Ständig sacken ihm die Knie weg. Er taumelt. Wenn der junge Mann noch wüsste, wer er ist und wo er ist, könnte er sich glücklich schätzen. Notfallhelfer geleiten ihn vom Nachtklub zur Ambulanz. Schnitt. Ende der ungelenken Handyaufnahme.

«Wenn wir auch nur einen davor bewahren können, auf der Notfallaufnahme des Spitals zu landen, hat sich unser Aufwand gelohnt», sagt Hans-Jörg Helmlin, Laborleiter des Berner Kantonsapothekeramts. Denselben Satz sagt er zur Journalistin eines kanadischen Senders, zum Reporter der britischen BBC und zum Beobachter.

Partnerinhalte
 
 
 
 

In Bern begann vor rund 20 Jahren, was heute in Montreal, London oder Berlin diskutiert wird: der amtlich bewilligte Test illegaler Drogen. Die Stadt lenkte damals erst ein nach einem zermürbenden Kampf um die offene Drogenszene im Berner Kocherpark.

Seither fährt die Equipe des Berner Kantonsapothekeramts etwa einmal im Monat zusammen mit Sozialarbeitern zu Partys in Bern, Basel oder Zürich und schiebt ihr mobiles Testlabor zum Eingang des Klubs, der Goa-Party oder an die Street-Parade. Die Einsätze im Bereich Schadensminderung und Prävention erfolgen im Auftrag von Streetwork Zürich, Contact Bern und Suchthilfe beider Basel.

«Einer der Ersten, die Substanzen testen liessen, war zufällig ein DJ.»

 

Daniel Allemann, Kantonsapothekeramt Bern

Meist ist Daniel Allemann im Dienst. Er sitzt im Amt in Bern vor dem Bildschirm und bearbeitet die Fotos der Funde vom letzten Wochenende. Für Allemann begann der Einsatz abends um halb acht und endete um halb acht früh. «Einer der Ersten, die Substanzen testen liessen, war zufällig ein DJ», sagt Allemann. Es war ein Aufputschmittel, um die Nacht durchzuhalten.

Die bunten LSD-Filzchen und die Ecstasypillen mit Namen wie Heisenberg, Hello Kitty, Lego, Snapchat oder Mastercard sehen auf Allemanns Bildschirm hübsch und bunt aus. Doch sie sind allesamt stark überdosiert.

Die süsse rosa «Eule» enthielt 247,3 Milligramm MDMA, das ist der Wirkstoff in den Ecstasypillen. Eine Frau müsste 190 Kilo wiegen, damit die Pille sie nicht umhaut, ein Mann immerhin 165 Kilo. In Fachkreisen gelten 60 Milligramm MDMA für Frauen und 80 Milligramm für Männer als Limite.

Die beiden Schweizer Labors, die illegale Drogen testen, haben in den letzten Jahren Tausende von Substanzen untersucht und dabei festgestellt, dass der MDMA-Gehalt einer Ecstasypille 2016 im Schnitt bei 150 Milligramm lag. Ab einem Gehalt von 120 Milligramm erfolgt eine Warnung auf Raveitsafe.ch oder Saferparty.ch.

Das Labor in Bern identifizierte von 2001 bis 2016 über 100 Wirkstoffe in 3415 Proben. Europaweit dürften es mehr als 600 Rauschmittel sein, allein 2014 wurden 101 neue psychoaktive Stoffe entdeckt, vor allem synthetische. Ähnliche Stellen für Drogenchecks wie in Bern, Basel oder Zürich gibt es sonst nur noch in Barcelona, Wien und Innsbruck. In Genf wartet die Organisation Nuit Blanche seit Jahren auf das Okay des Regierungsrats. Ein Einsatz würde 4970 Franken kosten.

Dieses Bild kann nicht angezeigt werden.

