Der schwerste je in der Schweiz verübte Terroranschlag passt in 19 Archivschachteln. 40 Jahre lang waren sie geheim, erst jetzt konnte der Beobachter die Akten der Polizei zum Swissair-Absturz von 1970 einsehen. Damals explodierte sieben Minuten nach dem Start von Zürich Richtung Tel Aviv eine Paketbombe, gezündet durch einen Höhenmesser. Beim Absturz von Würenlingen AG kamen alle 47 Menschen an Bord ums Leben.

Partnerinhalte
 
 
 
 

Die mutmasslichen Täter waren schon nach wenigen Tagen identifiziert. Doch sie kamen nie vor Gericht. Das Verfahren gegen die Palästinenser Sufian Kaddoumi und Badawi Mousa Jawher wurde im November 2000 still und leise eingestellt, die Angehörigen der Opfer erfuhren die Hintergründe nie. Erst mit der Einstellungsverfügung, die die Bundesanwaltschaft dem Beobachter auf Druck des Bundesstrafgerichts herausrücken musste, wurde klar: Die Schweiz wurde damals von palästinensischen Terroristen erpresst – auch wenn im Ermittlungsbericht nichts davon steht (siehe Artikel zum Thema «Swissair-Attentat 1970: Mantel des Schweigens»).

Nicht alle Akten wurden dem Beobachter freigegeben. Ein einzelnes, womöglich zentrales Dokument hält das Justiz- und Polizeidepartement weiter unter Verschluss. Recherchen ergaben: Es handelt sich um das Protokoll eines Treffens schottischer Polizeibeamter mit Schweizer Polizisten vom Mai 1989. 19 Jahre nach dem Absturz der Swissair-Coronado bei Würenlingen und fünf Monate nach dem Anschlag auf den Jumbo der Pan Am über Lockerbie mit 270 Toten diskutierten schottische Polizeibeamte in Bern mit der Bundespolizei über die Gemeinsamkeiten der beiden Terroranschläge.
Dieses Dokument könnte ein wichtiges Bindeglied sein zwischen den nie restlos geklärten Attentaten palästinensischer Terroristen der frühen siebziger Jahre und einer Reihe von Anschlägen in den achtziger Jahren. Diese gehen wahrscheinlich auf das Konto derselben Gruppierung.

Die Ermittler hatten offensichtlich 1989 einen begründeten Verdacht, dass ein Zusammenhang zwischen den beiden Attentaten besteht. Anders lässt sich nicht erklären, weshalb sich diese «Fachgespräche» über zwei Tage hingezogen haben. Teilgenommen haben auf Schweizer Seite neben der Bundespolizei auch Vertreter einer Kantonspolizei. Welcher, ist unbekannt. Konkret dürfte am Treffen vom 24. und 25. Mai 1989 eine Frage im Zentrum gestanden haben: Waren für die beiden Attentate dieselben Hintermänner verantwortlich?

Die Öffentlichkeit soll dazu keine Details erfahren. Bis 2040 soll das Dokument unter Verschluss bleiben. Die Begründung des Justiz- und Polizeidepartements: «Die Aktennotiz enthält Informationen, die im Zusammenhang mit der Verfolgung von Terrorismus stehen und aus denen Rückschlüsse in Bezug auf taktische oder operative Vorgehensweisen der Ermittlungsbehörden gezogen werden können.» Zudem sei das Dokument «von aktueller Staatsschutzrelevanz» und könne «die Beziehungen zu ausländischen Staaten beeinträchtigen».

Beide Bomben mit Höhenmesser gezündet

Allein die Existenz dieses geheimen Aktenstücks rückt den Anschlag von Würenlingen jedoch in ein neues Licht. Denn zwischen den beiden Attentaten gibt es eine wichtige Parallele, deren Bedeutung bisher womöglich unterschätzt wurde. In der Bombe, die den US-Jumbo am 21. Dezember 1988 über Lockerbie zur Explosion brachte, wurde ein ähnlicher Höhenmesser verwendet wie beim Anschlag auf die Swissair-Coronado 1970.

In Lockerbie stand in den ersten zwei Jahren nach dem Anschlag ebenfalls das Generalkommando der palästinensischen Befreiungsfront (PFLP-GC) im Zentrum der Ermittlungen. Knapp zwei Monate vor Lockerbie hatte in Deutschland eine grossangelegte Offensive zur Verhaftung von 16 palästinensischen Extremisten geführt. In Frankfurt wurden zudem ein umfangreiches Waffenarsenal und mehrere Kilo Sprengstoff entdeckt. In der Aktion mit dem Namen «Operation Herbstlaub» wurde der Drahtzieher des PFLP-GC in Deutschland verhaftet, Hafez Kassem Hussein alias «Dalkamoni». Bundeskriminalamt und Nachrichtendienst schnappten auch Marwan Khreesat. Seine Spezialität: zu Bomben umgebaute Radios, versehen mit einem Höhenmesser. Geeignet für Attentate auf Flugzeuge.

