Ein Dorf sucht einen Teufel
In Riehen BS geht seit Jahren ein Brandstifter um. Es ist eine der längsten ungeklärten Brandserien der Schweiz. Jeder verdächtigt jeden. Sogar in die Gemeinderatswahlen spielte das Feuer hinein.
Veröffentlicht am 12. März 2010 - 11:46 Uhr
An einem Samstagmorgen Ende Februar hat es wieder gebrannt. Im Keller des Gewerbehauses. Ein alt Riehener, der in der Bäckerei am Dorfplatz seinen Kaffee nimmt, sagt, was viele denken: «Es ist einer von uns.»
Alle hier reden von ihm. Jedermann hegt einen Verdacht. Vier Dutzend ungeklärte Brände in über fünf Jahren. Manchmal bleibt der Brandstifter monatelang still, um unversehens wieder die Bühne zu betreten. Wie diesen Januar. Seither streifen Journalisten um die Häuser in Riehen, der hablichen Vorortsgemeinde Basels, verbreiten das gruselige Phantombild in Zeitungen, ziehen den Namen des Orts in den Dreck. Wer Riehen sagt, denkt an Feuer. Gemeindepräsident Willi Fischer sagt: «Ein Ruf als Brandstifterdorf ist nicht das, was man sich wünscht. Das belastet.»
Ihn belastet es doppelt. Die Gemeinderatswahlen vom März, an denen Willi Fischer schliesslich im Amt bestätigt wird, stehen bevor. Dem Rat wird Säumigkeit vorgeworfen; er tue zu wenig, um den «Zeusler» dingfest zu machen. Auch der kaffeetrinkende Alteingesessene versteht nicht, warum die Polizei den Kerl noch nicht geschnappt hat, zumal «im Dorf ja alles videoüberwacht ist». Der müsste doch dreinlaufen. «Dä Siech.»
Das Phantombild zeigt einen Mann mit Segelohren und Brille. «Starrer Blick, abstehende Ohren und eine Nase wie ein Schwein», beschrieb der «Blick» das «Monster». So stellt man sich auch einen Kinderschänder vor. Nur ein Monster kommt dafür in Frage. Dabei sind die meisten Brandstifter psychisch gesund. Keine Irren. Keine Psychopathen. Ein Irrer hätte längst einen Fehler gemacht. Dass das Böse banal und normal sein könnte, daran mag hier keiner denken. Das Phantombild ist nicht mehr aktuell. Längst wurde ein Mann verhört, ein Ex-Feuerwehrmann, und wieder laufengelassen. Dennoch drucken die Zeitungen das Bild bei jeder Gelegenheit. Das Monster lässt sich kaum verscheuchen.
Seit Januar ist der Brandstifter wieder am «Zünzgerlen», wie ein Einheimischer sich ausdrückt. Ein kuscheliges Wort für eine Tat, auf die im Mittelalter der Tod stand und die auch laut modernem Strafgesetzbuch als gemeingefährlich gilt. Es ist Wahlkampf in Riehen. Gemeindepräsident Willi Fischer hat im ersten Wahlgang seine Wiederwahl verpasst. Keiner der sieben Gemeinderäte wurde auf Anhieb gewählt oder bestätigt. Im Wahlkampf hat nun der Gemeinderat das auf den Täter ausgesetzte «Kopfgeld» von 10'000 auf 20'000 Franken verdoppelt. 2008 hatte er noch nichts von einer Erhöhung wissen wollen.
Das Kopfgeld ist Wahlkampfthema geworden. Hansjörg Wilde, Gewerbevertreter, der Fischer bei den Wahlen zum Gemeindepräsidenten herausfordert, verdoppelte erneut: auf 40'000 Franken. «Ich griff ein paar Mal zum Telefon. Dann ging es ruck, zuck, und ich hatte das Geld.» Das war an einem Donnerstag. Am Freitag stand es in den Zeitungen. Am Samstag brannte es wieder.
Wilde, der eine Elektroinstallationsfirma führt und gerne Bee Gees hört, ist ein Mann mit Doppelkinn und der Unbekümmertheit des politischen Aussenseiters. Nun muss er sich vorwerfen lassen, er habe die Tat provoziert, das Gewerbe ins Fadenkreuz des Brandstifters gerückt. Der Brand im Gewerbehaus sei dessen höhnische Antwort. Ausgerechnet Wilde, dem Friedfertigen, gilt diese böse Unterstellung – ihm, der Jesus Christus als seine Lieblingsfigur der Geschichte bezeichnet.
Eduard Rutschmann, Präsident der lokalen SVP, erscheint auf die Minute pünktlich zum Termin auf dem Dorfplatz. Auch er vermutet, der Täter stamme aus der Region. Die Leute haben Angst vor dem Brandstifter, sagt er: «Es ist in jedem ein Druck drin.» Tauben ruckeln vorüber, und Hausfrauen hasten mit ihren Einkäufen nach Hause. Eigentlich ist es kein Platz, eher eine Einkaufsschneise. Eiskalte, mausgraue Siebziger-Jahre-Architektur. Der Kontrast zu den vielen historischen Gebäuden im Dorf lässt sie nur noch armseliger erscheinen. Vier Banken in nächster Nähe, der Sutter-Beck, Migros, Coiffeur, Parfümerie, Kiosk. Alltagsgrundversorgung.
