Der afrikanische Traum
Einmal an einer Fussball-WM dabei sein: Kalifa Sidibé hatte allen Grund, davon zu träumen. Er wurde mit 16 als Riesentalent von der Elfenbeinküste «importiert». Nun ist er 27 und hat – wie viele andere – seine Hoffnung auf eine internationale Karriere aufgegeben.
Veröffentlicht am 25. Mai 2010 - 08:05 Uhr
Der Junge rennt. Die ungewohnte Kälte macht das Atmen schwer, die Schuhe sind längst durchnässt, aber er rennt weiter durch die Wälder, die er nicht kennt, über Schnee, den er noch nie gesehen hat. Es ist Ende Februar 1999, und der Junge ist vor ein paar Wochen erst 16 geworden. Er will nur noch nach Hause nach Ferkessédougou, Côte d’Ivoire, Afrika. Oder wenigstens in die Hauptstadt Abidjan, wo er bis vor ein paar Tagen eine Handelsschule besucht hat.
Aber da ist sein Traum: Der Junge will in einer europäischen Liga als Profi Fussball spielen. Deshalb rennt er weiter durch den kaltfeuchten Seeländer Winterwald. Anfang März fängt bei den U-17-Fussballjunioren der Young Boys in Bern das Training an, und er darf eine Woche probehalber mittrainieren. Das Flugticket in die kalte Schweiz hat der Cousin bezahlt. Der lebt in Biel und will Spieleragent werden. YB hat dem Jungen lediglich eine Einladung und ein Visum besorgt. Fällt er beim Training durch, muss er zurück nach Afrika. Fällt er auf, darf er bleiben. So einfach sind die Regeln im Fussballgeschäft.
Es ist nicht die glamouröse Fussballwelt, die der 16-jährige Kalifa Sidibé in Bern antrifft. YB dümpelt am Schluss der Tabelle in der damaligen Nationalliga A und steigt am Ende der Saison ab. Die Möbel in der Geschäftsstelle stammen aus dem Brockenhaus, und die Spielerlöhne werden oftmals erst nach monatelangem Warten bezahlt. Kalifa Sidibé ist das egal. Er ist gekommen, um seinen Traum zu verwirklichen.
Die Trainer und Verantwortlichen bei YB realisieren schnell, dass ihnen ein ungeschliffener Diamant in die Hände gefallen ist. Kalifa Sidibé, der noch nie in einem Klub Fussball gespielt hat, fällt im Training sofort auf. Ein Schlaks, 1,82 Meter gross, kaum vom Ball zu trennen. Fredy Bickel, ab Ende 1999 Sportchef bei YB und heute in der gleichen Funktion beim FC Zürich tätig, gerät jetzt noch ins Schwärmen über die Qualitäten des jungen Sidibé: «Neben Johan Vonlanthen war er damals mit Abstand der talentierteste YB-Junior.» Und dieser Johan Vonlanthen brachte es ein paar Jahre später zum Stammspieler beim holländischen Erstdivisionär PSV Eindhoven, wurde mit Red Bull Salzburg zweimal österreichischer Meister und spielte bisher 40-mal in der Schweizer Nationalmannschaft. Vonlanthens Marktwert wird auf knapp zwei Millionen Franken geschätzt.
Davon ist Kalifa Sidibé im Frühling 1999 noch weit entfernt. YB bietet Unterkunft und Verpflegung gegen die Verpflichtung, mit den U-17-Junioren der Gelbschwarzen zu trainieren und zu spielen. «Un mini-contrat», nennt Kalifa Sidibé das heute, «aber ich konnte davon leben und musste mir keine Sorgen machen.»
Kalifa Sidibé hat Heimweh, jeden Tag. Aber er kann bei einem Profiverein in Europa spielen. Und er weiss, dass ihn die YB-Verantwortlichen genau beobachten. Spielt er gut, so haben sie es ihm versprochen, dann wollen sie ihn behutsam an die erste Mannschaft heranführen. Kalifa ist drauf und dran, seinen Traum zu verwirklichen.
Es ist ein Traum, den in Afrika Zehntausende träumen. Der schwarze Kontinent gilt bei europäischen Fussballklubs und Spieleragenten als geradezu unerschöpfliches Reservoir an billigen Talenten. Der Neuenburger Sportwissenschaftler Raffaele Poli spricht von «menschlichem Kapital», das Klubs und Agenten in Afrika aktiv suchen, um es dann in Europa in eine «Wertschöpfungskette» zu integrieren (siehe Artikel zum Thema «Die meisten verschwinden irgendwann von der Bildfläche»).
Nur die wenigsten afrikanischen Jugendlichen, die von einer Karriere in einer grossen europäischen Liga träumen, schaffen es aber, einmal im Dress eines Spitzenklubs in ein grosses Stadion einzulaufen. Der ivorische Journalist Eric Mwamba, der die Schicksale von jugendlichen Fussballmigranten aus Afrika recherchiert hat, erzählt von tragischen Beispielen von hoffnungsvollen Spielern, die in Europa buchstäblich in der Gosse landen (siehe Artikel zum Thema «Aus Liebe zum schönen Spiel»). Skrupellose Agenten und Klubs betreiben nach seinen Erkenntnissen eine moderne Form des Kinderhandels.
