Chancengleichheit in der Schule? Fehlanzeige!
Bald entscheidet nur noch das Portemonnaie der Eltern, wie weit ein Kind in der Schule kommt. Neue Projekte versprechen Besserung – aber es braucht viel mehr davon.
Veröffentlicht am 12. April 2016 - 10:02 Uhr
Samantha Sengupta lacht. «Chancengleichheit? Das ist ein illusorisches Ziel!» Die 37-Jährige arbeitete lange Jahre als Primarlehrerin in Zürich, «in Gegenden mit hohem Migrationsanteil». Sengupta hat den Glauben daran verloren, dass sich in der Schule und später im Beruf diejenigen durchsetzen, die am talentiertesten sind. Und das, obwohl Chancengleichheit einer der Grundpfeiler unserer Gesellschaft ist.
Ungleichheit beginnt früh. Kinder, die die Gymiprüfung absolvieren sollen, müssen wissen, was Ausdrücke wie «jemandem die Stirn bieten» oder «zur Besinnung kommen» bedeuten. Das fällt Schülern leicht, die zu Hause deutsch sprechen. Die anderen haben Pech gehabt. Damit es gar nicht so weit kommt, hat sich Sengupta entschieden, bei der Caritas das Projekt Copilot zu starten. Ihr neues Ziel lautet: die Startchancen der Migrantenkinder wenigstens ein bisschen zu verbessern.
Oft sind es Bagatellen, an denen bestimmte Kinder scheitern, sagt Samantha Sengupta. So müssen Eltern einen Stapel Papier durchlesen, wenn sie ihr Kind für den Kindergarten anmelden wollen. «Viele sind dann schon überfordert und merken nicht, dass sie ihr Kind für den Hort separat anmelden müssten.» Für Kinder aus Migrationsfamilien ist der Hort aber derjenige Ort, wo sie Deutsch lernen können – und müssen. Denn im Kindergarten sind genügend Deutschkenntnisse Voraussetzung, um am Unterricht teilzuhaben.
Das Caritas-Projekt Copilot versucht es mit Teamwork: Freiwillige, in der Regel mit pädagogischem Hintergrund, helfen Eltern, die neu in der Schweiz leben und kaum Deutsch sprechen. Dabei sei wichtig, dass die Eltern «Chef» bleiben und die Berater sich nicht in Erziehungsfragen einmischen, sagt Sengupta. Die Pilotphase ist auf drei Jahre angelegt, aber bereits heute sehr erfolgreich. Im ersten Jahr wollte man 18 Familien Unterstützung vermitteln. Doch es meldeten sich so viele freiwillige Helferinnen und Helfer und auch die Nachfrage war so gross, dass bereits 30 Tandems unterwegs sind. Die Rückmeldungen sind durchwegs positiv.
In Basel gibt es seit 2008 ein ähnliches Frühförderungsprojekt. Kinder, die zu schlecht Deutsch für den Kindergarten sprechen, besuchen an zwei Halbtagen oder an einem ganzen Tag eine Sprach-Spielgruppe. Der Kanton zahlt. Nun, nach acht Jahren, zeigt sich: Die Eltern sind begeistert vom Angebot, weil es sie entlastet und weil ihnen die externe Kinderbetreuung die Möglichkeit gibt, mehr zu arbeiten. Und die Kinder lernen so gut Deutsch, dass sie im Kindergarten nicht automatisch Aussenseiter sind. Eine Win-win-Situation.
«Es ist absolut notwendig, Kinder mit schlechten Bildungschancen möglichst früh abzuholen», sagt der Bildungsforscher Urs Moser von der Uni Zürich im Interview mit dem Beobachter. Für ihn ist Chancengleichheit eine hehre und wichtige Forderung – aber auch eine Illusion. In einer grossangelegten Studie hat er nach den Gründen für die Ungleichheit gesucht und Erstaunliches gefunden: Es ist der soziale Status der Eltern, der über Erfolg oder Misserfolg der Kinder in der Schule entscheidet – und nicht in erster Linie die Muttersprache.
«Schlechte Bildung ist quasi erblich»
Komplette Chancengleichheit ist unerreichbar, sagt der Bildungsforscher Urs Moser. Er glaubt trotzdem, dass unser System immer fairer wird.
«Die Schule muss für Kinder und Jugendliche Zusatzangebote schaffen», sagt deshalb Jürg Brühlmann, Pädagogikexperte beim Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer. Primar- und Sekundarschulen müssten kostenlose Vorbereitungskurse für die Gymiprüfung anbieten. Wenn sie es nicht tun, werden Kinder von Migranten keine echte Chance auf eine Erstklassausbildung haben. Es bleibe bei der alten Gleichung: je teurer der Boden, desto höher die Gymiquote. «Es darf nicht sein, dass der Schulerfolg in erster Linie vom Portemonnaie der Eltern abhängt.»
Die Realität sieht anders aus. Deutschsprachige Kinder in Zürich erreichen eine Gymiquote von 50 Prozent, Kinder aus mazedonischen oder portugiesischen Familien eine Quote von zwei Prozent. «Ganz klar, hier stimmt etwas nicht», sagt Brühlmann. Seit es Pisa-Studien gibt, ist es noch deutlicher: Kinder aus dem europäischen Süden landen überdurchschnittlich oft in tieferen Schulniveaus. Entsprechend eingeschränkt ist ihr berufliches Vorankommen. «Frühe Förderung, schulische Aufgabenhilfe und Vorbereitung aufs Gymi könnten zumindest etwas mehr Gerechtigkeit schaffen.»
