Ein Herz für Kühe und ihre Hörner
Neun von zehn Schweizer Kühen haben keine Hörner mehr. Der Bergbauer Armin Capaul will das ändern. Er hat praktisch im Alleingang eine Volksinitiative angezettelt.
aktualisiert am 7. März 2016 - 15:40 Uhr
Milenas Horn ist warm, fast so warm wie eine menschliche Hand. Ihr Horn lebt – anders als Fingernägel oder Haare ist es gut durchblutet und mit Nerven versorgt. Kuh Milena hat ein solch präzises Gefühl für ihr Horn, dass sie damit ihrer Nachbarin eine Fliege aus dem Auge holen kann, ohne sie zu verletzen.Dass Milena überhaupt Hörner trägt, hat sie Armin Capaul zu verdanken.
Armin Capaul gehört zu den wenigen Bauern, die ihre Kühe nicht enthornen. Der drahtige Mann mit dem Alpöhi-Bart und der farbigen Strickmütze hat eine Mission: Er will den Schweizer Kühen die Hörner zurückgeben. Praktisch im Alleingang hat der Kleinbauer deshalb eine Volksinitiative gestartet: Wer seinen Kühen die Hörner lässt, soll finanziell unterstützt werden – denn Hornkühe brauchen mehr Raum, und Raum ist teuer. Über 90'000 Unterschriften hat er schon beisammen. Weitere 30'000 braucht er bis zum 23. März 2016, damit es genug gültige werden.
Annähernd 90 Prozent der Milchkühe sind heute hornlos. Mit einem Brennstab werden den Kälbern die Hornanlagen ausgebrannt, meist im Alter von wenigen Wochen. Dass man die schmerzhafte Prozedur den Tieren zumutet, hat einen paradoxen Hintergrund: In den letzten Jahrzehnten wechselten die Bauern dem Tierschutz zuliebe zunehmend vom Anbindestall zum Laufstall – dadurch häuften sich die Verletzungen durch Hörner an Mensch und Tier. Also mussten die Hörner weg.
Capauls Schaltzentrale liegt in einem abgelegenen jurassischen Bergtal, «am Ende der Welt», sagt er. Hier brummt nachts sein alter Laptop, wenn er die Beute des Tages, stapelweise frische Unterschriften aus der ganzen Schweiz, in eine Excel-Tabelle einträgt und den Stand auf seiner Website aktualisiert. «Seit August läuft es grausam», sagt er. Nachdem er zu Beginn kaum zehn Unterschriften pro Tag zusammenkratzen konnte, erhält er heute täglich dicke Post: «Fanpost» von Anhängern der Initiative und stapelweise ausgefüllte Bögen.
Drei kleine Höfe liegen am Berg oberhalb von Perrefitte BE, abgeschottet von der Zivilisation. Die Deutschschweizer Familie Capaul hat sich hier einen Mikrokosmos geschaffen, die drei Kinder besuchten weit weg in Biel die Steiner-Schule. Capauls halten Distanz zu den welschen Einheimischen und den Bauern im Tal. «Es ist gut, sind wir hier für uns und versteckt, im Dorf hätten wir mehr Probleme», sagt Capaul. Die Initiative sorge unter den Bauern für viel Zündstoff. Er solle aufhören, einen Keil zwischen die Bauern zu treiben, höre er immer wieder. «Man kann halt mehr hornlose Kühe in einen engen Laufstall murksen», ärgert sich Capaul. Immer gehe es den Bauern um Geld und Effizienz. «Die denken nicht mehr an die Kühe.»
«Bei mir ist es wie bei Obelix, der in den Zaubertrank fiel und Superkräfte entwickelte.»