Khreesat, der nachweislich für mehrere Geheimdienste arbeitete, wurde wieder freigelassen. Anfang 1989 behauptete er in einer Befragung durch das FBI, er habe damals in Deutschland fünf Bomben mit Höhenmessern gebaut. In der «Operation Herbstlaub» wurde aber nur eine gefunden – im Auto seines Komplizen Dalkamoni. Drei Bomben fanden die Ermittler erst Monate später, eine blieb verschwunden. Schottische und US-Ermittler gingen davon aus, dass sie über Lockerbie explodierte.

Im Fall Lockerbie geschah danach Seltsames: Im Herbst 1991, praktisch über Nacht, präsentierten US-Ermittler zwei libysche Agenten als Alleintäter. Einer von ihnen wurde später verurteilt. Doch selbst die Richter räumten in ihrer Urteilsbegründung ein, dass der Fall nicht restlos geklärt sei. Angehörige der Opfer und einige Ermittler glauben heute noch, dass der Anschlag von der Befreiungsfront PFLP-GC verübt wurde. Diese These habe allerdings nicht mehr in die politische Grosswetterlage gepasst. Hauptfeind des Westens war 1991 nicht mehr der Iran, sondern der Irak. Und Syrien, wo der mächtige Chef des PFLP-GC, Ahmed Jibril, seit Jahren unbehelligt lebt, wurde von den Amerikanern hofiert.

Getarnte Bombe: ein mit Sprengstoff gefüllter Kassettenrekorder mit Höhenmesser

Quelle: Keystone Images

Bomben, die mit einem Höhenmesser gezündet werden, wurden erstmals in der Swissair-Coronado und gleichentags im Parallelattentat auf eine österreichische Maschine verwendet. 1970 führten die Ermittlungen rasch auf die Spur der beiden Palästinenser Kaddoumi und Jawher. Sie operierten von München und Frankfurt aus. Die Hintermänner dieser Anschläge blieben aber im Dunkeln. Beim PFLP-GC galt für den Bau solcher Bomben schon damals Marwan Khreesat als Spezialist. In den achtziger Jahren operierte auch er von Frankfurt aus. Obwohl er später im Lockerbie-Fall immer wieder im Zusammenhang mit den Anschlägen von 1970 genannt wurde, gibt es in den Schweizer Akten keine Hinweise zu Marwan Khreesat oder Dalkamoni, der als Chef der deutschen Zelle des PFLP-GC agierte.

Terroristen hatten ein Konto in Lausanne

Bis heute ist ungeklärt, ob einer oder mehrere in der «Operation Herbstlaub» verhaftete Terroristen hinter dem Anschlag auf die Swissair steckten. Aufgrund der zugänglichen Akten hat sich die Schweiz auch nie um Informationen aus dieser Aktion bemüht. Richard Marquise, in Lockerbie leitender Ermittler des FBI, erklärte jetzt dem Beobachter: «Als wir Khreesat 1989 befragten, beschränkten wir uns auf Fragen zu Lockerbie.» Würenlingen sei kein Thema gewesen. An Gesprächen 1989 in Bern sei er selber nicht dabei gewesen. Der pensionierte Lockerbie-Ermittler glaubt sogar, dass das FBI nicht einmal von diesen Gesprächen gewusst habe. Gut möglich, dass die Schweizer damals gar nicht erst versuchten, via Lockerbie-Ermittler von Khreesat Informationen zu erhalten.

Ein anderes Detail im Lockerbie-Fall hätte die Schweizer ebenfalls stutzig machen müssen: Als zwei Jahre nach dem Anschlag plötzlich die beiden Libyer im Fokus standen, machte Robert Baer, ehemaliger Mitarbeiter des US-Geheimdienstes CIA, ein aufsehenerregendes Faktum publik. Er verfüge über Belege, wonach der Iran der palästinensischen Gruppe PFLP-GC am 23. Dezember 1988, also zwei Tage nach dem Anschlag über Lockerbie, elf Millionen Dollar überwiesen haben soll – auf ein Bankkonto in Lausanne. Für die Schweiz hätte sich die Frage geradezu aufgedrängt: Existierte dieses Konto schon 1970?

Fürchtete sich die Schweiz vor Folgetaten?