Das mobile Labor des Kantonsapothekeramts Bern ist das einzige in der Schweiz und ist zurzeit in der Deutschschweiz im Einsatz. In Bern und Zürich gibt es eine fixe Anlaufstelle. Die eine wird von der Stiftung für Suchthilfe Contact geführt und liegt an der Speichergasse in Bern, die andere ist das Drogeninformationszentrum (DIZ) an der Konradstrasse. Es wird vom Zürcher Sozialdepartement unterhalten und von den Arud-Zentren für Suchtmedizin betrieben. Das DIZ liegt in Sichtweite der einstigen «Drogenhölle» Platzspitz.

Zürich beklagte 1972 den ersten Drogentoten. 1992 waren es schweizweit 419. Vor drei Jahren liessen 134 Drogenkonsumenten ihr Leben. Auch dieses Jahr wird in der Schweiz an jedem dritten Tag ein Mensch an einer Überdosis sterben.

«Meine Frau weiss von nichts»

Der Warteraum des DIZ ist keines jener Zimmer, wo man den Blicken der anderen ausweicht. Die acht Männer und zwei Frauen wissen alle, weshalb sie hier sind. Der eine ist Handwerker, der andere blättert im Skript über Juristerei, die Dritte studiert den roten Lack ihrer gepflegten Nägel, neben ihr sitzt ein DJ mit Freundin.

Im Flur warten weitere. Ein nervöser junger Mann mit weiten Pupillen, das schmale, schüchterne Paar, das kaum die 18 überschritten hat. Die Eltern würden schwören, ihr Sohn, ihre Tochter, niemals nähmen sie Drogen. «Meine Frau weiss von nichts», sagt ein Mann im Warteraum. Er ist etwas über 30.

«Also früher war man hier fast allein. Man gab das Koks ab und gut war. Nun hats ständig Neue. Die müssen den Fragebogen ausfüllen, das dauert ewig», sagt der Nachbar. Sein Sportsack liegt neben ihm, er war im Fitness. Straffe Haut, starkes Kinn. Ein Siegertyp. Auf Kokain.

Der Fragebogen ist Pflicht. Man gibt anonym über den Umgang mit Drogen Auskunft: «Wie alt warst du, als du geraucht hast? Alkohol getrunken? Cannabis, Kokain, Ecstasy konsumiert?» Und darüber, wo man die Drogen gekauft und wie viel man dafür bezahlt hat. Die Tests sind für die Konsumenten gratis, die Kosten übernimmt je nach Kanton der Staat und/oder die Landeslotterie.

Die Nachbarin liest in der Broschüre «Drugs – Just Say Know» zu Ecstasy: «Nebenwirkungen sind Kieferkrämpfe, Muskelzittern, Übelkeit/Brechreiz und erhöhter Blutdruck. Herz, Leber und Nieren werden besonders stark belastet. Es besteht die Gefahr eines Hitzeschlags.» Wenn ein Neuer zum Beratungsgespräch aufgerufen wird, heisst das für die anderen: weitere 10, 15 Minuten dableiben. Die Diskussion gewinnt an Schwung. «Und? Wie gut war dein Koks?» – «60, 70 Prozent», sagt der Mann mit dem Sportsack. «Meins 97 Prozent.» Er wischt auf dem Smartphone die Mail des DIZ herbei. «Vom Labor wurden folgende Inhaltsstoffe analysiert: Cocain 97%.»

Dieses Bild kann nicht angezeigt werden.

Der Anteil an reinem Kokain in den Proben steigt seit acht Jahren an, er beträgt im Schnitt gut 70 Prozent. Die restlichen 30 Prozent sind Mittel wie Levamisol, das setzt man zum Entwurmen von Pferden ein. Gern wird auch das Schmerzmittel Phenacetin beigefügt, das schädigt die Nieren und ist in der Schweiz verboten. Oder Lidocain, das wie Kokain örtlich betäubt, aber nicht psychoaktiv ist. Kokser halten den Stoff für gut, wenn sie ihn aufs Zahnfleisch streichen und es leicht taub wird. Ein Fehlschluss.

