Gross waren die Hoffnungen vor fünf Jahren. Damals wurden die Ärzte gesetzlich verpflichtet, sich an Patientenverfügungen Selbstversuch Wie erstelle ich eine Patientenverfügung? zu halten. Man wollte sicherstellen, dass Kranke bis zum Schluss über ihr Leben und Sterben entscheiden können.

Heute ist Tobias Merz ernüchtert. Der leitende Arzt der Intensivstation am Inselspital Bern sagt: «In den allermeisten Fällen bringt die Patientenverfügung nichts.» In weniger als einem von zehn Fällen können er und sein Team dem Dokument die Infos entnehmen, die ihre medizinischen Entscheidungen beeinflussen.

Partnerinhalte
 
 
 
 

«Man kann sagen, dass Patientenverfügungen gescheitert sind»

Tanja Krones, Medizinethikerin, Universitätsspital Zürich

Ähnlich sieht es Tanja Krones, Medizinethikerin am Unispital Zürich. Etwa 1000-mal pro Jahr werden die Ärztin und ihre Kollegen für eine Beratung an ein Patientenbett gerufen. Thema Nummer eins sind unklare Patientenverfügungen . «Man kann sagen, dass Patientenverfügungen gescheitert sind», meint sie. «Aber nicht die Idee. Nur ihre Umsetzung.»

Die Verfügungen seien oft so standardisiert und allgemein gefasst, dass sie bedeutungslos werden, doppelt Merz nach. So lese er häufig, dass die Patienten bei einer aussichtslosen Prognose Palliative Care Wie sinnvoll sind teure Medikamente am Lebensende? keine lebenserhaltenden Massnahmen wollen. Merz schüttelt nur den Kopf, denn in einem solchen Zustand würde niemand intensivmedizinisch behandelt. «Es herrscht die Ansicht vor, dass wir auf Biegen und Brechen das Leben verlängern wollen, auch wenn das nicht sinnvoll ist. Aber das ist klar nicht der Fall.»

Was heisst «keine Schläuche»?

Wegen vieler Patientenverfügungen gerät Merz in ein Dilemma, weiss nicht, ob der Patient die eigene Verfügung überhaupt verstanden hat. Was heisst zum Beispiel «keine Schläuche»? Keinen Katheter, keine Infusionen oder keine Beatmungsschläuche Herznotfall «Wer nichts tut, riskiert, dass ein Mensch stirbt»

Ein grosser Unterschied, wie Merz am Fall eines Mannes zeigt, der nach einem Herzinfarkt Angina Pectoris Das eingeschnürte Herz auf der Intensivstation lag – «das Herz gut durchblutet, die Herzkranzgefässe wieder offen», er hätte noch Jahrzehnte gut leben können. Plötzlich Rhythmusstörungen, Herzstillstand. Sofort ging der Alarm los, Ärzte und Pfleger eilten herbei. Nur: In seiner Verfügung stand, dass er nicht reanimiert werden wollte. «Wir wussten: Wir müssen einmal defibrillieren, der Stromstoss wird den Kreislauf augenblicklich wiederherstellen, und der Mann überlebt bei bester Gesundheit», sagt Merz. Es sei unklar gewesen, ob der Mann die Tragweite der Formulierung verstanden hatte. «Vielleicht hat er beim Ausfüllen der Verfügung an eine halbstündige Herzmassage gedacht, die er nur mit schwerem Hirnschaden überleben würde.» Merz hat ihn gerettet.

In solchen Fällen lege er die Patientenverfügung nicht buchstabengetreu aus. «In der Regel würden wir den Defibrillator einsetzen, weil wir davon ausgehen, dass der schriftliche Wille nicht dem eigentlichen Willen entspricht», sagt Merz. Wenn kein akuter Notfall vorliege, spreche man mit den Angehörigen, die dann entscheiden.

Dieses Bild kann nicht angezeigt werden.

«Ich lege eine Patientenverfügung in manchen Fällen nicht buchstabengetreu aus.»

Tobias Merz, Arzt am Inselspital Bern

Gesetz soll aufgeweicht werden

Um unklare Situationen zu vermeiden, will die Luzerner Rechtsprofessorin Regina Aebi-Müller das Gesetz aufweichen. «Rechtlich gesehen ist ein Arzt auf der sicheren Seite, wenn er der Patientenverfügung folgt. Auch wenn er sicher ist, dass der Patient eigentlich etwas anderes wollte.» 

Aebi-Müller fordert deshalb, dass dem mutmasslichen Willen des Patienten mehr Gewicht gegeben werden soll. Dazu wäre es ihrer Meinung nach wichtig, wenn die Krankenkasse ein Gespräch mit einem Arzt zur Patientenverfügung zahlen würde.

«In Österreich ist eine Verfügung nur dann bindend, wenn die Person vorher juristisch und medizinisch beraten wurde.»

Regina Aebi-Müller, Rechtsprofessorin

«Damit wissen die Ärzte, dass die Person wirklich versteht, was sie in die Verfügung geschrieben hat.» Und können die Anweisungen ohne schlechtes Gefühl befolgen.