Bildungsforscher Moser pflichtet bei: «Es kann nicht sein, dass wir das Zepter den privaten Anbietern überlassen. Natürlich ist es ein lukratives Geschäft für die Nachhilfeschulen. Aber es wäre deutlich sinnvoller, Zusatzangebote innerhalb des normalen Unterrichts zu schaffen.» Das ist bitter nötig. 2014 haben im reichen Schulkreis Zürichberg über 42 Prozent der Sechstklässler die Aufnahmeprüfung fürs Langzeitgymnasium geschafft, in der Flughafengemeinde Höri waren es nur fünf Prozent. In ärmeren Gemeinden sind viele Kinder gleich doppelt benachteiligt: Die Eltern können dem Sohn oder der Tochter bei den Hausaufgaben nur schlecht helfen, und zudem fehlt das Geld, den Nachwuchs in einen teuren Gymi-Vorbereitungskurs zu schicken.
An der Oberstufe geht es im selben Stil weiter, am ärgsten in städtischen Gebieten. Dort hat sich eine eigentliche Nachhilfeindustrie gebildet. Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber Insider sagen unabhängig voneinander: Zwei von drei Gymischülern erhalten mehr oder weniger regelmässig privaten Stützunterricht. Darunter zwar auch Jugendliche, die wegen längerer Krankheit, Problemen mit einem Lehrer, eines Schulwechsels oder einer persönlichen Krise Unterstützung bekommen. Für sie ist Nachhilfe absolut sinnvoll. Doch für viele Schüler gehören jahrelange Privatstunden in mehreren Fächern zum Alltag. Die Zahl der Anbieter wächst, und immer mehr Studenten bessern mit Nachhilfe ihr Budget auf. Es ist weiterhin so, dass man auch ohne Stütze die Matur besteht. Es wird bloss immer schwieriger.
«Aber ich will doch gar nicht ins Gymi!»
Zwei von drei Gymnasiasten erhalten Nachhilfeunterricht. Oft heimlich. Und die Eltern fordern mehr und mehr. Ein Nachhilfelehrer erzählt.
Aus diesem Teufelskreis gibt es fast kein Entrinnen. Am Zürichberg und an der Goldküste wohnen viele Eltern, die gut ausgebildet sind und das internationale Arbeitsumfeld bestens kennen. Sie organisieren ihren Kindern systematisch einen möglichst guten Start ins Erwerbsleben. Und ein guter Start heisst: Matura. Heute legen zwar 20 Prozent der Schweizer Jugendlichen eine gymnasiale Matura ab – 1980 waren es nur halb so viele. Im internationalen Vergleich ist das aber noch immer wenig. In den 34 OECD-Ländern liegt die Maturaquote im Schnitt bei 60 Prozent. So verwundert es nicht, dass Eltern aus Deutschland oder Skandinavien alles unternehmen, damit ihre Kinder eine Matura machen, vor allem dann, wenn sie nicht ewig in der Schweiz bleiben wollen. Globale Firmen kennen wohl Bachelor und Master, das KV aber eher nicht. Wenn ihre Kinder im Heimatland Erfolg haben sollen, bleibt den Eltern keine andere Lösung.
«Es ist entscheidend, dass das Schweizer Bildungssystem international kompatibel ist», sagt der Wirtschaftspädagoge Rolf Dubs von der Uni St. Gallen. Er begrüsst es deshalb, dass der Bundesrat im Februar für Schulabschlüsse endlich eine neue Terminologie eingeführt hat, die internationalen Standards entspricht. «Jetzt haben auch junge Berufsleute, die eine Lehre gemacht haben, kein Problem mehr mit den Bezeichnungen für ihre Ausbildung.» Dass alle ans Gymi drängen, sei «Quatsch» und «alles andere als zielführend», sagt der frühere Rektor der Uni St. Gallen. Die Folge sei, dass sich die Hürden im Bildungssystem einfach nach hinten verlagerten, etwa an die Uni, wo Privatlehrer weitgehend machtlos sind – mit dem Resultat, dass das Scheitern womöglich noch schmerzhafter ist. «Bei uns an der Uni St. Gallen gibt es zu Beginn des Studiums ein Assessment-Jahr mit vielen Prüfungen und Arbeiten. Das tun wir, weil wir so die Schwachen aussortieren können.»
Auch das hat Folgen. Dubs beobachtet, dass an den Schweizer Unis immer mehr Studenten sogenannte Negativwähler sind: Aus Angst vor dem Scheitern entscheiden sie sich für vergleichsweise einfache Studienrichtungen und nicht für dasjenige Fach, das sie besonders interessiert. «Das ist eine direkte Folge davon, dass man Kinder ans Gymi puscht, die dort nicht hingehören.»
«Eines Tages wird nicht mehr der Akademiker am meisten verdienen, sondern derjenige, dessen Arbeit man am meisten braucht.»
Rolf Dubs, ehemaliger Rektor der Universität St. Gallen
Von Chancengleichheit will Dubs schon lange nicht mehr sprechen. «Das ist sowieso eine Illusion.» Es wäre schon ein grosser Schritt vorwärts, wenn wir dafür sorgen könnten, dass alle mehr oder weniger ähnliche Startbedingungen haben. Und ausgerechnet da steht die Schweiz nicht besonders gut da. «Wir können und müssen viel mehr tun und endlich eine Sozial- und Familienpolitik betreiben, die diesen Namen verdient.»
Vielleicht erledigt sich der Hype um die Ausbildung von allein. Dubs jedenfalls ist überzeugt, dass sich die Löhne verschieben werden. «Eines Tages wird nicht mehr der Akademiker am meisten verdienen, sondern derjenige, dessen Arbeit man am meisten braucht.» Das kann der Liftmonteur sein oder die Telekommunikationsfachfrau. «Ich hoffe, dass das den heutigen Gymi-Fanatismus zumindest etwas mildern wird.» Die Kinder und Jugendlichen werden dankbar sein. Und die Eltern letztlich auch.
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