Armin Capaul, Bergbauer
Fast jeden Tag macht sich Capaul auf, um an irgendeinem Volksfest, Markt oder Festival Unterschriften für die Hornkühe zu sammeln. Auch an Weihnachten. «Ich musste weitermachen. Der Ochs im Krippli hatte ja auch Hörner.» Von morgens früh bis es dunkel wird, steht er da und spricht Leute an. Pause macht er nie, isst nicht, trinkt keinen Kaffee. «Für mich ist das Seelennahrung, wenn die Leute so positiv reagieren. Da brauchst du doch kein Essen mehr, oder?» Wenn er nachts nach Hause kommt, töggelt er noch bis weit nach Mitternacht die neuen Unterschriften ein.
«Bei mir ist es wie bei Obelix, der in den Zaubertrank fiel und Superkräfte entwickelte», sagt der kleine schmächtige Mann, der eher einen guten Asterix abgäbe. Sein Zaubertrank sei das Hippie-Feeling: «Ich bekomme das fast nicht mehr los, ich habe mir zu viel davon reingezogen.» Die Ideen und Hoffnungen der 68er Bewegung beflügeln ihn bis heute. Die anderen Hippies, mit denen er damals bei den Globus-Krawallen in Zürich auf der Strasse gewesen sei, hätten es später zu Chefredaktoren und Bankdirektoren gebracht. «Die haben jetzt den Stutz, ich habe ein gutes Gewissen.»
Fast hätte Capaul im Taumel des Hippie-Feelings seine Bauernlehre abgebrochen. Sein Lehrmeister brachte ihn dazu, wenigstens die Abschlussprüfung abzulegen. Zum Glück – «als diplomierter Landwirt wirst du ernst genommen».
Capaul wuchs erst bei den Grosseltern in Graubünden auf, weil seine Eltern ihren Bauernhof nicht mehr halten konnten und in Zürich Arbeit suchen mussten. Als er sechs Jahre alt war, holten ihn die Eltern zu sich. Mit 15 brach er die Schule ab und zog von zu Hause aus. «Ich hatte Lämpen mit den Eltern und wusste nicht, wozu ich dieses Schulzeugs lernen sollte.» Er habe sich ziemlich auffällig verhalten.
Jahrzehnte später hat er selbst begonnen, auf seinem Hof schwierige Jugendliche zu betreuen. «Ich mochte diese Giele, die hatten genau meinen Schlag.» Capaul grinst. Seine Frau und sein Sohn haben die Jugendlichen schulisch unterrichtet, er gab ihnen mit handfester Arbeit auf dem Hof Lebenskunde. «Die Kühe haben unsere Jugendlichen beruhigt», sagt Capaul.
Die Kuh sei ein genügsames und bedächtiges Tier. Auch Capaul spricht sanft und leise, murmelt manchmal in seinen Bart, aber stets mit einer Prise Coolness und Schalk in der Stimme. Diese Stimme will Capaul den Kühen verleihen – und seine Gedanken. «Ich arbeite mit dem Spirit», sagt Capaul und dreht sich eine Zigarette, schwarzbrauner Tabak, ohne Filter. Er versuche, den ganzen Tag immer an die Unterschriften zu denken. «Meine Gedanken strahlen aus, und irgendjemand wird sie empfangen und vielleicht unterschreiben.» Das habe er von den Indianern gelernt.
«Meine Kühe sind wie Schwestern für mich, auch da bin ich Indianer. Sie haben ein Recht auf ihre Ganzheit», sagt er. Dennoch bleibt die Kuh für ihn ein Nutztier, das Fleisch der Kälber landet auch auf seinem Teller. Kühe lieferten den perfekten Kreislauf: Sie fressen schwer verdauliches Gras und Heu, machen daraus Fleisch und Milch und düngen mit ihren Kuhfladen die Weide, die sie ernährt hat. «Das ist doch ein super Tier, oder?» Es tue ihm weh, dass es verstümmelt werde.