Deshalb empfiehlt der Berner Arzt Merz, dass man regelmässig mit der Familie und Vertrauenspersonen Klinikaufenthalt Wann braucht es eine Vertrauensperson? über die eigenen Werte und Lebenswünsche spricht. Und dass man eine Person als Vertreter einsetzt. Dann habe der Arzt jemanden, der die Verfügung interpretieren könne. «Das ist die bessere Lösung als ein Papier, das ein Arzt in einer Akutsituation auslegen muss, ohne die Person zu kennen.» Das Einzige, was man mit einem Kreuzchen klar regeln könne, sei, ob man Organe spenden will oder nicht.

Wünsche der Patienten sind realitätsfern

Allzu allgemeine Aussagen in Patientenverfügungen sind aber nur das eine Problem. Widersprüchliche oder sehr spezifische Wünsche, die allenfalls realitätsfern sind, kommen hinzu. 

Juristin Aebi-Müller erzählt von einer Frau, die auf keinen Fall einen künstlichen Darmausgang wollte, weil sie vor 20 Jahren miterlebt hatte, wie eine Freundin einen Darmausgang erhielt. Das war damals eine recht unappetitliche und geruchsintensive Angelegenheit, die das Sozialleben stark belastete. Heute aber sind Reinigung und Handhabe kein grosses Problem mehr. 

Der behandelnde Arzt musste entscheiden, ob er die bewusstlose Frau sterben lassen oder ihr – gegen ihren ausdrücklichen schriftlichen Willen – einen Darmausgang legen sollte. Er machte den Eingriff. «Weil er davon ausging, dass die Frau die Lage falsch einschätzte», sagt Aebi-Müller.

«80 Prozent der Ethikfälle wären vermeidbar»

Trotz all diesen Unsicherheiten und Zweifeln glaubt Medizinethikerin Tanja Krones weiterhin an den Nutzen von Patientenverfügungen, es brauche aber unbedingt bessere. Ebenfalls verbessert werden müsse die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten. Zum Beispiel indem Ärzte effizienter darin geschult werden, heikle Gespräche zu führen. 

«80 Prozent meiner Ethikfälle Patientenverfügung Alle Maschinen stopp? wären vermeidbar, wenn Ärzte und Patienten früher zusammen sprechen würden», sagt Krones. Sie verweist auf das Beispiel einer schwerkranken Frau, die nicht mehr urteilsfähig war. Die Familie musste innert kurzer Zeit entscheiden, ob sie lebensverlängernde Massnahmen erhalten solle oder nicht. «Dann musste ich in der Patientenakte lesen, dass sie vorher das Gespräch zum Arzt gesucht hat, dieser aber keine Zeit hatte. Das finde ich frustrierend.»

Der Vorsorgeauftrag

Neben der Patientenverfügung gibt es auch den Vorsorgeauftrag. Damit kann man jemanden unter anderem damit beauftragen, administrative Angelegenheiten zu besorgen, wenn man das wegen Urteilsunfähigkeit nicht mehr selber erledigen kann. Der bestehende Vorsorgeauftrag wird im Bedarfsfall von der Kesb in Kraft gesetzt.

Vorsorgeaufträge sind eigentlich eine einfache Sache. Doch nun wittern einzelne Notare und Anwälte das grosse Geschäft: Sie setzen lange, komplizierte – und teure – Dokumente auf. Die Folge: Ratsuchende wenden sich an das Beratungszentrum des Beobachters, weil sie ihre eigenen Vorsorgeaufträge nicht mehr verstehen. 

Für eine Patientenverfügung ist es ratsam, mit einer Fachperson zu sprechen. Anders sieht das beim Vorsorgeauftrag aus. Bei einfachen und überschaubaren Verhältnissen braucht man weder Anwalt noch Notar. Hilfe findet man im Beobachter-Ratgeber «Ich bestimme. Mein komplettes Vorsorgedossier» (siehe unten). 

 

(Walter Noser)

Was ist eine Patientenverfügung?

Die Möglichkeit, eine Patientenverfügung zu errichten, ergibt sich aus Artikel 370 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches.

  • Im ersten Absatz des Gesetzes ist beschrieben, dass man medizinischen Massnahmen im Fall der Urteilsunfähgkeit zustimmen oder nicht zustimmen kann. Eine solche Patientenverfügung ist vor allem dann sinnvoll, wenn man weiss, an welcher Krankheit man leidet. Muster dazu finden Sie auf Guider (für Beobachter-Abonnenten kostenlos).
  • Was das Gesetz im zweiten Abschnitt ermöglicht, nennen einige Autoren «Patientenvollmacht» (siehe Muster auf Guider). Dieser zweiter Absatz ermöglicht, dass man keine Weisungen an Ärzte erteilt, sondern nötige Entscheidungen einer Stellvertretung überlässt.  Diese sogenannte «Patientenvollmacht» kann sinnvoll sein, wenn man gesund ist und wenn man an keiner Krankheit leidet.
Buchtipp
Ich bestimme. Mein komplettes Vorsorgedossier
Ich bestimme. Mein komplettes Vorsorgedossier
Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
Der Gesundheits-Newsletter