Am Vorabend hat Rutschmann um 23 Uhr noch eigens die Tiefgarage kontrolliert. Die Polizei empfiehlt jetzt solche Rundgänge. Rutschmann mutmasst: «Der Brandstifter muss krank sein.» Vor zwei Jahren forderte er eine Bürgerwehr, um ihn zu schnappen. «Das Risiko, Opfer eines Brandstifters zu werden, ist in Riehen so gross, dass der Gemeinderat jetzt handeln und auch unkonventionelle Massnahmen prüfen muss», schrieb er. Die Gemeindepolitiker liessen ihn abblitzen. «Jetzt ist es zu spät dafür», meint er. Denn der SVP-Mann vermutet das Schlimmstmögliche: dass der Täter bereits Nachahmer gefunden hat.
Wie aus dem Nichts tauchte seine SVP vor drei Jahren im Ort auf. Schon ist sie wählerstärkste Partei. Ständig ist Rutschmann daran, irgendeinen «Sumpf» trockenzulegen oder sonst eine Sauerei öffentlich zu machen. Er ist ein Unbequemer. Ein Querulant. Man sieht ihm nicht an, dass ihn im Sommer ein Burn-out niedergestreckt hat. Doch drei Wochen Schwimmen in Kroatien, und er war wieder auf den Beinen. Ein Buch hat er während der Kur gelesen: Hape Kerkeling über seine Pilgerreise. Da konnte er wieder mal so richtig lachen. Gewissermassen auf Vorrat. Denn das Leben im Brandstifterdorf kann aufs Gemüt schlagen. Rutschmann sieht jetzt oft noch spätabends Leute auf Kontrollgang. Und Fremde müssten damit rechnen, dass man sich nach ihnen umdreht. Denn die Riehener haben sich «den Blick zurück» angewöhnt, stellt Rutschmann zufrieden fest: «Das beruhigt.»
Wer die Flussauen vor dem Dorf erkunden möchte, muss erst die Hauptstrasse überqueren, die auch nachmittags um zwei im Verkehr zu ersticken droht. Riehen, 21'000 Einwohner, liegt eingezwängt zwischen zwei Zentren: Basel und Lörrach. Riehen dient der Stadt Basel als Landreserve – und als Friedhof, denn die Städter beerdigen hier ihre Toten. Vorbei gehts an Schrebergärten, und dann, draussen vor dem Ort, atmet man durch und begreift, wieso – nebst dem tiefen Steuerfuss – viele Gutbetuchte an den ehemaligen Rebhängen ihre Villen bauen. Hier hämmert noch der Buntspecht und zwitschert der Zaunkönig. Es lebt sich angenehm. Eine Viereinhalbzimmerwohnung in der «Residence» an der Wenkenstrasse ist im UBS-Schaufenster für 1,5 Millionen Franken ausgeschrieben. 2005 landete Riehen in einer Hitliste von Schweizer Städten mit der höchsten Lebensqualität auf dem ersten Platz. Auch was Ruhe und Sicherheit betrifft. Doch mit der Sicherheit ist es vorerst vorbei.
Wo es in Riehen und Umgebung überall brannte
Beim Eisweiher neben dem Fluss trippelt eine drahtige Dame im Trainingsanzug heran, mit Sonnenbrille und rotgefärbtem Haar. Die bald 80-Jährige führt ihren weissen Terrier Georgie spazieren. Auch Margaretha Vogelsanger hat ihren Verdacht: «Es ist ein Feuerwehrmann. Die legen gerne Feuer.» Dieses Gerücht hält sich hartnäckig, obwohl sich die tapferen Feuerwehrleute der Region einer Speichelprobe unterzogen haben – für den DNA-Abgleich. Befund negativ. Doch wie das Monster nicht aus den Köpfen weicht, so hartnäckig hält sich das Bild des Feuerwehrmanns als Täter. Margaretha Vogelsanger fügt aber noch etwas an und fährt den Zeigefinger aus, um die Bedeutung ihrer Aussage zu unterstreichen: «Und der ist clever!»
Gemeindepräsident Willi Fischer sitzt in seinem holzgetäferten Büro und schaut traurig auf die Osterglocken auf seinem Pult. Nervös spielt er mit dem Kugelschreiber. Lieber würde er erzählen, dass kein einziges Hochhaus das Ortsbild verschandelt. «Wir nennen uns das grosse grüne Dorf.» Dass man von seinem Büro auf einen grünen Park blickt. Dass Riehen prächtige historische Landgüter zu bieten habe, ehemalige Sommerresidenzen von Basler Grossbürgerfamilien wie Burckhardt, Merian, Geigy. Fast der gesamte Dorfkern steht unter Denkmalschutz. Man lebt wie in einem Museum. Viel lieber würde Fischer das Beyeler-Museum preisen, dessen Ruf in alle Welt strahlt: Picasso, van Gogh, Monet, Matisse, Klee, Rothko. Aber alle Welt spricht nur über ihn. Diesen Zeusler.