Kühe gelten als Distanztiere. Sie leben zwar in einer Herde, meiden aber Körperkontakt, vor allem am Kopf. Jedes Tier umgibt eine Art Blase, die sogenannte Individualdistanz, wie das Forschungsinstitut für biologischen Landbau in Frick schreibt. Kühe mit Hörnern haben demnach eine deutlich grössere «Blase» von bis zu drei Metern, hornlose hingegen weniger als einen Meter. Kühe mit Hörnern geniessen gegenüber hornlosen grösseren Respekt. Sogar Computerprogramme haben das verstanden: Die Autokorrektur von Word macht aus «Enthornen» stets «Entthronen».
Die Kühe imponieren und warnen mit der Kopfhaltung und den Hörnern, schreibt die Stiftung für das Tier im Recht. Wenn ein Tier den Individualabstand nicht respektiert, kommt es zur Flucht oder zum Kampf. Kuhhörner sind aber keine Waffen. Wenn zwei Rinder um den höheren Rang ringen, halten sie ihre Hörner aneinander, so dass sie nicht abgleiten können. Sie drücken die Stirn so lange gegeneinander, bis ein Tier aufgibt. Hornlose Kühe stossen und schlagen sich hingegen direkt auf Bauch und Flanke, was zu Prellungen und inneren Blutungen führen könne, so die Stiftung. Da die Auseinandersetzungen meist weniger klar ausgingen, komme es zudem öfter zu Rangkämpfen.
Wissenschaftliche Befunde zur sozialen Funktion der Hörner gibt es nicht. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) hat zwar eine entsprechende Studie in Auftrag gegeben, die Resultate erscheinen allerdings wohl erst nach Ablauf der Sammelfrist. Das BLV will die Folgen von Hornlosigkeit nicht zuletzt deshalb erforschen, weil immer mehr genetisch hornlose Milchkühe gezüchtet werden. Man wolle die Auswirkungen aufdecken, bevor diese die Hornkühe verdrängt haben.
Milena döst im Stall. Untätig ist sie indes nicht, sie ist mit Wiederkäuen beschäftigt. Ihre vier Mägen vollbringen eine Leistung, die kein chemisches Verfahren erreicht: mit so wenig Energie und so kostengünstig aus Zellulose Nahrung herzustellen. Anthroposophen und viele Biobauern gehen davon aus, dass die Hörner den Tieren beim Verdauen helfen. Tatsächlich gehören sämtliche Hornträger zur Familie der Wiederkäuer. «Wären Hörner sinnlos, hätte sie die Schöpfung nicht erschaffen», schreibt die Interessengemeinschaft Hornkuh.
Armin Capaul ist gar überzeugt, dass die Milch von Hornkühen bekömmlicher ist und weniger Allergien auslöst. Und dass die Hörner den Kühen bei der Orientierung und bei der Wärmeregulation helfen. Wissenschaftlich belegt ist auch das nicht. Ein Handicap für die Initiative? «Ich brauche diese Wissenschaft nicht», sagt Capaul unwirsch. «Mir reicht der gesunde Menschenverstand.»
Capaul ist ein Einzelkämpfer. Er hat die Initiative 2014 angezettelt und er managt sie, einzig unterstützt von der IG Hornkuh, einer losen Gruppierung. Geld hat er so gut wie keins bekommen, also setzt er sein Erspartes ein. Das nimmt ihm seine Frau bis heute übel, obwohl sie mittlerweile hinter dem Engagement ihres Mannes steht. «Jetzt spinnst du völlig!», habe die Familie zu Beginn gesagt. Er sei grössenwahnsinnig, könne doch nicht den Hof vernachlässigen. Seit die Unterschriften so zahlreich in den abgelegenen Hof flattern, ist auch sie begeistert.
Bald wird Capaul «pensioniert». Als über 65-Jähriger wird er keine Direktzahlungen vom Staat mehr erhalten. Was wird dann aus ihm, der Familie und dem Hof? «Mein Horizont reicht bis zum Ablauf der Sammelfrist, weiter plane ich nicht.» In seinem Organismus gären weitere politische Ideen. Verraten will er sie erst, wenn die Initiative zustande kommt. Nur so viel: «Ich habe nicht nur Hörner im Kopf.»
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