Den Bombenbauer ignorierten sie
Grösster Terroranschlag in der Schweiz: Die Bundesanwaltschaft merkte jahrzehntelang nicht, dass ein berüchtigter palästinensischer Bombenbauer seine Finger im Spiel hatte.
Veröffentlicht am 2. Juli 2012 - 16:48 Uhr
Der Swissair-Flug 330 von Zürich nach Tel Aviv endete am 21. Februar 1970 in einer Katastrophe. Das Flugzeug stürzte bei Würenlingen ab, alle 47 Menschen an Bord kamen ums Leben. Verantwortlich gemacht wurden vier Exponenten der palästinensischen Splittergruppe PFLP – General Command. Sie hatten in Deutschland ein Radio mit Höhenmesser und Sprengstoff präpariert und es an eine fiktive Adresse in Jerusalem abgeschickt. Vor Gericht verantworten mussten sich die Tatverdächtigen nie. Angeblich konnten sie aus juristischer Sicht nie genügend identifiziert werden.
Das ist die offizielle Leseart. Umfangreiche Recherchen des Beobachters zeigen nun: Die Schweizer Bundesanwaltschaft hat während Jahrzehnten Fakten und wichtige Hinweise übersehen. Sogar offensichtlich zusammenhängende internationale Ereignisse ignorierte sie.
So etwa den Bombenanschlag auf den Pan-Am-Jumbo Ende 1988 in Lockerbie mit 270 Toten. Fünf Monate nach dem Attentat reisten der schottische Chief Inspector James Gilchrist und zwei seiner Leute nach Bern, um ihre Ermittlungsergebnisse mit der Bundesanwaltschaft zu diskutieren. Am Treffen dabei war auch der Ermittlungsleiter der Zürcher Kantonspolizei vom Swissair-Absturz 1970.
Das Protokoll dieser «Fachgespräche» vom 24. und 25. Mai 1989 offenbart, wie untätig die Bundesbehörde zwischen 1970 und 1989 gewesen war. Auf dieses Aktenstück ist der Beobachter bereits bei den Recherchen zum 40. Jahrestag des Absturzes gestossen. Doch die Bundesanwaltschaft verweigerte damals die Einsicht. Angeblich sei das Dokument «von aktueller Staatsschutzrelevanz» und könne «die Beziehungen zu ausländischen Staaten gefährden» (siehe Artikel «Lockerbie-Anschlag: Geheimakte Würenlingen»). Erst nach einem juristischen Seilziehen gab das Justiz- und Polizeidepartement die Akte jetzt frei.
Aus diesem Dokument wird klar: Die Schotten gingen davon aus, dass ein als Bombenspezialist bekannter palästinensischer Extremist namens Marwan Abdel Razzak Khreesat wohl auch beim Bombenanschlag auf die Swissair eine Schlüsselrolle gespielt hatte. Der heute 67-jährige Jordanier war jahrelang Weggefährte des gewaltbereiten Palästinenserführers Achmed Jibril, eines Kontrahenten von Jassir Arafat. Er lebt heute angeblich in Jordaniens Hauptstadt Amman.
Ein erster Hinweis auf Khreesat war bereits in den Ermittlungen nach dem Swissair-Absturz aufgetaucht, nur erkannte ihn damals niemand. Ein Crew-Mitglied der nationalen jordanischen Fluggesellschaft, nur mit dem Vornamen «Marwan» bekannt, war ins Visier der Ermittler geraten. Im Februar 1970, wenige Tage vor dem Anschlag, traf dieser den Haupttatverdächtigen Sufian Kaddoumi, der später das Paket mit der Bombe zur Post gebracht haben soll. Aktenkundig ist dies, weil Kaddoumi seiner deutschen Freundin schrieb, er müsse in München seinen «Bruder» Marwan treffen. Dieser habe ihm einen Teekocher nach Deutschland mitgebracht. Die Ermittler gingen davon aus, dass der Kocher ein Codewort für Sprengstoff war.
Dass «Marwan» nicht identifiziert wurde, lässt sich nur mit einer banalen Fehlinterpretation erklären. Die Polizei kam nicht auf die Idee, dass mit dem Begriff «Bruder» ein Landsmann gemeint war. Im Ermittlungsbericht heisst die ominöse Person deshalb «Marwan Kaddoumi».
