 18-jährig von Rathausen wegkam, lernte er Gärtner. Später bildete er sich unaufhörlich weiter und brachte es zum Logistikchef einer Baufirma. Schliesslich führte er viele Jahre zusammen mit seiner Frau einen Antiquitätenhandel und eine Baufirma für historische Häuser. Er ist seit 45 Jahren in zweiter Ehe verheiratet, hat einen erwachsenen Sohn sowie eine Tochter aus erster Ehe.
1. Der Staat muss sich bei allen entschuldigen
Nicht nur bei administrativ Versorgten, sondern auch bei Zwangssterilisierten, Verding- und Heimkindern: Die Behörden von Bund, Kantonen und Gemeinden müssen sich bei allen Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen entschuldigen – und zwar schnell, unkompliziert und vor allem öffentlich. Vorbild dafür ist der Empfang der administrativ Versorgten durch Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf am 10. September 2010 in Hindelbank (siehe unten: «Hintergrund»)
2. Zwangsarbeit soll entschädigt werden
Administrativ Versorgte, Verding- und Heimkinder haben vielerorts Zwangsarbeit geleistet, ohne entschädigt zu werden. Dies war schon damals widerrechtlich. Es widersprach dem internationalen Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit, das die Schweiz 1941 unterzeichnet hatte. 1970 intervenierte eine Uno-Organisation beim Bund, ohne Folgen. Zwangsarbeit muss nachträglich angemessen entschädigt werden.
3. Es braucht einen grosszügigen Fonds zur Entschädigung Betroffener
Bund, Kantone und Gemeinden müssen als Wiedergutmachung für das widerfahrene Unrecht einen Fonds äufnen. Dieses Geld kann für Entschädigungszahlungen oder zur Unterstützung Betroffener in finanzieller Not verwendet werden.
4. Rückerstattung illegaler Zahlungen
Oft mussten Eltern für den unfreiwilligen Aufenthalt ihrer Kinder in Erziehungsanstalten oder für andere Zwangsmassnahmen bezahlen. Das Geld ist Betroffenen mit Zinsen zurückzugeben.
5. Die Akten gehören den Betroffenen
Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen haben bisher keinen Anspruch darauf, dass Behörden und Anstalten ihnen ihre Akten aushändigen. Diese Unterlagen enthalten aber oft Unwahrheiten und stellen ihre Persönlichkeit verzerrt oder falsch dar und benachteiligen viele Betroffene noch heute.
Deshalb müssen sie ihre Akten im Original herausverlangen können. Gemeinwesen und Anstalten sind zudem zu verpflichten, den Zugang zu den Dossiers auf einfaches Gesuch hin unverzüglich zu gewähren.
6. Ein Kapitel in den Schulbüchern
Die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen der Sozial- und Vormundschaftsbehörden gehört in die Dauerausstellung des Landesmuseums und in die Schulbücher.
7. Mehr Geld für die Erforschung der Sozialgeschichte
Bund, Kantone und Gemeinden müssen Gelder sprechen, um die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen umfassend historisch aufzuarbeiten.
8. Hilfe bei der Suche nach Eltern und Kindern
Vielen Zwangssterilisierten und administrativ Versorgten wurden die Kinder gegen ihren Willen weggenommen. Sie haben nie mehr von ihnen gehört. Bund und Kantone müssen zwangsadoptierten Kindern und Verdingkindern aktiv helfen, ihre Eltern zu finden. Gleichzeitig müssen die Behörden die Eltern bei der Suche nach ihren Kindern unterstützen.
Administrativ Versorgte: Endlich rehabilitiert
Am 10. September werden sie von Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf in der Strafanstalt Hindelbank offiziell empfangen: Betroffene, die als «liederlich», «arbeitsscheu» oder «verwahrlost» von Vormundschafts- und Sozialbehörden ohne Gerichtsurteil für unbestimmte Zeit in Gefängnisse oder geschlossene Anstalten gesperrt wurden. Manchmal genügte dafür bereits eine uneheliche Schwangerschaft. Dies war bis 1981 in der Schweiz gängige Praxis.
Damit ist ein erster Schritt zur Wiedergutmachung für das Unrecht getan, das sie vor 30 und mehr Jahren erfahren mussten. Beim Empfang in Hindelbank sind auch die Kantone und Gemeinden mit dabei: Der Zürcher Regierungsrat Hans Hollenstein, der Berner Polizeidirektor Hans-Jürg Käser und der Aargauer Oberrichter Guido Marbet vertreten die kantonalen Sozial-, Polizei- und Justizdirektoren sowie die Vormundschaftsbehörden. Rund 30 Betroffene haben sich für den Anlass angemeldet.
Der Beobachter fordert, dass auch für Zwangssterilisierte, Verding- und Heimkinder solche Schritte zur Wiedergutmachung getan werden.
«Verdingkinder reden»: Ausstellung ab
17. September 2010 im Rätischen Museum Chur.
www.verdingkinderreden.ch
Kontaktadressen für Betroffene
Zur Unterstützung von Heim- und Verdingkindern sowie administrativ Versorgten haben sich verschiedene Organisationen gebildet.
Administrativ Versorgte: Bei Fragen wenden Sie sich an die: Anlaufstelle & Interessengemeinschaft
www.administrativ-versorgte.ch
info@administrativ-versorgte.ch
Ursula Biondi - 079 207 61 26
Chris Pöschmann - 079 673 90 05
Philippe Frioud - 032 535 58 53
Falls dies nicht weiterhilft an redaktion@beobachter.ch mit dem Vermerk «Akteneinsicht».
Verdingkinder: Ehemalige Verdingkinder sind in der Aktionsgemeinschaft Verdingkinder organisiert und im Netzwerk verdingt.
www.verdingkinder.ch
www.netzwerk-verdingt.ch
Heimkinder: Wer sich über seinen Heimaufenthalt bei den Ingenbohler Schwestern austauschen will, melde sich bei Willy Mischler
kinderheim-vergangenheit@gmx.ch
Die Anlaufstelle für Heimkinder des Kantons Luzern (Kommission Professor Markus Furrer):
vorkommnisse.erziehungsanstalten@lu.ch
(Telefon Nummer: 041 228 64 46)
Späte Entschuldigung
(Nachtrag vom 28. September 2010)
Nach über 40 Jahren erhielten die Heimkinder des Wasienhauses Mariahilf eine symbolische Wiedergutmachung. An einer kleinen Feier in Laufen bedauerten die heutigen Heimverantwortlichen sowie je ein Vertreter der Berner und Baselbieter Regierung, was damals den Kindern angetan worden war. Dem Treffen fern blieben die Ingenbohler Schwestern.
Der Berner Justizdirektor Christoph Neuhaus gab sich selbstkritisch: «Ja, wir wären damals für die Aufsicht des Waisenhauses Laufen zuständig gewesen. Es tut mir aufrichtig leid, was passiert ist.» Der Baselbieter Regierungsrat Urs Wüthrich schloss sich an: «Wichtigste Form der Wiedergutmachung ist, aus Fehlern zu lernen.»
Das Treffen initiierte Willy Mischler, der wie andere auch von den Ordensschwestern «tuschet und tünklet» wurde. Die früheren Heimbewohner konnten nun auch ihre Akten einsehen – oder was davon übrig ist. Mischler fordert einen Fonds für Opfer von vormundschaftlichen Zwangsmassnahmen: «Viele hatten nach Jahren im Heim einen schlechten Start ins Leben und können es bis heute nicht meistern.» Für solche Härtefälle brauche es finanzielle Unterstützung.
Otto Hostettler
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