Kalifa Sidibé hat Glück. Weder fällt er einem der dubiosen Agenten in die Hände, noch wird er in Europa sich selber überlassen. «Zu dem Jungen musste man doch schauen», sagt Fredy Bickel. «Man stelle sich vor: Er war erst 16!» Bickel wird eine Art Vaterersatz für das Jungtalent. «Wenn ich etwas brauchte, war er für mich da», sagt Kalifa Sidibé, «Bickel konnte ich vertrauen.» Noch heute ruft er ihn gelegentlich an, «juste comme ça», und Fredy Bickel, der Sportchef, der in seiner Karriere schon Hunderte Spieler eingestellt, betreut und manchmal auch wieder entlassen hat, dieser Fredy Bickel lächelt, wenn man ihn darauf anspricht. Schön seien sie, diese «Wasserstandsmeldungen» sagt er.
Am 29. Juni 2000, bei einem torlosen Unentschieden in einem Testspiel gegen den FC Thun, taucht im Matchbericht im «Bund» zum ersten Mal der Name Sidibé auf. Vier Monate später, nach einem 3:0 des YB-Nachwuchses gegen den FC Bern, titelt die Zeitung: «Afrikanische Virtuosität» – «Der erst 17-jährige Kalifa Sidibé demonstrierte seine Klasse, die ihn bereits in das erweiterte Kader des Fanionteams gebracht hat.»
Dieses Fanionteam schlägt sich damals mehr schlecht als recht durch die Nationalliga B, und etwas Virtuosität im Angriff könnte der Mannschaft nicht schaden. Aber dann, beim letzten Spiel mit dem YB-Nachwuchs vor der Winterpause, geschieht es: ein Zusammenstoss mit dem gegnerischen Goalie, ein Stich im linken Knie. Kalifa Sidibé ignoriert die Schmerzen, so gut es geht.
Er fliegt nach Hause, zum ersten Mal nach anderthalb Jahren. Die Schmerzen vergehen auch dort nicht, und als er nach den Ferien wieder in der Schweiz ist, schicken ihn die YB-Verantwortlichen zum Arzt. Der hat schlechten Bescheid. Die Kreuzbänder sind lädiert. Eine Dutzendverletzung, eine Dutzendoperation, aber etwas läuft schief. Kalifa spürt: Das Gefühl im Knie ist nach dem Eingriff anders, die Schmerzen sind immer noch da. «Dieser Arzt hat mir meine Karriere kaputtgemacht», sagt Kalifa Sidibé heute.
Vorerst aber hofft er noch. Er wohnt jetzt nicht mehr allein, sondern in einer Art Wohngemeinschaft von YB-Talenten im Haus der Familie Vonlanthen. Er geht in die Reha, besucht die Physiotherapie, versucht zu trainieren. Er spielt mit dem YB-Nachwuchs und ist ständig auf dem Sprung in die erste Mannschaft. Manchmal wird er in den Matchberichten im «Bund» erwähnt, wenn das Profiteam spielt. «Young Boys ohne Disler, Häberli und Kalifa (alle verletzt)», heisst es dann.
Und die Schmerzen bleiben. Kalifa Sidibé wird ein zweites und ein drittes Mal operiert, muss wieder monatelang Physiotherapie machen, kämpft sich wieder zurück. Dann, irgendwann im Frühling 2003 muss es sein, so genau erinnert sich Kalifa Sidibé nicht mehr, scheint der Traum vom «grossen» Vertrag plöt zlich greifbar nah: Er spielt mit der U-21-Mannschaft der Young Boys an einem Nachwuchsturnier in Holland – und fällt auf.
Die Scouts, die professionellen Späher der grossen europäischen Klubs, die die Tribüne füllen, wählen ihn zum besten linken Verteidiger und zum zweitbesten Spieler des Turniers. Plötzlich tauchen «Berater» auf, die den Jungen, der längst zum Mann geworden ist, unter Vertrag nehmen wollen. Namen von Vereinen fallen in seiner Gegenwart: PSV Eindhoven, Ajax Amsterdam. Bei Fredy Bickel in Bern rufen Leute an und wollen über den Spieler reden.
Die Hoffnung dauert zehn Tage. Dann verletzt sich Kalifa Sidibé ein weiteres Mal am Knie. Eine weitere Operation, die vierte, und ein Bescheid: Professioneller Fussball mit zwei Trainings pro Tag wird nicht mehr möglich sein. Immerhin: Das Knie hält nach dieser Operation besser, die Schmerzen sind weniger stark. Und Fredy Bickel macht ein Angebot: Kalifa Sidibé soll bei YB zum Trainer ausgebildet werden. Er schlägt ein – aber der fertige Vertrag wird nie unterschrieben. Bei YB kommt es zur Palastrevolution, Sportchef Bickel und Trainer Marco Schällibaum müssen gehen, die neuen Machthaber im Wankdorf wollen nichts mehr von Kalifa Sidibé wissen. Am 8. August 2003 meldet der «Bund» unter «Abgänge» bei der U-21-Mannschaft auch Kalifa Sidibé. Hinter seinem Namen, dort, wo bei den anderen Spielern ein neuer Klub erwähnt ist, steht bei ihm bloss ein Fragezeichen.