Willi Fischer erinnert sich an jenen Samstagmorgen, als es im Keller des Gewerbehauses brannte. Das dritte oder vierte Mal schon dieses Jahr, er hat zu zählen aufgehört. Er kann sogar schon blind unterscheiden, ob zwei oder drei Löschzüge von Basel heranbrausen. «Nicht schon wieder», dachte er. Kurz darauf läutete das Telefon, die Polizei – wie immer in solchen Fällen. «Was sollen wir denn machen?», fragt er mit gütigem Blick und schlohweissem Haar, das ihm etwas Väterliches verleiht. Zuständig sei schliesslich die Kantonspolizei. Er rät zu Kontrollgängen in Hinterhöfen und Tiefgaragen, immer abzuschliessen und Fremde anzusprechen. «Ich kann mich doch nicht jeden Abend auf den Dorfplatz stellen und irgendwelche Parolen ausgeben.» Das Thema quält ihn sichtlich. Lieber würde er in der Bergpredigt lesen, seiner Lieblingslektüre.
Der Brandstifter platzt nicht nur in den Wahlkampf hinein. Die Gemeinde durchleidet eine Identitätskrise. Riehen ist stark religiös geprägt. Diakonissen, eine evangelikal geprägte Akademie und die Chrischona-Gemeinde gibt es hier. Die Stiftung zur Verbreitung der Gralsbotschaft errichtete sogar eine Andachtshalle. Pfarrer Emil Iselin schrieb in seiner Gemeindegeschichte über die «Riehener Art»: «Ein friedliebender, ruhiger Sinn, zugleich ein Zug zur Mystik im Sinne des Glaubens oder des Aberglaubens» sei ihr eigen. Ein Riehener sagt, viele Einwohner trügen ein Fischli mit sich herum – wenn nicht am Autoheck, dann im Kopf. Das schlug sich politisch nieder: Die Evangelische Volkspartei stellt seit Jahrzehnten den Gemeindepräsidenten, ist dominierende Partei und regiert im Verbund mit Liberalen und FDP. Noch.
Anwärter fürs Präsidium wie Wilde stellen diesen Anspruch in Frage. Patrick Herr, Chefredaktor der «Riehener Zeitung», formuliert es so: Riehen sei in einem Prozess der «Selbstfindung». Es frage sich: «Was sind wir eigentlich: Dorf, Stadt oder Agglomeration?» Die «Gemeindekunde» warnt: «Riehen – ohnehin im Sog der Grossstadt Basel – muss alles tun, um sein Eigenleben zu erhalten, wenn es nicht zum gesichtslosen Vorstadtquartier absinken will.»
Noch aber lebt die Tradition. Zu Silvester stapfen jeweils acht Bläser des Posaunenchors des christlichen Vereins junger Männer auf den Kirchturm und schmettern nach dem Einläuten des neuen Jahrs Bach-Choräle in die Weiten des Wiesentals. Doch seit die Deutschen am Silvester mit Feuerwerk um sich schmeissen, ist auch diese Tradition buchstäblich unter Beschuss. Willi Rauscher, ehemaliger Polizist, spielte mit Gemeindepräsident Fischer Trompete im Posaunenchor. Er ist Mieter eines Familiengartens. In solchen Gärten haben die Brände begonnen – vielleicht liegt hier der Schlüssel.
Hobbygärtner Rauscher, ein gemütlicher Mann mit Schnurrbart und struppigem Haar, stoppt seinen bordeauxroten Opel Vectra auf dem Parkplatz vor dem Gartenareal zwischen dem Fluss und der deutschen Grenze. Als es hier gebrannt hat, war er, Rauscher, um 22 Uhr noch vor Ort, um 23 Uhr heulten bereits die Martinshörner der Feuerwehr. Seither schrecken am Eingangstor Metallzacken Eindringlinge ab. Vorsorglich hat Rauscher die Versicherungssumme seines Gartenhäuschens erhöht, immerhin stecken 30'000 Franken in seinem «Bäärlihuus». Allein die Storen – «Einzelanfertigung» – kosteten 4000 Franken. Zwerge schmücken den Rasen zwischen Yucca und Buchsbaum.
«Der zeuselt aus Rache», brummt Rauscher. Sagts und zieht an seiner Kent. Er überprüft, ob noch alle Goldfische im Teich schwimmen, denn Fischreiher drehen in der Nähe ihre Runden. Dass es ein Einheimischer ist, das steht für ihn ausser Frage. Drei Personen hat er konkret im Verdacht und sie auch schon der Polizei gemeldet. An dem gegenüberliegenden Flussufer erscheint plötzlich ein Polizeiauto mit eingeschalteten Scheinwerfern auf Schleichfahrt. Kurzer Stopp, dann setzt es die Fahrt fort. Es dämmert. Jetzt bricht die Zeit des Brandstifters an, der das Feuer in der Regel nachts legt. Rauscher weiss: «Am gefährlichsten ist der Freitagabend.»
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