Es fragt sich, warum die Schweizer Ermittler zwei Tage lang mit ihren schottischen Kollegen über mögliche Parallelen gebrütet haben und nichts über mögliche Hintermänner von Lockerbie erfahren haben sollen. In den Würenlingen-Akten gibt es jedenfalls keine Hinweise, dass dem Treffen weitere Abklärungen gefolgt wären. Im Gegenteil. Fünf Jahre nach dem Treffen schloss die Bundesanwaltschaft faktisch das Dossier zum Swissair-Absturz. Die Unterlagen wurden dem Bundesarchiv abgeliefert. Das Treffen mit den Schotten war die einzige nennenswerte Ermittlungshandlung, die die Bundesanwaltschaft zur Klärung des grössten Attentats in der Schweiz nach 1971 unternommen hat.

Diese Passivität der Bundespolizei erstaunt: Hat die Bundesanwaltschaft aus lauter Angst vor terroristischen Folgetaten die Ermittlungen einschlafen lassen? Zuvor hatten nämlich die Zürcher Polizisten dem Bund einen akribischen Untersuchungsbericht über die mutmasslichen Täter abgeliefert. Doch die Hinweise der Ermittler wurden nicht weiterverfolgt. Etwa die Schilderungen des Zürcher Radiojournalisten Gregor Henger, der wenige Tage nach dem Attentat in Jordaniens Hauptstadt Amman den Hauptverdächtigen Sufian Kaddoumi interviewen konnte. Eine Originalabschrift dieses Gesprächs lag der Polizei vor. Darin berichtete Kaddoumi freimütig von seinen Aktivitäten für das PFLP-GC in Deutschland, spricht über die Höhenmesser, streitet aber ab, eine Bombe an Bord der Swissair-Maschine gebracht zu haben.

Passive Ermittler, ahnungslose Angehörige

Der einstige Radiojournalist Henger erinnert sich auch heute noch an eine Episode, die bei ihm ein mulmiges Gefühl ausgelöst hatte: Er sei am Flughafen in Amman von einem Funktionär des PFLP-GC mit dem Auto abgeholt worden. Auf der Ablage über dem Handschuhfach sei demonstrativ ein Höhenmesser platziert gewesen – das gleiche Modell, das die Swissair-Maschine zum Absturz gebracht hatte.

Auch andere Hinweise blieben bei der Bundesanwaltschaft liegen. Etwa die Zimmerbuchungen beim Hotel Terminus in Frankfurt von 1969. Das deutsche Bundeskriminalamt lieferte den Schweizern Angaben, wann Kaddoumi dort logierte und wer zur gleichen Zeit dort war. Einmal teilte Kaddoumi das Zimmer mit einem Libyer namens Aschour, ein anderes Mal waren neben Kaddoumi gleichzeitig zwei andere Jordanier, ein Ägypter sowie ein Mann aus Kuwait im Hotel abgestiegen.

Nicht aufgefallen war den Schweizer Ermittlern, dass Kaddoumi als mutmasslicher Attentäter den Israelis bekannt war. Mehr noch: Er stand offenbar unter Beobachtung. Zwei Tage nach dem Attentat von Würenlingen präsentierte die israelische Botschaft den Ermittlern einen Informanten, der Auskunft über den Verbleib Kaddoumis geben könne. Die israelische Botschaft bot auch gleich Bildmaterial des gesuchten Terroristen an.

Sollte die Bombe am 21. Februar 1970 aber doch irrtümlich ins Swissair-Flugzeug gelangt sein, wie es offiziell immer hiess, drängt sich eine weitere Frage auf: Hatte Israel möglicherweise konkrete Hinweise, dass die Palästinenser für diesen Tag einen Anschlag planten? An diesem Samstag wurde der El-Al-Kurs London–München–Tel Aviv kurzfristig über Köln umgeleitet – angeblich wegen einer Reisegruppe, die dort zusteigen wollte. Üblicherweise transportierte dieser El-Al-Kurs auch die Post aus dem Raum München nach Israel. Wäre die Maschine also nicht umgeleitet worden, wäre Kaddoumis Bombenpaket im israelischen Flugzeug explodiert. Zur Umleitung findet sich in den Akten nur eine kurze Aussage des Geschäftsführers von El Al, ohne weitere Begründung und ohne Belege. Diese Angaben wurden nie überprüft.

Übersehene Hinweise, verpasste Abklärungen, passive Bundespolizei, ahnungslose Hinterbliebene – doch heute will die Bundesanwaltschaft nicht mehr über diesen Fall sprechen. Die offizielle Schweiz will nicht einmal den Angehörigen der Opfer erklären, weshalb die Täter des schwersten Terroranschlags der Schweiz nie gefasst wurden. Oder weshalb in den Akten keine Angaben darüber zu finden sind, dass die Schweiz 1970 erpresst wurde. Unwirsch teilt die Bundesanwaltschaft dem Beobachter mit: «Zu abgeschlossenen Verfahren gibt die Bundesanwaltschaft generell keine Auskunft.»