Noch gibt es einen Hoffnungsschimmer: Der ehemalige Leiter des «YB-Profitcenters Nachwuchs» holt ihn zum FC Wettingen. Dritte Liga statt Ajax Amsterdam, Amateurbolzerei statt Profifussball. Kalifa packt den Strohhalm: «Wenn ein Ball da ist, dann spiele ich», sagt er, «Fussball ist Fussball, egal, mit wem.» Kalifa Sidibé lebt vom Ersparten aus den YB-Jahren. Er hat keinen Job, seine Aufenthaltsbewilligung läuft ab, und Aussicht auf eine Verlängerung gibt es keine. Daran ändert auch nichts, dass ihn der FC Baden für die Meisterschaft der Nationalliga B verpflichten will. Kalifa Sidibé trainiert mit der Mannschaft, zwei Monate, drei Monate, doch Baden kann keinen Lohn bezahlen, der sein Auskommen garantieren würde. Deshalb verweigern die Behörden die erhoffte Aufenthaltsbewilligung – das einstige Talent wird zum unerwünschten Ausländer. Er sitzt in seiner kleinen Wohnung im Aargau, schaut fern oder DVDs, spielt an der Playstation. «C’était la galère», sagt er. «Es war schrecklich.»
Eine allerletzte Hoffnung führt ihn zum FC Chur in die zweite Liga. Der Präsident dort habe gute Beziehungen, sagt ein Freund, der könne ihm Job und Bewilligung verschaffen. Kalifa Sidibé zieht nach Chur, trainiert dreimal pro Woche, spielt Playstation, schaut fern. Aus dem Job wird nichts, stattdessen taucht eines Tages die Polizei beim Training auf. Kalifa, der Fussballer aus Ferkessédougou, hat zwei Wochen Zeit, die Schweiz zu verlassen.
Und da tut sich doch noch eine Tür auf: Ein Freund vermittelt ihn ins Emirat Sharjah am Persischen Golf. Dort, bei al-Ittihad Kalba, in der zweiten Liga der Vereinigten Arabischen Emirate, spielt Kalifa Sidibé endlich wieder Fussball. Er ist einer von zwei Ausländern im Klub. Man trainiert einmal pro Tag, «alles sehr entspannt». Das Knie macht in der Wärme keine Probleme. Kalifa Sidibé ist Profifussballer – endlich. Am Ende der zweiten Saison verpasst al-Ittihad Kalba den Aufstieg, und als Kalifa nach der Meisterschaftspause wieder zum Training antreten will, findet er seinen Posten besetzt: Sein «Berater» hat den Klubbesitzern an seiner Stelle einen neuen Ausländer vermittelt.
«C'est la vie», sagt Kalifa Sidibé. Er ist zurückgekehrt ins Land, das ihn einst loswerden wollte, hat Amanda geheiratet und hat nun eine Aufenthaltsbewilligung B. Tochter Ciara ist neun Monate alt. Er sei froh, dass er damals mit 16 in die Schweiz gekommen sei, sagt er: «Ich habe Glück gehabt.» Er steht um halb sechs auf, liefert und montiert den ganzen Tag Haushaltgeräte. Abends um acht Uhr ist er wieder zu Hause, manchmal wird es später. Ein- bis zweimal pro Woche trainiert er beim FC Suhr in der dritten Liga. Aber sonst: «Le foot, c’est fini.» Es tue jetzt auch nicht mehr weh, wenn am Fernsehen ein Fussballmatch laufe.
Marco Wölfli, der Goalie von YB, hat ihm schon dreimal Tickets geschickt. Kalifa Sidibé ist nie hingegangen.
Woher afrikanische Fussballer kommen
Herkunft afrikanischer Fussballer, die in den 36 europäischen Spitzenligen spielen (Stand Oktober 2009). Insgesamt sind es 571 Spieler.
Afrikanische Spieler scheiden am häufigsten aus
Anteil der ausländischen Spieler unter 29 Jahren in 14 europäischen Spitzenklubs, die zwischen der Saison 2002/2003 und 2006/2007 aus dem Profifussball ausgeschieden sind, nach Herkunftsgebiet, in Prozent*
Lesebeispiel: 28,5 Prozent der Spieler unter 29 Jahren, die afrikanischer Herkunft sind, schieden zwischen 2002/2003 und 2006/2007 aus dem Profifussball aus.
Quellen: Raffaele Poli, «le marché des footballeurs»; Raffaele Poli, «le footballeur africain en europe»; Infografik: Beobachter/DR