Die schottischen Ermittler klärten 1989 die Bundesbehörden zudem darüber auf, dass das Täter-Schema von Würenlingen neben Lockerbie zu einem dritten Attentat passte. Details, die hier schon Jahre zuvor hätten bekannt sein müssen: 1972 explodierte in einer El-Al-Maschine nach dem Abflug von Rom eine Bombe; die beschädigte Maschine konnte aber wieder landen. Der Sprengsatz war in einem Plattenspieler eingebaut und wurde Khreesat zugeordnet.
Weshalb der Anschlag von Rom – nur zwei Jahre nach Würenlingen – die Bundesanwaltschaft nicht aufgerüttelt hatte, ist nicht klar. Genauso wenig nachvollziehbar ist auch, weshalb das schottisch-schweizerische Treffen von 1989 keine weiteren Ermittlungen ausgelöst hat. Ende 1989 war Khreesats Vergangenheit im Detail allen bekannt, die es wissen wollten. Denn ein FBI-Team von Lockerbie befragte den Jordanier in Amman am 12. und 13. November ausführlich. Im umfangreichen Bericht ist nachzulesen, wie der palästinensische Bombenbauer über seine zahlreichen Sprengstoffanschläge spricht und beiläufig «eine Anzahl Höhenmesser» erwähnt, die er Anfang der 70er Jahre in verschiedenen Flugzeugen platziert habe.
Einen weiteren Vorfall ignorierten die Schweizer ebenfalls: Wochen vor dem Lockerbie-Anschlag gelang den Deutschen der wohl grösste Coup gegen palästinensische Terroristen. Der deutsche Verfassungsschutz schnappte am 26. Oktober 1988 16 Mitglieder der einschlägig bekannten Befreiungsfront PFLP – General Command. Darunter auch Khreesat.
Dabei stellten die Deutschen auch vier in Radio- und TV-Geräte eingebaute Sprengsätze sicher. Eine fünfte ebenfalls von Khreesat gebaute Bombe wurde nie gefunden. Bis heute sind mehrere ehemalige Ermittler überzeugt, dieser Sprengsatz sei im Jumbo über Lockerbie explodiert. Die deutschen Behörden liessen Khreesat nach 15 Tagen wieder frei, obschon er seit dem Anschlag in Rom international zur Fahndung ausgeschrieben war. Khreesat war inzwischen Doppelagent geworden, arbeitete für den jordanischen Geheimdienst und für den Bundesnachrichtendienst, wie verschiedene Einvernahmeprotokolle belegen.
Auch an ganz anderer Stelle blieb die Bundesanwaltschaft untätig. Der schillernde Lausanner Bankier, Anwalt und Alt-Nazi François Genoud unterstützte über Jahre hinweg ungehindert die gewaltbereiten Palästinenser. Akten im Archiv der «Jüdischen Nachrichten» zeigen: Der Geldbeschaffer der Palästinenser wurde zwar vom Nachrichtendienst observiert, doch die Bundesanwaltschaft liess ihn gewähren.
Genoud soll einen Monat nach dem Absturz von Würenlingen gar mit der Swissair darüber verhandelt haben, «wie das Unternehmen künftig vor derlei Anschlägen verschont bleiben könnte», schreibt der deutsche Journalist Willi Winkler im Buch «Der Schattenmann: Von Goebbels zu Carlos». Ephraim Lapid, Anfang der siebziger Jahre als Mossad-General in Deutschland stationiert, muss es wissen: «Ganz viele Fluggesellschaften» hätten die Terrororganisationen «bestochen, um damit Flugzeugentführungen zu verhindern», sagt er im ARD-Dokumentarfilm «München 1970, als der Terror zu uns kam».*
Weshalb die Hintermänner des Swissair-Anschlags nie vor Gericht kamen, ist nicht klar. Einer der damals wichtigsten Polizeiermittler gesteht heute konsterniert: «Die Israeli offerierten uns, die Attentäter zu ergreifen und an die Schweiz auszuliefern.» Dazu kam es aber nicht. «Bundesbern hatte Angst», sagt der langjährige Kriminalpolizist.
«Für mich ist der Fall nicht abgeschlossen, dieser Terrorakt gehört aufgeklärt», fordert René Spahr. Seine Tante Doris Rusca, 24, war Hostess an Bord der Swissair 330 nach Tel Aviv, als sich der Kopilot Armand Etienne um 13.33 Uhr verabschiedete: «330 is crashing, goodbye everybody.»