Das Kokain stammt vor allem aus Kolumbien, Bolivien und Peru. Letztes Jahr fuhren kolumbianische Kleinbauern eine Rekordernte ein: 710 Tonnen reinen Stoff. Die dunkle Seite: «Die Wahrheit ist, dass man durch Kauf und Konsum illegaler Drogen wahrscheinlich nicht stirbt. Sehr wohl aber kann es andere treffen. Kokain etwa wird ausnahmslos von Kartellen hergestellt und exportiert, zu deren Geschäftsmodell Mord und Folter gehören», schreibt der Brite Tom Wainwright in seinem Buch «Narconomics. Ein Drogenkartell erfolgreich führen».

Vor allem Männer zwischen 25 und 34 kommen zum Drug-Checking

Es sind vor allem Männer im Alter von 25 bis 34, die im Drug-Checking sitzen. «Daher ist es wichtig, die Drogenberatung weiterzuführen, denn die Generation wächst stetig nach», sagt Eric Moser von der Berner Stiftung für Suchthilfe Contact. Es ist die Generation Tinder, die auf der Suche ist nach der Liebe fürs Leben – oder wenigstens für einen Teil davon.

Zur typischen Partynacht gehören für Schweizer Alkohol, Zigaretten und Cannabis. Eine nicht repräsentative Umfrage unter Partygängern ergab, dass Ecstasy von 37 Prozent eingesetzt wird, Amphetamin (Speed) und Kokain von 33 respektive 14 Prozent. LSD oder Ketamin – das jüngst wegen der Ermordung eines jungen Mannes in Küsnacht ZH in die Schlagzeilen geriet – konsumiert nur eine Minderheit (7 respektive 2 Prozent). «Ketamin ist keine Partydroge!», warnt das Sozialdepartement des Kantons Zürich.

In den Statistiken, die meist auf Befragungen basieren und mit grösserer Verzögerung veröffentlicht werden, spielen Methamphetamin (Crystal Meth) oder Ketamin eine Nebenrolle. Ketamin gilt für die Weltgesundheitsorganisation als unentbehrlich. Die Amerikaner erprobten es im Vietnamkrieg an Soldaten und setzten es als Betäubungsmittel bei der Behandlung von Kampfverletzungen ein.

Die Hemmungen fallen lassen

Auch Crystal Meth hat eine kriegerische Vergangenheit. Deutsche wie amerikanische Generäle fütterten ihre Soldaten mit der «Panzerschokolade», um sie bei Einsätzen wach zu halten und ihre Angst zu dämpfen. Heute werden die Kristalle geraucht, um die Hemmungen zu senken und den sexuellen Appetit zu steigern.

Forscher der Universität Lausanne untersuchten 2015 die Abwässer von Schweizer Städten auf Rückstände von Drogen – während sieben aufeinanderfolgenden Tagen. Der Befund: Der Kokainkonsum ist unter der Woche stabil, stärkt aber das Ego beim Balztanz am Samstag. Am Sonntag fanden sich im Klärwasser vor allem Spuren von Amphetamin und Ecstasy.

Grob gerechnet: Die Schweizer ziehen sich jedes Jahr rund acht Tonnen Kokain in die Nase und werfen eine Million Ecstasypillen ein. Nimmt man den Marktwert von 80 bis 100 Franken pro Gramm 70-prozentigen Kokains und 15 bis 20 Franken pro Ecstasypille, summiert sich das rasch auf eine Milliarde Franken. So viel Umsatz erzielte der Flughafen Zürich erstmals letztes Jahr.

Autor: René Ammann
Bild: Kantonsapothekeramt Bern (Montage: Beobachter)
Infografik: Andrea Klaiber (Quelle: Kantonsapothekeramt Bern/Pharmazeutisches Kontrolllabor)